Das angenehme Schweigen der Linken

Geschlossener Mund, befreit vom Produktionszwang: Der französische Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Essayist Maurice Blanchot war eine der zentralen Figuren der postmarxistischen Theorie. Wir drucken aus Anlass seines Todes einen unveröffentlichten Text seiner Merve-Verlegerin Heidi Paris aus dem Jahre 1983

von HEIDI PARIS

Hierzulande ist das Interesse für Literatur neu erwacht. In Kontakt mit der Wirklichkeit, wo die bloß marxistische Auseinandersetzung mit der nackten Faktizität der Realität nicht mehr funktioniert, erwächst die Wahrnehmung für die Undurchdringlichkeit, die Dichte der Realtität, die Wahrnehmung für das Phantastische, das Fiktionale.

Dann, wenn die gesicherte Geordnetheit der Biographien erschüttert wird, wenn das Leben im subkulturellen Bereich ortlos, bruchhaft sich zur literarischen Wirklichkeit hin entwickelt, dann, wenn die politische Ratlosigkeit und theoretische Heimatlosigkeit die Leere und das Schweigen eröffnen, dann findet man mit seinem Interesse für Literatur in Blanchot einen schlichten Mitstreiter, der seine Lektüren produktiv beschreibt, und der darüber hinaus diese Leere als Raum der Literatur, als Fülle, als Licht betrachtet und nicht als Nichts, als Negatives oder gar als Abgrund. Er ist es, der unserem gelähmten Zustand eine positive Wende gibt, indem er von der „Faszination der Gedankenleere“, der „geistigen Abwesenheit“ spricht, von der „Literatur als bewegter Abwesenheit, … jener immerzu werdenden Leere, jener Ferne und jenem Abstand, die Medium und Prinzip der Metamorphosen sind“.

Von hieraus begreifen wir das Schweigen der Linken nicht als unangenehm zu verdrängende Tatsache, die mit lautstarker Produktivitätsmanier immer wieder nur die alten Bahnen beschreiten kann, sondern begreifen wir das Schweigen als „Ereignis, das sich Zeit lassen und Zeit finden“ muss, um die „unendliche Bewegung, die verwandelt und das selbstgewisse Ich entrückt“ vollziehen zu können. Von Blanchot lernen wir auch die Falschheit unseres vormaligen Sprechens zu erkennen: „Benennen ist die Gewalt, die das Benannte absondert, um es in der bequemen Form das Namens zu besitzen.“

Wir haben die Feinde denunziert, wir haben nur gesprochen, um zu urteilen, einzuschätzen, einzuordnen, den Feind zu fassen zu bekommen, zu begreifen im Sinne von zu besitzen. Besitzen, aber um was damit zu tun?

Blanchots Beziehung zum Lesen und zum Geschriebenen, seine Schreibbewegungen, der Weg der unablässigen Annäherung an etwas, dessen Ort nie fixiert wird, das Wanderleben, das Nomadenleben, das ist es, was wir mit ihm gemeinsam haben und was wir von ihm lernen können: Schreiben, nicht um zu fixieren, um zu urteilen, sondern als Annäherung in einer tiefen Beziehung, die wir selbst so selten fähig sind.

Geschlossener Mund, nicht verbissen, nicht zwanglos, trägt Nichtssagendes zur Schau. Ruhige Oberfläche, die nichts verbirgt. Genuss dieser Ruhe, befreit von Produktionszwang, fällt dieser Mund nicht in dumpfes Gemurmel. Betrachtet sich selbst ohne äußerliche Einschätzung, bleibt selbst erstaunt, fasziniert von diesem Schweigen des Körpers, der er selber ist, diesem Schweigen als organlosem Körper, befreit von der Einschreibung, den Meinungen und Urteilen, die doch immer nur das Außen als Vorwand für ihr vermutetes Hintergründiges nehmen. Außer sich hocken sie auf den stummen Lippen, die sie zum Sofa ihrer allzu schweren Hüllen benutzen. In Beziehung zu diesen geschlossenen Lippen treten sie ein in Beziehung zu sich, ihrere Produktionsfläche, Projektionsfläche.

Die geschlossenen Lippen dulden derlei Benutzung nicht. Ihre Auflehnung dagegen ist konsequente Reglosigkeit. Langsam verstummen nun auch wirksam die geschäftigen Interpretationsmaschinen, achten die klar strenge Ernsthaftigkeit dieses Schweigens der Lippen. Hier treten sie in den gemeinsamen hohlen Raum ruhiger Stimmung. Der Teppich des Schweigens strömt sanft im Licht des Schattens und richtet sich auf zu voller Größe, erhabener Größe, der Ehrfurcht gebietet.

Schweigend, angesichts schweigend geschlossener Lippen, ist das mindeste Zartgefühl, das diese erwarten. Natürlich erwarten sie es nicht von jedem, nur von denen, die sehr wohl solcher Gefühle fähig sind. Auch dort noch, erwarten sie es nicht wegen der potenziellen Möglichkeit, eher als immer wieder neu zu durchschreitende Erfahrung des Staunens, das Schweigen gebietet. Dort erst betreten sie den gemeinsamen Raum klarer Stille, deren Schärfe so betroffen macht angesichts dieses unablässigen Geraunes. Diese Klarheit, Entschiedenheit in der Haltung des Schweigenden, dieser geschlossenen Lippen, ist nicht Vorwand und nicht Hinterhalt, sondern die Entschiedenheit in klarer Trennschärfe zu aller Innerlichkeit und Moral, zu aller planerischen Technokratie und paranoischer Abgrenzung. Klarheit ohne Hintergrund, Transparenz ohne Trennlinie …

Die klare Nacht stiller Einkehr in die dunklen offenen Wölbungen weiter Horizonte. Heimkehr in den lange unbewohnten Körper der eigenen, transparent gewordenen Haut. Wiederkunft in die heiligen Hallen des lichten Ichs, das unvergleichlich, unverwechselbar beziehungslose Gleichheit ist.

An dieser Klarheit perlt Vergleichung ab, jedes In-Beziehung-Setzen erzeugt nur schallendes Gelächter, abgrundtiefes Gelächter, das uns den Schreckensschauder dieser maßlosen Gleichheit des Ichs spüren lässt. Hohes Glück, das den Abgrund aufreißt, in dem das dröhnende Echo seiner Anmaßung ertönt. Mit jeder unentschiedenen Interesselosigkeit wird im Echoschall jegliche Beziehung gebrochen. Aufgerichtet zu Maßlosigkeit, betritt die klare Nacht stiller Einkehr den Raum der Einsamkeit.

Mit dieser Einsamkeit nun tritt sie an die Öffentlichkeit, ungerührt von deren Aufnahme oder Wiedergabe. Das Schwert der Einsamkeit besticht durch schneidende Schärfe, schützt vor salbaderndem Gewürm, diesen Schleimscheißern und Weichlingen, diesem grundlosen Gewimmer trägen Breis.

Grausam bahnt sich der Erzengel Gabriel über Leichen seinen Weg. Einsam schweift sein stählerner Blick über die öde Wüste und trifft auf die schmerzend lichten Strahlen ferner Gestirne. Dieser Eintritt in die lichte Einsamkeit, verwandelt in die leichte Helle eines fröhlich mutigen Streiters.