Was hat Merve mit Szeemanns Junggesellenmaschinen zu tun?

Als Szeemann’s Junggesellenmaschinen-Katalog erschien, war für Merve gerade das Konzept der Wunschmaschinen von Deleuze/Guattari rele­vant. Merve interessierte sich für die Wunschökonomie im Gegensatz zu Psychiatrie und für Intensitäten im Gegensatz zu Intentionen, wie sie von Jean-François Lyotard (Intensitäten, Berlin 1978) beschrieben wer­den. Sowohl Lyotard als auch Deleuze/Guattari waren als Autoren ebenso bei Merve wie im Szeemann-Katalog vertreten. Das sind die fruchtbaren Begegnungen, die Merve mit dem hundersten Band seiner Reihe publizistisch zur Welt brachte: Museum der Obsessionen von/zu/über/mit Harald Szeemann (Merve-Band 100, Ber­lin 1981). Eine geistige Befruchtung hatte quasi stattgefunden, wie sie ja nicht gerade untypisch für Junggesellenmaschinen ist. Soviel zur Be­gegnung zwischen Merve und Szeemann.

Jean Baudrillard war ein Anhänger der Pataphysik, der Lehre von den imaginären Lösungen und schrieb an seinem Buch über Verführung, wie er ja ohnehin der Welt des Scheins verfallen war. Sogar in seinem Buch Die Illusion des Endes (Berlin 1994) sagt er: “Die Künstliche Intelligenz ist eine Junggesellenmaschine.”
Eine wichtige Bemerkung, insofern Junggesellenmaschinen Maschinen sind, die nicht funktionieren. Es sind Maschinen, die kein Produkt fertigstellen, sondern jedes Produkt wie­der in den Fertigungsprozeß einspeisen. Die Produkte kreisen in der Maschine, das ist alles.

Von weiblicher Seite hieß dieser Produktionsprozeß publizistisch bei Merve Die unendliche Zirkulation des Begehrens von Hélène Cixous (Ber­lin 1977). Die Askese des zölibatären Prinzips des Geistigen ist ja nicht ohne Lust. Da die Ästhetik durch die Erotik gefiltert ist, gibt es folg­lich eine weibliche und eine männliche Ästhetik. Paul Virilio, der Name sagt es, zeigt die männliche Variante in der Kopp­lung zwischen Sexualität und Technik: historisch als Ästhetik des maschinisierten Leibes dargestellt (u.a. in Fahren, fahren, fahren, Ber­lin 1978) und in der Folge heute als Ästhetik des entleibten Körpers (u.a.  Ästhetik des Verschwindens, Berlin 1986). Die Verlängerung dieses Konzepts der Junggesellenmaschinen findet sich in der Verbindung zwischen ars und techne, was Merve publizistisch durch die zwei ars electronica-Bände zum Ausdruck brachte: Philoso­phien der neuen Technologie (Berlin 1989) und Im Netz der Systeme (Berlin 1990).

Ein Kriterium der Junggesellenmaschinen ist die Verschmelzung der eigenen Existenz mit dem Werk. Etwas, das bei Foucault lautet: “Doch warum sollte nicht jeder einzelne aus seinem Leben ein Kunstwerk ma­chen können?” (Von der Freundschaft, Berlin 1985).
Diese Ethik als Ästhetik der Existenz findet sich auch bei der Verschmelzung von Wahn und Werk. Und es gibt ja nicht nur unter den Figuren der Junggesellenmaschinen herrliche Irre und Verrückte. Haben nicht so manche Künstler-Philosophen (Jean-Noël Vuarnet, Berlin 1986) Ähn­lichkeit mit den Figuren der Junggesellenmaschinen? Der Held, der Heilige, der Asket, der Magier, das Genie, der Besessene, der Manische, der Dekadente, der Einzelkämpfer, der Außenseiter? Das Archaische, das Anarchische, das Pathos, das Voyeuristische, das Pornographische, das Exibitionistische, Rausch, Verzückung, Ekstase?
Der Gegensatz zu “rational” ist weniger “irrational” als eher “Rausch”: ob erotisch, religiös, kol­lektiv oder drogenbedingt.

Der Produktionszyklus der Junggesellenmaschine funktioniert, indem er nicht funktioniert, ist gleichzusetzen mit dem Begriff der Wunschmaschinen, wie Deleuze/Guattari im Anti-Ödipus beschreiben. Auf ei­ner glatten Oberfläche breitet sich ein polymorph perverser organloser Körper aus und bildet maschinelle Verkettungen. Da aber die Junggesellenmaschine nicht aufhören kann zu rotieren, läuft sie weiter, bis sie kaputt geht oder sich selbst zerstört (wie Antonin Artaud oder Raymond Roussel, dem Foucault herrliche Texte widmete). Der Motor, der innere Antrieb der Junggesellenmaschine, ist die Selbstbezüglichkeit. Die Anschlüsse zwischen den Maschinen, die Maschinennetze sind polymorph pervers wie das Strukturmodell des Rhizoms (Deleuze/Guattari, Berlin 1977).

Und noch eins. Die Junggesellenmaschinen funktionieren niemals dia­lektisch oder hermeneutisch, sondern im strengen Sinne selbstinduktiv, nach der Methode des Differenzdenkens. Junggesellen sind Differenz­denker im strukturalen Zirkel. An dieser Stelle fände auch die Second Order Cybemetic von Heinz von Foerster ihren Ort, aber eine Überlei­tung dazu spare ich mir. Ich möchte vielmehr darauf hingewiesen ha­ben, daß Merve und die Junggesellenmaschinen von Szeemann vieles gemeinsam haben. Dazu gehört auch die Kunst des Handelns von de Certeau (Berlin 1988), die bei Merve in einer Reihe steht mit dem Postheroischen Management von Dirk Baecker (Berlin 1994) und der Figur des Helden (Baltasar Gracian, Merve-Band 200, Berlin 1996).

zusammen mit Peter Gente
In: Hans Ulrich Reck, Harald Szeemann (Hrsg.): Junggesellenmaschinen. Erweiterte Neuausgabe, Springer, Wien – New York 1999
Mit freundlicher Genehmigung von Hans Ulrich Reck