99 An jedem Tag eine neue Idee. Besitz durch freie Aktionen ersetzen. Nur sehr Subjektives kann letztlich auch objektiv erfaßt werden. Also, welchen Zug soll man nehmen? In welchem Bahnhof soll man zusteigen? Wie findet man eine Tätigkeit, die es einem erlaubt, seine eigene Musik zu spielen, anstatt … ? 98 Der untergetauchte Teil des Eisbergs ist keine vom aufgetauchten unterschiedene Masse, er ist aus Eis wie dieser. 97 Die Literatur und das Recht auf den Tod. 96 Wie dem auch sei, legt die Seiltänzerin Zeugnis davon ab, und wie man aus dem Selbstmordimpuls einen Beruf, mithin ein Leben machen kann. 95 die Apokalypse besteht keinesfalls in historischen Korrespondenzen von der Art Nero Hitler Antichrist. Und ebensowenig in einem überhistorischen Gefühl vom Ende der Welt und der Jahrtausende, mitsamt ihrer atomaren, ökonomischen, ökologischen und Science Fiction Panik. 94 Es gibt Frauen, von denen ich nicht reden möchte, von denen ich mich redend nicht entfernen möchte, über die ich redend nicht mit Wörtern herfallen möchte. Ich

fürchte den Sturz der Wörter auf die Stimmen dieser Frauen. 93 Frauenbilder 92 Falls Botschaft, dann vielleicht diese: Geh aus der Entfremdung in die Fremde. 91 Andere Kinder waren zu uns gekommen, diesem ähnlich, in manchen Zügen, in manchen Verhaltensweisen, sofern man glaubt, daß das Fehlen der Sprache Zwillinge macht aus diesen Kindern. Und wir haben Stellung bezogen, wir waren immer nur einige wenige, zerstreut über kleine Einheiten, hier in den Bergen, man muß ausharren bei Tag, bei Nacht, trotz des Unmöglichen, des Unerträglichen, in den Wogen, in den ausgeschwemmten Bergen der Hercynischen Kette. 90 Der Kapitalismus des Jet Sets und der Datenbanken, das Ganze ist eine gesellschaftliche Illusion, die in Wirklichkeit der Strategie des Kalten Krieges unterworfen ist. Lassen wir uns nicht täuschen, drop out, beat generation, Autofahrer, Gastarbeiter, Touristen, Olympiasieger, Reiseleiter etc.! Die militärisch-industriellen Demokratien haben es verstanden, aus allen sozialen Kategorien gleichermaßen unbekannte Soldaten der Ordnung der Geschwindigkeit zu machen, Geschwindigkeiten, deren Hierarchie vom Fußgänger bis zur Rakete, vom Metabolischen bis zum Technologischen der Staat jenen Tag im Voraus kontrolliert. 89 Was singt mir, der ich höre, in meinem Körper das Lied? Alles, was in mir widerhallt, mir Angst macht oder mein Begehren weckt. 88 Er, der Bürger, spricht nicht mehr, worüber man spricht, niemand hört ihn und er selber hört niemanden. Seine letzte Zuflucht ist zu erzählen, daß es nichts mehr zu erzählen gibt, daß niemand mehr da ist, der ihn hört und daß es keine Wirklichkeit mehr zu erfinden gibt. 87 Nehmen wir einen Ton. Er besitzt Höhe, Klang, Intensität, Dauer. Eine Musik besteht aus Tönen und aus Stille, Schweigen. Aber was enthält eine Stille? Nichts außer einer Dauer 86 Es sollte den Göttern gestattet sein, sich mit den Frauen der Sterblichen zu vereinen, den Menschen jedoch verboten, Göttinnen zu besitzen? 85 Darin liegt das Geheimnis der Sicherheit wie das Beefsteak in der Plastikfolie: Umgebt euch mit Särgen, um euer Sterben zu verhindern! Der Tod ist ein Skandal geworden. 84 Und in der Bejahung des Vielen findet sich das Vergnügen am Verschiedenen. Das Vergnügen als einziger Anlaß der Philosophie tritt in Erscheinung. 83 Wenn nun das Duell in einem Spiegelkabinett stattfände? Wenn nun aber der Andere der Gleiche wäre? 82 Weine nicht. Eines Tages wird es uns gelingen, uns zu sprechen. Und was wir sagen werden, wird noch schöner sein als unsere Tränen. Ganz flüssig. 81 Ist ein Bombenattentat in Italien die Tat von Linksextremisten oder eine Provokation der extremen Rechten? Ist es eine Inszenierung des Zentrums, um alle terroristischen Extremisten in Mißkredit zu bringen und  eine wacklige Macht herunterzumachen, oder handelt es sich vielleicht um ein Polizei-Szenario und die Erpressung zur öffentlichen Sicherheit? 80 Wir sind wie Autos, wir trinken wie Autos, laufen schnell wie Autos, haben keine Zeit mehr, ‘Guten Tag’ zu sagen oder ‘Auf Wiedersehen’. Wir sind wie das Kaninchen von Alice: schnell, schnell, schnell. Wir kommen immer zu spät, auch wenn wir zu früh kommen. 79 Eine Woge von Graffiti rollt über New York hinweg, die von den Wänden und Zäunen der Ghettos herkommend sich zuletzt auch der U-Bahnen und Busse, der Lastwagen und Aufzüge, der Flure und Monumente bemächtigt hat, um diese über und über mit rudimentären und verdrehten Graphismen zu bedecken, deren Inhalt weder politisch noch pornographisch ist; es sind bloß Namen: Duke, Spirit, Supercool, KoolKiller, Ace, Vipere, Spider, Eddie, Kola … 78 Jugend-Gangs, trampende Schüler, Kellner, die Devisen schieben und von Amerika träumen, Leute, die mit Möbeln Schwarzhandel reiben, das Schweigen und der schwarze Humor der Leute: All das dokumentiert die außergewöhnliche Fähigkeit der Menschen, einem Normalisierungs- und Uniformierungsdruck zu widerstehen. Underground im Ostblock. Eine Lektion Optimismus. 77 Müßten die eigentlichen Fragen nicht lauten: Welche Wissensarten wollt ihr disqualifizieren? Welche sprechenden oder diskursführenden Subjekte, welche Erfahrungs- und Wissensgegenstände wollt ihr also “minorisieren”, wenn ihr fragt: Ist es eine Wissenschaft? Genealogie wäre im Gegensatz dazu eine Aktivierung der lokalen, der minderen Wissensarten gegen die wissenschaftliche Hierarchisierung des Wissens und der dieser innewohnenden Machtwirkungen: genau das ist das Absicht der ungeordneten und fragmentarischen Genealogie. 76 Die Politik findet nicht in der Politik statt. 75 Das sind die Menschen der Steigerung, die Menschen von heute: Außenseiter, experimentierende Maler, Popkünstler, Hippies, Parasiten, Verrückte, Eingesperrte. Eine Stunde ihres Lebens enthält mehr an Intensität (und weniger an Intention) als tausend Worte eines Berufsphilosophen. 74 Die Krise der Normalität. 73 Spielregeln der Macht umkehren: sich unkenntlich machen, Gelächter anstimmen, mit der linken Hand planen, Knoten zum Platzen bringen statt sie weiterzuknüpfen, bahnbrechen, Zukunftsmusik hören … 72 Einen gegenteiligen Traum träumen, ein minderes Werden schaffen können, den Morgen erwarten wie ein Maulwurf, einen Fluchtpunkt suchen, nicht in Metaphern denken, sondern in Metamorphosen, ausbrechen wollen, wenn auch aus der eigenen Fußsohle, Fremder sein in der eigeneren Sprache, Zigeuner sein im Kreditsystem, das alle Wörter verpfändet; das erste Merkmal dieser niederen Sprache ist ein starker Koeffizient der Deterritorialisierung. 71 Also wird man die Frau als Ort des Geheimnisses angeben, man wird sie als Abwesenheit angeben, sie ist immer diejenige, die nicht genau da ist … man weiß nicht genau wo. 70 Alles, was irgendetwas zerschlägt, alles, was mit der etablierten Ordnung bricht, hat etwas mit der Homosexualität zu tun oder mit einem Tier-Werden oder oder mit einem Frau-Werden. Jede Semiotisierung im Umbruch impliziert eine Sexualisierung im Umbruch. 69 Die minoritären Bejahungen geschehen unaufhörlich, selbst dann, wenn sie kaum oder nicht wahrnehmbar sind. Sie sind raffinierter und zart, lange bevor sie sich öffentlich äußern oder in Szene setzen. 68 Er bewegt sich nicht in der gelehrten Geometrie des wohlzentrierten Labyrinths, sondern treibt einen abschüssigen Steilhang entlang. Er geht nicht der Stätte seiner Erprobung entgegen, wo der Sieg ihm Rückkehr verspricht, sondern fröhlich nähert er sich dem Monster ohne Identität, dem Ungeheuer, das keiner Art angehört, das Mensch und Tier in einem ist … 67 Rhizomatik, Schizoanalyse = Stratoanalyse – Pragmatik – Mikropolitik – Nomadologie – PopAnalyse. 66 Man muß die Frage stellen, ob das Weibliche nicht zum großen Teil in jenem Unbewußten gefangen ist. Oder: Bevor man der Frau ein anderes Unbewußtes geben will, müßte man wissen, ob die Frau ein Unbewußtes hat, oder ob sie, zu einem gewissen Teil, das Unbewußte ist. 65 Weibliche Produktivkraft ist eben nicht an bestimmte Orte oder Sachen, sondern an Menschen gebunden. Wo sie dazu gezwungen wird oder sich selbst zwingt (als Hausfrau, als Spezialistin welcher Art auch immer), geht ihr das, was ich das Weibliche nenne, verloren. Frauen sind nicht treu. 64 Zum ersten Mal in seiner Geschichte war das Kapital einem Angriff von solchem Ausmaß ausgesetzt, daß die ökonomischen Gesetze von Entwicklung und Krise besiegt wurden. 63 Kreativität von Frauen? Wenn von Schöpfung die Rede ist, ist auch die Rede von Subversion. Von Schreiben. Von Vergessen. Von Liebe. 62 Wie soll ich auf deine Rückkehr warten, wenn du nicht auch entfernt nahe sein kannst? 61 Welchen Kämpfen können ihre Arbeiten dienen?? – Mein Diskurs ist selbstverständlich der eines Intellektuellen und funktioniert als solcher in den bestehenden Machtnetzen. Aber ein Buch dient Zwecken, die der, der es geschrieben hat, nicht festgelegt hat. Je mehr neue, unvorhergesehene Verwendungen möglich und wirklich sein werden, umso zufriedener werde ich sein. 60 Man kann die Tatsache kaum stark genug unterstreichen, daß man, wenn man die Theorie vernachlässigt, am Ende das Konkrete gar nicht mehr bemerken kann. 59 Die Widersprüche des Kapitalismus sind für ihn geradezu eine Art Motor, wo nicht gar eine Art Nahrung; und schon seit langem haben alle die Idee aufgegeben, daß der Kapitalismus an seinen Widersprüchen sterben würde; im Gegenteil: Er lebt von seinen Widersprüchen, diese sind sein Geschäft. Wir betonen also in einer Gesellschaftsform wie der kapitalistischen nicht die Existenz von gesellschaftlichen Widersprüchen. Und die Fluchtlinien sind durchaus nicht dasselbe wie die Widersprüche, sondern die Fluchtlinien, die durch ein System gehen. 58 Da er Ärzten, Analytikern oder Analysierten die Theorie des Unbewußten zu vermitteln hat, gibt Lacan ihnen mit der Rhetorik seines Sprechens das abbildliche Äquivalent der Sprache des Unbewußten, die, wie jedermann weiß, in ihrem tiefsten Wesen Witz ist, Wortspiel … 57 Unsere Lehrer müßten so etwas sein wie die Koordinatoren unserer Gedanken und unserer Erfahrungen. Es macht nichts, wenn sie über bestimmte Dinge weniger wissen als wir und sogar noch von uns lernen können. 56 Nach meiner Rettung durch die Stürme des Mai lernte ich das, was ich gelaubt hatte zu wissen (Professor für theoretische und Hochenergie-Physik an der Universität Paris). 55 Die vaginale Lust ist für die Frau nicht die umfassendste und vollkommenste Lust, sondern die offizielle Lust der patriarchalischen Sexualkultur. 54 Spuren des Diskurses von oben oder Echos der Stimmen von unten. 53 Die grundlegende Tugend dieser Lebensweise ist die Zivilcourage. 51 Wohnungsproblem: Kampf gegen den Privateigentümer. 50 Und auch hier handelt es sich nicht darum, die Probleme zu “psychiatriesieren”, …

Beitrag zu For Sale? A Presentation of New Design on the Border, No. 8
H. Müller wechselhafte Aussichten Teilnehmer

WOLFGANG KOS
RASTPLATZ DER RASENDEN BLICKE

EINE RÜCKSCHAU AUF DAS PROJEKT RASTLOS
UND AN EIN DESIGNERTREFFEN HART AN DER GRENZE UND KNAPP VOR DEM ABHEBEN

1.
Ein Schlüsselwort der Ideen‑Distribution in den Jahren um 1980 lautet “independent”. Das war eine zeitgemäße Variation der archaischen Institution “Hörensagen”, ein hochspezialisierter Diskurs, der an den Bastionen der Mainstream‑Institutionen vorbeiläuft und manchmal auch unter sie hindurch. Die Vernetzungsstruktur des stolzen “Unabhängig-Seins”, die mit sehr fragilen Verstrebungen auskommen konnte, hatte sich international in der neuen Musik, durch den Funk losgetreten, erstmals durchgesetzt. Von da weg trug das Netz auch subtilere Innovationen wie New Wave, lndustrial Music oder Neue Deutsche Welle, Klänge also, die viele Subzentren hatten, aber keine alles überstrahlende Mitte. Es wurden nicht nur die aktuellsten Platten von Mini‑Labels hergestellt (in Kleinserien quasi), es gab erstmals auch ein

adäquates Vertriebsnetz, bei dem die Zwischenhändler zugleich auch Fans waren. In Kleinstgeschäften, die den neuen Nomaden als Oasen und Marktplätze dienten, konnte man obskure Neuigkeiten aus Neuseeland ebenso kriegen wie Verschollenes von Pere Ubu oder die Radierer aus Limburg. Viele dieser kleinen und angeräumten Laden, ob Rough Trade in London oder Der Zensor in Berlin, ob New Rose in Paris oder Pure Freude/Ata Tak in Düsseldorf, wurden schnell auch zu eigenen produktiven Cockpits und oft sogar zu Stützpunkten potenter Gegenimperien. Liebevoll gekritzelte Fanzines, die schnell auch Anlaufstelle für neue Grafiker, Fotografen und Designer wurden, verstärkten die autarken Kraftfelder. Wichtig war, daß sich alle Beteiligten (am Anfang zumindest) nicht als sektiererische Außenseiter sahen, sondern als Vortrupp zeitgemäßer Intensität, als Voraus-Checker und als Kolonisatoren neuer Haltungen.

Auch die Distribution der neuen französischen Philosophie lief, zumindest im deutschen Sprachraum, in ähnlich komplementären Systemen: die ersten Schlüsseltexte tauchten in porösen Kleinst‑Verlagen auf, von denen nicht wenige ‑ wie Merve ‑ durch ihr konsequent trotziges Schwachsein zu starken Faktoren wurden. In anderen kulturellen Bereichen dagegen lief die Innovation weiterhin auf den Schultern vorhandener und oft träger Institutionen. Die neuen No‑Budget‑Filme brauchten weiterhin die Filmfestivals von Berlin bis Solothurn, um die Augen der Öffentlichkeit zu finden (wenn es auch hier, man denke an Padeluun‘s Tournee mit Super‑8‑Filmen, Wege durch die Ritzen gab). Die neue Literatur lebte nach wie vor von staatlichen Förderstipendien und subventionierten Lese‑Tourneen. Für die Architektur blieben, trotz gelegentlicher Ausnahmen wie Vorarlberger Holzarchitekten und Selbsthilfeideen in der deutschen Hausbesetzer‑Szene, die staatlichen Akademien und die etablierten Fachzeitschriften tragende Säulen aller Avantgarden. Und auch in der Bildenden Kunst waren, trotz neuer Unmittelbarkeits‑Parolen wie “Gefühl & Härte”, trotz sagenumwobener “Wildheit” der fetzigen jungen Maler, die Produkte von Trans-Avantgarde und Neo‑Expression schnell in Händen eines Old Boy‑Networks in Kunsthandel und Museumsbetrieb. Die Satelliten waren neu, die Macht‑Sonnensysteme blieben intakt.

Es spricht für die Brisanz des Zwischenfeldes “Design”, daß hier die Dissidenz der frühen achtziger Jahre (zumindest nördlich der Alpen) an den vorhandenen Systemen vorbeilief und ein “independent”‑Netz ‑ mit Shops wie Lux Neonlicht in Hamburg oder Raumpunkt in West-Berlin ‑ nach Art der New Wave‑Musikdistribution entstand, in dem neue Designer‑Namen wie neue Popbands auftauchten. Kurzfristig zumindest gab es diese quirlige Situation, bis dann der Moloch Museum, dieser Kultur‑Großabsauger der achtziger Jahre, all die spitzen, grellen, schiefen neuen Formen an sich drückte ‑ verschwistert mit dem anderen Moloch dieser Jahre, dem stilgeilen Prestigedenken des flotten Yuppie‑Reichtums. Diese plötzliche Wendigkeit von Designern um 1980 mag damit zusammenhängen, daß der Plattenoutput von DAF und die Covergestaltung von This Heat für sie um vieles spannender war als die Berufungspolitik an der Gestaltungshochschule Ulm ‑ und damit, daß in der traditionellen “guten” Formgebung, wo alles eingebettet schien in den glatten High-Quality-Professionalismus einer Gestaltungsindustrie, radikal persönliche Gestaltung so wenig gefragt schien. Hier gab es also emotional unbesetzte Räume und sogar Verbündete der neuen Beweglichkeit im Inneren der Festung: Mendini und Sottsass im fernen Paradies Italien etwa oder den Hausrucker‑Freigeist Laurids Ortner an der Hochschule in Linz.

Andererseits war, ganz weit weg von den Sphären Macht, Geld und Snobiety, ein ganz neues Verhältnis Wert der Dinge entstanden. Stadtindiander und Sponti, Punks und linksakademische Archäologen hatten in den späten siebziger Jahren erkannt, daß der stumpfen Dummheit der Total‑Systeme die Aufladung von Details entgegenzusetzen war. Das Outfit der Punks, von den Medien als Inbegriff der achtosen Schundigkeit beschrieben, war in Wirklichkeit ein Zelebrieren feinster Nuancen und Signalwirkungen. Die Innenräume der besetzten Häuser, von den Medien als chaotisch beschrieben, waren in Wirklichkeit Fluchtburgen einer neuen Heimatlichkeit. Der formalen Schematik des Üblichen wurde die individuelle Abweichung entgegengesetzt, der visuelle Umweg, die raffinierte Irritation.

Diese nomadische Zwischenzeit im wild wuchernden Off‑Off‑Design hatte an der Kreuzung zweier Bundesstraßen im äußersten Osten Österreichs, an der Peripherie des nächsten Dorfes, an der Peripherie Westeuropas, im September 1982 drei Tage lang einen Mittelpunkt, einen brennenden Herd.

Deshalb ist es so wichtig, an das Meeting “DESIGN ON THE BORDER” zu erinnern, das von zwei flinken italienischen Fast‑Insidern ‑ Bepi Maggiori und Marco Zanuso jr. ‑ und zwei rastlosen österreichischen Fast‑Outsidern ‑ Gregor Eichinger und Christian Knechtl ‑ organisiert worden war. Im Einladungsbrief war von den “verschiedenen Wegen” die Rede, auf denen Design damals unterwegs war:

“Some of us work as architects and designers, alone or in a team, in a factory, in other disciplines and some of us are following an alternative along the lines of making and distribution our own products.”

2.
Im Wiener Office von Eichinger oder Knechtl, wie sich die Rastlos‑Helden von 1982 heute nennen, findet man in Schachteln (auf einer steht “Aktion Napoli Casali”) noch Spuren des Events, zu dem immerhin rund 50 Designerteams und Einzelköpfe aus Nord, West und vor allein Süd (die meisten Autokennzeichen waren italienische) ins burgenländische Musikcofé Rastlos anrollten, nach Art einer Sternfahrt. Die Transportkosten waren natürlich von den Teilnehmern zu tragen, die Ausstellung im Oberstock des rasant renovierten Auto-Rasthauses funktionierte, freier Platz, auf den jeder Teilnehmer seine Ideen und Objekte stellen konnte. Es war ein Art von Selbsthilfe‑Messe, ein Parkplatz für ausgefahrene Antennen. Vom Memory Hotel Studio aus Florenz findet sich noch eine kurze Karte vom August 82: man komme mit einem Camper Freitag früh direkt aus Bologna noch Müllendorf, “no problem”. Vorher würde man noch die marmorierte Kredenz “Come” mit ihrem zerrissenen Kristallspiegel und die anderen Utensilien bei “Cameradesign” vorbeibringen, der Sonderschau für junges Design am Rande der Mailänder Möbelmesse.

Viele der “participanti” aus Italien waren bereits angehende Profis im Design‑Schausteller-Gewerbe: sie konnten Möbel (oder zumindest Abbildungen von Möbeln) mitbringen, die bereits in den Hochglanz‑Designzeitschriften ihres Landes veröffentlicht worden waren, die schon in Serienfertigung in den Markt liefen und sogar marktmechanisch geregelte Preise hatten. Die jungen Italiener führten die Zukunft einer florierenden Branche vor.
Auch dem mit Indianermuster bemalten Tennisschläger “Aztek” der Gruppe Altro design aus Mailand und den coolen Lampen eines Stefano Giovannoni aus La Spezia merkte man Erfahrung mit dem Geschäft der wechselnden Moden an.

Bellefast aus Berlin, Jasper Morrison aus London oder Werner Degenfeld aus Wien schleppten dagegen störrische Unikate aus einer anderen, persönlicheren Welt an, in der für Fragen der kommerziellen Tragfähigkeit bislang nicht viele Energien verbraucht worden waren, es sei denn solche des schroffen Provozierens. “Mendini und Memphis sind doch verspielte Kinkerlitzchen”, schnodderte Gerda Grünspalt vom Berliner Antidesign‑Laden Raumpunkt in Müllendorf ins Radiomikrophon, “immer noch ein Kringel und ein Fähnchen und zum Schluß noch ein Witzchen obendrauf. Ich glaube, daß die jungen Designer, die einander hier treffen, sich davon abwenden und wieder Sachen machen, die ursprünglicher sind. Der Markt ist doch übersättigt mit den ganzen bunten Sachen.” Die Gruppe Bellefast sagte dasselbe mit einem Sinnspruch: Brandolini, Stanitzek und Moormann verteilten im Rastlos kleine Schokolode‑Täfelchen, die zwar gräßlich schmeckten, auf denen man aber Botschaften wie “Wer immer nur aufs Geld sieht, erblindet für das Schöne” lesen konnte.

Die Möbel, die Bellefast mitbrachten, standen in ihrer Schärfe und pointierten Gesäßfeindlichkeit dem gröhlenden Witz um nichts nach: da war etwa der elegant‑plumpe “Thron”, der für einen Benützer zu groß und für zwei Benützer zu klein war und dessen Kopfrolle, die die Rückenlehne ersetzte, an die Gemütlichkeit einer Zahnarzt Session denken ließ. Auch der kleine Aktenschrank “Insekt”, ein bizarres, aber recht pragmatisches Möbelstück auf Roboter‑Beinen, wurde erstmals vorgezeigt.

“Der Designer”, sagte Bellefast‑Tüftler Stanitzek, “hat vor allem zwei Aufgaben: einmal, die Formenwelt bloßzustellen, die gedankenlos um uns herum ist, und auf der anderen Seite, Dinge anzubieten, die ein gemütliches Zuhause wieder möglich machen.”

Die Strategie des Bloßstellens: das hieß etwa, Sitzmöbel zu präsentieren, von denen man zuerst einmal denkt, daß es weh tun wird, auf ihnen zu sitzen, und die “man dann vielleicht trotzdem benützen kann”. Diese Konfrontation hinter sich bringen, das hieß, einen Denkprozeß ins Rollen kommen lassen: Möbel also als kleine, ironische Essays über den Umgang mit alltäglichen Dingen. Die Linzerin Gudrun Koidl von der Projektgruppe Wohnfreiheit, die beim Meeting nur mit einem Dia‑Vortrag präsent war, hatte zur Nervenberuhigung etwa eine Liege mit Hunderten bunten Topfschrubbern als Textilauflage gebaut und dem Billigpreis‑Modell den Titel “Wer die Sehnsucht kennt” gegeben.

Diese Sperrmüll‑Mentalität war nicht nur schriller Protest gegen den erstarrten Design-Purismus und den “guten Geschmack” mit seinen formalen Rundungen, sondern eben auch schon subversive Attacke gegen die neue Konvention des gehobenen Anti‑Designs, wie sie der Zeitgeist aus Italien herüberwehte. Das Wörtchen “schon” ist in diesem Zusammenhang wichtig, zeigt es doch, wie parallel die Entwicklungen liefen, die im Herbst 1982 für ein paar Sekunden nur im gleichen Boot zu sitzen schienen. Immerhin war 1982 jenes Jahr, das der Memphis‑Kollektion mit ihren hemmungslos antifunktionalen Etüden (dicke Beine tragen dünne Platten usw.) erst den internationalen Durchbruch brachte. Zugleich war aber bereits die klinische Eisesglätte von Sottsass & Co. zu spüren, mußte also in einem noch radikaleren Design aufgerauht und zugespitzt werden.

Auch noch vorne war der Zeithorizont eng: einige der Objekte, die im September 1982 noch als ungläubig bestaunte und unbenennbare Ufos im Oberstock des Rastlos standen, waren wenige Wochen später bereits in Farbbildern im “Spiegel” und im “Zeit‑Magazin” zu sehen, anläßlich der ersten Museums‑Zwischenbilanz der neuen Designtendenzen im Hamburger Kunstgewerbemuseum. Einige der Vorbereitungsfäden dieser Schau (“Möbel Perdu”) liefen über das Meeting im Burgenland, war doch deren Mit‑Initiatorin Claudia Schneider‑Esleben mit von der Pfadfinder‑Partie “on the border”. Ihre Aviso‑Karte ist im Gerümpel noch zu finden: “Wir kommen zu zweit, habt Ihr auch ein Bett für uns?” Niemand wußte ja so recht, auf welchen Niemands‑Ort man sich da einließ: Hauptsache, man war weit genug weg von der Banalität des Falschen.

Schneider‑Esleben rückte mit Werkproben ihrer Lux Neongalerie an: Neonstäbe für Lofts, Kronleuchter in Neon, Neongraffiti auf Lackfolie, Plexitisch mit 3 Neonringen ‑ Neon war ja, wie rauher Beton und scharfes Blech, eines jener Materialien, die gegen Kerzenlicht, Holz und kuschelweiche Stoffe in der Subkultur erst durchgesetzt hatten werden müssen. Neon nicht mehr als “kalt” zu empfinden: das war ein Triumph des radikalen Um-Interpretierens von falscher Echtheit in ehrliche Simulation.

Es ist erstaunlich, wie bald in den Publikumsmedien die neuen Adjektive und Reizwörter in die Texte flossen: “Dies sind die idealen Möbel für Stadtneurotiker: schrill, schräg, vulgär und elegant, ironisch und kokett, dekadent, dekorativ und banal bis zum Exzeß” (ZeitMagazin Nr. 2/1983). Die Message vom skrupellosen Kombinieren von Materialien und vom Herausreißen der Dinge aus den angestammten Sinnzusammenhängen war von den Feuilletons schnell als aufheiterndes Element erkannt worden: Gummi meets Lochblech, Heizungsverkleidungen als Lampenschirme, Fahrradlenker als Tischbeine.

Tischplatten auf Fahrradlenker hat der junge Londoner Jasper Morrison geschraubt, dessen verblüffend simple und dennoch elegante Kreation der heimliche Hit im Rastlos war: die Verblüffung war umso größer, als sich herausstellte, daß dieser schüchterne Punk‑Typ keinen kurzen Gag zusammengebaut hatte, sondern nach guter alter Konstruktivismus-Manier mit zäher Geduld nach einer kostengünstigen Ideallösung gesucht hatte. Morrison erzählte, daß er darangehe, seinen Tisch, der ja nur aus zwei Fahrradlenkern, einem Holzpfosten und einer Glasplatte bestand, auch in Serie herstellen zu lassen. Morrison, dessen spätere Arbeiten wie das Reuter‑Nachrichtenbüro auf der “documenta” von 1987 ähnlich spartanisch in den Mitteln und reduziert in den Formen blieben, hatte seinen Bastel-Kollegen vorgeführt, daß man mit einer präzisen Idee sogar Profit machen konnte, wenn man es nur schlau anstellte. Gute Designer, so der Konsens bei “DESIGN ON THE BORDER”, sind schlaue Designer.

Bei den Katastrophen‑Objekten eines anderen Engländers war es schon viel weniger klar, ob man es nicht mit einem Design‑Cartoon, also einem Gag, zu tun hatte: Lee Curtis installierte eine Deckenlampe, die als Lampenschirm ein Stück herausgebrochener Decke hatte. Auch ein Spiegel entpuppte sich als Loch in der Wand, mit dekorativ quellendem Mörtel. Möbel mit Ruinen‑Aura, mit Bestellnummer zu sehen beim Raumpunkt‑Stand, der sich als “Little Shop Of Horrors” entpuppte.

Lee Curtis betätigte sich als Werbetexter der neuen Welle: “Es gibt keinen Dschungel von Bildern und Symbolen”, sagte er immer wieder, “es zeigt sich hier und heute eine definitive neue Form.”

Was war es? Ein asketischer Ornamentalismus? Rituelle Objekt‑Zauberei? Ein schroffes Zurückweisen definierter Schönheit? Oder eine neue, Augen und Hintern peinigende Form von Kitsch? Eine Probebohrung in den hedonistischen Boutiquen‑Markt?

Wohl alles irgendwie und ein bißchen auch dieses und jenes: das gestalterische Pfadfinder-Treffen im Rastlos fand zu einem Zeitpunkt unwiederholbarer Durchlässigkeit für unterschiedlichste Design‑Haltungen statt. Die unterschiedlichsten Vorgeschichten flossen hier kurzfristig zusammen. Ein Jahr später wäre der bunte Haufen wohl bereits wieder nach Schubladen geordnet worden: Kunst, Antidesign, Design, Gag‑Boutique ‑ jeder in seine Nische!

Ein Symbol für die Vernetzung von Unvergleichbarem war der Stand des Berliner Merve-Verlags: unter dem Namen Heidi und Peter waren die Herausgeber der kleinen, schäbig-schönen Reihe mit ihren Bänden 50 bis 100 auf irgendeinem Umweg zum Designer‑Treffen gekommen. Und da lagen sie nun auf dem Fußboden, all die kleinen Theorie-Batterien, mit ihren bunten Parallelogrammen als minimalistischer Struktur. “Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind” (Lyotard). “Besitz durch freie Aktionen ersetzen” (Szeemann). “Nicht versuchen, irgendetwas Gesagtes zu verstehen” (Cage). “In der Bejahung des Vielen findet sich das Vergnügen am Verschiedenen” (Deleuze). “Das Patchwork der Minderheiten” (Lyotard). “Rette sich, wer kann” (Godard). “Agonie des Realen” (Baudrillard).

Im Fall Merve hatte “DESIGN ON THE BORDER” nachweisbare Konsequenzen: Heidi und Peter machten ihr Berliner Büro zu einer Anlaufstätte für das neue Design, veranstalteten die Schau “Kaufhaus des Ostens” und brachten, als Merve‑Band Nr. 135, schließlich Christian Borngräbers “Berliner Design‑Handbuch” heraus.
Borngräber verweist da auf den “gesamtkulturellen Anspruch der Design‑Avantgarden” (im Gegensatz zur arbeitsteiligen Solidität etwa des Industrie‑Design) und erinnert, daß in vielen Fällen “das Entwerfen von Design‑Objekten als Beitrag zum Gesamtwerk der Lebensgestaltung” begriffen wurde.

Mit diesem “gesamtkulturellen Anspruch”, der tief in Fragen von Ethik und Lebenspraxis hineinreichte, hängt es wohl zusammen, daß just die Gastgeber, das Rastlos‑Team um Eichinger und Knechtl, keine Designer‑Stücke in der Ausstellung präsentieren konnten, obwohl das Rastlos Startplatz 1 in der Ideen‑Schau und im folgenden Katalog (der ja die eigentliche Nervenbahn der internationalen Vernetzung werden sollte) hatte: ihr Beitrag zum grenzüberschreitenden neuen Design war nicht mehr und nicht weniger als der durch kluge und schnelle Interventionen belebte Ort des Geschehens, das alte Rasthaus an der Kreuzung zweier Bundesstraßen, an der Peripherie des nächsten Dorfes, an der Peripherie Westeuropas, an der Peripherie des Architektur‑Studiums, an der Peripherie der gesicherten Formgebung, an der Peripherie all jener Bilder, die seit den Filmen von Wim Wenders für die Energie der Weite und für die Poesie des In‑Between standen.

3.
Im April 1982, knapp vor Eröffnung des Musik‑ und Kunstcafés Rastlos, erschien im “Kurier” folgende Meldung: “Kreuzung der B 16 mit der B 59 und der Landesstraße 1002 bei Müllendorf: 13 Verletzte bei 20 Unfällen. Ursache: ungenügender Kurvenradius der B 16, Sichtbehinderung durch ein Rasthaus.”
Sichtbehinderung als Genius Loci ‑ die ideale Startbedingung für einen ästhetischen Dialog mit vorsintflutlichen Resten.

Vorsintflutlich: die “Großtankstelle an der Kreuzung der Bundesstraßen 50 und 53 bei der Gemeinde Großhöflein” (so hieß das Objekt bei der behördlichen Einreichung durch Baumeister Ing. Fritz Brandhofer im Jahr 1955) ist eines jener Relikte der Stromlinien-Moderne, die mit Würde gealtert sind. Im Lauf der sechziger Jahre kamen weitere Zubauten dazu ‑ Grillraum, Veranda und Verkaufsraum ‑, aber der Charakter des Ortes als futuristische Insel im semiländlichen Verkehrs‑Ödland zwischen Wien und Eisenstadt blieb erhalten. Nur zerbröselte die dynamische Zukunft im Lauf der Jahre zur Nostalgie, das Rasthaus wurde zu industriellem Schrott, bald überholt von neuen, hastigeren Auto-Gewohnheiten. Es kam zum Verkauf, die Original‑Einrichtung wurde vernichtet, ein Zeit-Zeichen mehr wartete auf das Absterben. Die Dörfer der Umgebung waren mit neobiedermeierlicher Ortsbildpflege beschäftigt, die Lehrer und Landärzte bewiesen ihre kulturelle Identität mit Jugendstil‑Kalendern und naiven Dorfbildchen des Heimatmalers Kumpf. Für ein Rasthaus, das verloren dahockte in einer Prärie aus staubigem Schotter, blieb da nur Verachtung.

Es war also ein Objekt mit Charakter zu besetzen, ein cinematographisches Juwel: 1959 hatte hier Klaus Kinski Szenen für den Reißer “Der rote Rausch” gedreht, nun waren es die fahrigen Schwarz‑Weiß‑Bilder der Road Movies, die den aus der Großstadt anrückenden Augen‑Vaganten in den Sinn kommen mußten.

Das Rasthaus an der Kreuzung B 16/ B 59 (bei allen künftigen Plakattexten blieb es bei der Poesie der zugleich mathematisch genauen und topographisch vagen Beschreibung des Ortes) war kein zufällig gefundenes Gebäude: es wurde von den beiden Architekturstudenten Gregor Eichinger und Christian Knechtl und ihren Freunden gezielt gesucht und gefunden. Unmittelbarer Anstoß war ein Studienprojekt im Rahmen des Architekturstudiums an der Technischen Universität Wien (Prof. Dahinden/Assistentin Maria Auböck): “Architektur für die Arbeits‑ und Freizeitwelt/Leben von Gruppen.”

Der Oberösterreicher Eichinger und der Niederösterreicher Knechtl hatten einander 1975 an der Technik kennengelernt und lebten in den frühen achtziger Jahren in einer Kreativ-WG in Landegg (Bezirk Baden), in der eine gemeinschaftliche Organisation von Arbeit und Freizeit angestrebt war. Bald war klar, daß man das Studienprojekt nicht “als ob” durchführen wollte, sondern in Form eines tatsächlich realisierten Projektes, bei dem auch Anna Knechtl und Susanne Schwammers mitwirken würden. Da sich in Wien gerade die Wellen zweier Gründerzeiten gegenseitig verstärkten ‑ das “Lokal‑Herrichten” und das “Neue‑Welle‑Band‑Gründen” ‑, bot sich als architektonische Übung das Adaptieren eines Lokals an, wenn möglich mit Bühne für Live‑Shows. Zuerst hoffte man auf die Wiener Kettenbrückengarage, dann verlagerte man das Vorhaben, das von Anfang an die Dimension eines Gesamtkunstwerkes haben sollte, an die Peripherie, wo noch nicht jeder Ort besetzt schien. Es ging in der Folge auch darum, es “denen in der Stadt zu zeigen”, also denen in den zernierten Prestige‑Zonen.

“Die Peripherie”, schrieb Dietmar Steiner 1983 in seinem Rastlos‑Nachruf, “ist der unendliche Ort der ausgestoßenen und verlassenen ‑ auch kulturellen ‑ Minderheiten, die hier ihre Tricks trainierten, um zum Kampf gegen das Zentrum gewappnet zu sein.”

Die funktionslos gewordene Hülle an der Müllendorfer Kreuzung sah man zuerst vom Auto aus. Hans Leo, der im heruntergekommenen Rasthaus, das zuletzt als eine Art von Jugendklub betrieben wurde, als Kellner jobbte, stieß in der Folge zur Projektgruppe. Zwischen Idee, Abschluß eines günstigen Pachtvertrages, Neu‑Adaptierung und Eröffnung als Musiccafé Rastlos im April 1982 vergingen nicht einmal zwei Monate.

Geld‑ und Zeitmangel schlossen also eine aufwendige Design‑Oper von vornherein aus. Es ging darum, frühere Schichten des Rasthauses wieder freizulegen, nicht darum, New Wave Design mit Fifties‑Plagiaten an die Wände zu picken. Man wollte die Geschichte des Gebäudes akzeptieren und seine Objekt‑Details, die Säulen und die swingenden Wellen der Drahtgeländer, die Schäbigkeit und die Weite zum Sprechen zu bringen. Die Gruppe “grub sich ein in den Ort” und ließ sich ein auf einen “archäologischen Dialog”. Die nervösen Strichmuster und Wandmalereien in Pink und Blue, die als spröde Zeichen gesetzten Neonröhren und all die kleinen “Geschmacklosigkeiten” in Resopal kamen als zarte Kommentare ins Spiel, als genau gesetzte Details, die auf die Kraft des längst Vorhandenen hinzuweisen hatten.

Die Adaption des Rasthauses zum Rastlos war in gewisser Weise ein Nachklang des Siebzigerjahretrends des Spurensicherns und, was die lebenskünstlerische Dimension angeht, Ausdruck jener gesteigerten Lust nach AlltagsAbenteuern, der Michael Rutschky 1980 in seinem “Essay über die siebziger Jahre” den Titel “Erfahrungshunger” gegeben hatte. Zugleich aber lässt die Haltung, mit der am Rastlos gewerkt (aber eben nicht: gewerkelt) wurde, an eine Strömung in der Bildenden Kunst denken, für die in den mittleren achtziger Jahren Begriffe wie “Appropriation” und “Aneignung” auftauchten. Damit ist ja vor allem das Wissen um die analytische Schärfe gemeint, die notwendig ist, wenn man in der Fülle der “übriggebliebenen” Reste und im Junk des Vorhandenen noch einmal gültige Statements finden will. Als Strategie war im Design der frühen achtziger Jahre dieses Aufladen des Vorgefundenen mittels poetisch‑spröder Aneignung bereits formuliert.

1988 faßten Eichinger und Knechtl, inzwischen als Eichinger oder Knechtl firmierend und gegen das Wort Designer allergisch (“wir bezeichnen uns als Architekten im anderen Sinn”), in einem Interview mit Désirée Schellerer diese Grundhaltung zusammen: das Prinzip laute “Sachen überlassen, die auftauchen”, es sei interessant, “Dinge nicht zu vollenden, denn das kann man ja sowieso nicht”, jedes gestaltete Ding darf “nach Fertigstellung so aussehen, als ob es immer schon da war.” (MAK‑Design‑Sonderbeilage im “Standard”, 14. 12. 1988.)

Was beim Rastlos vollendet wurde und was einfach so blieb, “als ob es immer schon da war”, hing auch von den einsetzbaren Mitteln ab. Dieses offene Planen hatte somit eine ökologische Komponente, die in deutlichem Gegensatz zur Postmoderne steht, wo immer durchinszenierte komplette Bilder (Images) gebraucht werden.

Aus Geldmangel nicht zustandegekommen ist etwa ein Neon‑Logo am Dach des Rasthauses: an das unverändert belassene Wort “Rast” mit seinem Fifties‑Schwung sollte die Silbe “los” als in den Himmel aufsteigendes Signal eingefügt werden. Die Skizzen lassen an ein aufsteigendes Werbeflugzeug ebenso denken wie an einen nach oben geklappten Kappenschirm. Die “Brau AG” hätte den neu‑alten Schriftzug beinahe finanziert. Übrigens ist auf dem gleichen Skizzenblatt eine mögliche Alternative zum Lokalnamen Rastlos verewigt: “Brotlos”.

Wenn man an das Staunen denkt, das die Fotos des so sparsam “renovierten” Rasthauses später bei Architektur-Vorträgen auslösten, mag es überraschend wirken, daß in den schnellen sechs Monaten seines Bestandes keine einzige design‑ oder architekturkritische Wertung in den Medien erschien, nicht einmal im “Falter”, der für den Wiener Raum damals eine gewisse Beobachtungskompetenz an den Tag legte. Das lag nicht nur an der stadtfernen Lage, sondern auch daran, daß die ästhetische Dimension eben nur ein Teil des Projekts war. Mindestens ebenso wichtig war die Erfahrung, eigenhändig ein Lokal zu betreiben, vegetarische Salate zuzubereiten und Drinks zu mischen. Auf der Speisekarte gab es in der Rubrik “Mischgetränke 35,‑” Kreationen wie “Cousine Monika”, “Schwindelfrei” und “Kurzschluß”. Vor allem beim Drink “Kurzschluß” fanden Architektur, Design und Wohlbefinden ihre Deckung: Bananenlikör wurde mit Orangensaft gemischt, anschließend war Kaffeelikör beizugeben, wodurch im Glas ein Objekt mit drei Farbschichten entstand ‑ unten schwarz, in der Mitte grün und oben gelb.

Erste Resonanz fand das Rastlos als “ultraindividualistische Disco” und “ultrarasanter allerallerletzter Schrei”. Im Werbetexter‑Stil der Zeitschrift “Wiener” wirbelten die Ingredienzien ganz ordentlich in heißer Luft: “Die Atmo ist sachlich Me‑generationing, jeder geht auf seinen ureigensten Egotrip. Die Architektur ist makellos, fünfziger Jahre, Blechmöbel, Neon bis zum WC”.

Im Stiegenaufgang wurden bald Sätze wie “Geschwindigkeit ist Angst” und “ficken ist ein politikum” an die Wand geschmiert.

Von Anfang an wurden im Rastlos die damals neuen Bands der nach Österreich herüberschwappenden NDW‑Welle präsentiert (und zwischendurch auch Haudegen der Wiener Freak‑ und Punkszene): in der ersten Woche, Ende April 1982, spielten die Rucki-Zucki‑Palmencombo, Chuzpe, Rosachrom und Westblock. Im Mai kamen Molto Brutto, Prodixan, Monoton und Blümchen Blau, im Juni Außer Atem, Tom Pettings Hertzattacken, Kleenex aktiv und Viele Bunte Autos, im Sommer schließlich die Vergifteten Pfeile, Karel Gott, Zerbrechlich, Dämmerattacke, Willi Warma und Sternthaler. Voll war die Bude bei Peter Weibel’s Hotel Morphila Orchester, eher leer bei der Gruppe Binder aus der BRD. Auch Stars der internationalen Off‑Off‑Szene wurden an die Müllendorfer Kreuzung gelockt, Palais Schaumburg etwa, Z’ev oder Peter Gordon aus N.Y., N.Y. Die musikalischen Börsenberichte entnahm das Rastlos‑Kollektiv der Ö3‑”Musicbox” und der “Musiklandesrundschau”. Gezahlt wurden den Gruppen stattliche Honorare, die zum Teil der wackeligen Musik sehr schmeichelten. “Wir waren in gewissem Sinn die konsequentesten Mäzene der Wiener Musikszene”, erinnert sich Christian Knechtl. Geworben wurde auf den Plakaten, die wahre Orgien des Kopier‑Designs waren (bei Z’ev hat man sogar Reißnägel aufs Papier geklebt), mit Slogans wie: “RASTLOS buntes Musikcafé und runde Sonnenterrasse”. Auf den Jugend‑Seiten der Boulevardblätter und Lokalzeitungen hatte das Rastlos Titel wie “Nordburgenlands New‑Wave‑Zentrum” . Für Sigrid Löffler im “Profil”, diese mit Hassliebe an die Salonkultur gefesselte Spötterin, war das Rastlos, das sie nur aus dem “Wiener” kannte, bloß ein weiteres Beispiel für die Substanzlosigkeit der Zeitgeist‑Schickeria.

Das Führen des Lokals war lebensnotwendiges ökonomisches Standbein, das Abhalten von Ausstellungen im Oberstock das eigentliche Ziel des Rastlos‑Teams, “um das Kulturleben am Lande hemmungslos nach ihren Vorstellungen reaktivieren zu können” (“Burgenländische Freiheit”). Christian Knechtl beschrieb das Rastlos in der “Musiklandesrundschau” als Bastion im Kampf gegen “geistige Bewegungsprohibition am Land”. Mit dem Hinweis auf regionalkulturelles Potential wollte man wohl auch Subventionen des Landes zum Fließen bringen. De facto blieb das Rastlos, seines Aussehens und seines Musik‑Konzepts wegen, ohne Berührung zur Jugend der näheren Umgebung. Vor allem im nahen Eisenstadt pfiff man auf die urbane Exil‑Truppe. Und so kreuzten sich an den Abenden der Wochenenden auf der Bundesstraße B 16 nicht selten zwei Autokolonnen: die Burgenländer, die der Wiener In-Disco “U4” zustrebten, kamen jenen Wienern entgegen, die ins Burgenland fuhren, um “Viele Bunte Autos” aus Wien zu hören.

Als im Oberstock des Rastlos die Ausstellung “NO NEW YORK ‑ Klimmzüge Teil 1 ” eröffnet wurde (die im wesentlichen aus pittoresk gruppierten Bau‑Trümmern bestand, denen man das Rohe belassen hatte), wählte Eröffnungsredner Peter Weibel die “Ungleichzeitigkeit” als Leitmotiv: “der einzige Existenzpunkt für diese Galerie ist die Ungleichzeitigkeit . . . hier ist eine Art Bruchstelle des Bewußtseins . . . Die Ungleichzeitigkeit sehen wir auch darin, daß wir hier nicht in New York sind und auch auch nicht in Venedig. Und deshalb ist es so wichtig, New York nach ‘Nicht‑New York’ zu bringen, nämlich ins Burgenland …”

4.
“Grenzkampf”, “Grenzerregung”, “Ciao”, “Money”, “Zwirbs”, “Atomic Peace”, “Also/Auch”, “Buono Gut Bon Good”. Auf einem Schmierzettel finden sich noch Spuren eines Brainstormings zwischen den Rastlos‑Leuten und den beiden italienischen Design‑Scouts Bepi Maggioiri und Marco Zanuso jr. Es ging darum, einen passenden Titel für ein europaweites Designer‑Treffen zu finden. Offensichtlich war die dramatische Nahe zur Grenze, die man von der Terrasse des Rastlos bei Sonnenuntergang mit übersteigerter Sentimentalität spüren konnte, für die Italiener sinnliches Atout, und man entschloß sich zu einem Veranstaltungstitel mit Front‑Romantik: “FOR SALE? A PRESENTATION OF NEW DESIGN ON THE BORDER. Exhibition ‑ Meeting ‑ Music. 24.‑27. September 1982. Rastlos. Müllendorf. Burgenland. Austria.”

Zueinandergefunden hatte man im Kondensstreifen des um 1980 jäh ausbrechenden italienischen Interesses für den magischen Ort Wien. Maggiori und Zanuso waren im Winter 1981/82 nach Wien gekommen, um für eine Wien‑Sondernummer der Zeitschrift “Casa Vogue” zu recherchieren. Dabei erfuhren sie vom Projekt Rastlos. Im Frühling 1982 kam es zum ersten Treffen an der Müllendorfer Kreuzung, im Sommer 1982 liefen die Vorarbeiten zum Designer‑Meeting an. Auf dem Briefpapier firmierten Eichinger und Knechtl als “Austrian Office”, die Architetti Magglori‑Zanuso jr. Associati als “ltalian Office”. Um im Briefverkehr mit offiziellen Stellen Internationalität vorzuspiegeln, wurde in Österreich mit italienischem, in Italien mit österreichischem Briefkopf operiert. Ein von der burgenländischen Landesregierung zur Verfügung gestelltes Kopiergerät war ja fast einziges Produktionsmittel.

Als Designer hatte das italienische Duo bereits Wien‑Erfahrung: für die Eröffnungsausstellung in den “prodomo”‑Räumen in der Wiener Flachgasse (Renate und Peter Teichgräber), hatten sie 1981 eine Schau mit neuesten italienischen DesignExtravaganzen zusammengestellt. Neben Arbeiten von Sottsass, Gae Aulenti, Alchymia und Branzi sah man auch aggressive Teekannen, einen Strandschrank und Bade‑Design von Maggiori/Zanuso jr. Als Ideen‑Drehscheibe für italienische Kunstmöbel hatte Österreich ja noch der großen Ausstellung “Forum Design”, 1980 in Linz, einen guten Ruf. 1982 sah man bei “prodomo” unter dem Titel “The New International Style” Objekte von Memphis, Mariscal, Mendini, Thun, Graves, Zanini usw. Doch diese Aktivitäten blieben auf der Ebene der Eliten‑Verzahnung: eine schmale Schicht im Wiener Bürgertum reagierte auf die neuen Zeichen der Geschmackswende. Vor allem italienische Gegenstände, wie Trophäen in die Wohnungen gestellt, hatten im damaligen Wien hohes Ansehen. Zur selben Zeit machten ja Adressen “völlig unbekannter” Restaurants in der Toscana die Runden, man lernte, ausschließlich persönlich importiertes Olivenöl “extra vergine” zu verwenden und bei den Innenstadt‑Vinotheken nur italienischen Wein aus ersten Lagen zu kaufen.

Das Designer‑Treffen, das auf der Sonnenterrasse des Rastlos ausgeheckt wurde, sollte tiefer ins gestalterische Unterholz eindringen. Vor allem jene, die abseits des europaweiten Kreisverkehrs der Modenamen agierten, sollten eine Probebühne mit Möglichkeiten zu horizontaler Vernetzung bekommen. In einem frühen Positionspapier war “eine neue Kombinationsform von Entwurf, Produktion und Vertrieb” angepeilt, ja man hoffte sogar auf Direktverkäufe im fernen Burgenland. Der Titel “FOR SALE?” bekam erst im Lauf der Planung jenes Fragezeichen, in dem sich jene radikale Infrage‑Stellung der Design-Marktregeln einnisten konnte, die schließlich das Meeting prägte. Wahrend sich die marktkonformeren Italiener als europäische Design‑Juniorenliga etablieren wollten, ging es den meisten Quer‑Denkern, die schließlich kamen, “um den Spaß, herumzustöbern und die Sachen weiterzudenken, die herumliegen”. Gerhard Stabl, Linzer Hochschulassistent und Initiator der Gruppe Wohnfreiheit, sagte das in einer beim Designer‑Treffen im Rastlos entstandenen Radiosendung der ORF‑”Musicbox”, in der Bepi Maggiori bezeichnenderweise nicht von einem neuen Verhältnis zu den Dingen, sondern von einem neuen Verhältnis zu neuen Käuferschichten sprach: “Ich glaube, die junge Generation kauft heute schneller eine Jacke oder eine Schallplatte als einen Sessel. Man wechselt leichter das Auto als die Wohnung. Ich aber sage als Designer: wenn du eine Jacke von Armani oder ein Auto von BMW kaufst, was viel mehr kostet als neue Möbel, warum wechselt du nicht die Möbel?”.
Die Jungen, klagte Maggiori, seien wie die Alten und würden nur daran interessiert sein, zu sparen und Werte anzulegen. Zu propagieren sei eine neue Beweglichkeit: “Ich sage: wechsle deine Möbel, damit du besser Leute einladen kannst und dich wohlfühlst. Und: kaufe weniger Schallplatten und weniger schicke Autos. Kaufe mehr Möbel!”

Die Möbel auswechseln? Schreiende Dreiecke und gelbe Pfeile statt modernistischer Langeweile? Oder dem ganzen Leben den Teppich wegziehen und dafür Stacheln hinlegen? Boutiquen‑Geplätscher oder subversiver Kampf? So uneinheitlich die Dinge waren, die man in Müllendorf sehen konnte, so diametral waren auch die Haltungen. Es fällt schwer, im Nachhinein zu berechnen, wieviel Verunsicherung die einzelnen Teilnehmer nach Hause mitnahmen.

Es ist auch schwer, im Nachhinein zu erahnen, wie kompliziert es im Sommer 1982 war, den internationalen Designer‑Underground zusammenzutrommeln. Die noch aufzufindenden Listen mit den Namen von Einzuladenden bezeugen die schwierige Suche: Namen, die wenige Monate später bereits ohne Probleme Museumskatologen und Fachzeitschriften entnommen hätten werden können, existierten noch als Gerüchte, als Infos von Dritten über Vierte. Es ist ein Phänomen der achtziger Jahre mit ihrem Traum von den universellen Datenbanken, daß alle Geheimnisse binnen kurzer Zeit gestapelt und deponiert werden. Wir haben es also bei der Personen‑Mischung, die im Rastlos‑Katalog zusammengefaßt ist, von Superstar Philippe Starck bis zum Wiener Elektronikmusiker ZYX, um den raren Fall einer dokumentierten “Zwischenzeit” zu tun, in der erst mühevoll eine Landkarte für ein neues Territorium gezeichnet werden mußte.

Relativ leicht hingegen war es, die italienische Szene zu sichten. Maggiori war schließlich als Design‑Korrespondent von “Casa Vogue” eine wichtige Anlaufadresse, und viele der nach Müllendorf geladenen Designer hatten bereits “öffentliche” Biographien wie die damals 28jährige Fabrizia Scasselati vom Superstudio Florenz; sie hatte gerade den Domus-Möbelpreis der Stadt Alessandria gewonnen “and her works have been published in many ltalian magazines”.

Bei den Deutschen und Engländern war man auf Zufalls‑Informationen und transnationale Brückenköpfe angewiesen (Theo Gonser und Wolfgang Sattler arbeiteten in Mailand, One‑Off war eine Gruppe von Deutschen und Engländern mit Operationsort London). Viele namhafte Entwerfer sind auf den ersten Check‑Listen falsch geschrieben, bei manchen scheiterte die definitive Einladung an der Unmöglichkeit, Adressen zu eruieren. In Holland und Frankreich blieb es bei Einzelkontakten ‑ Totem in Lyon, Vormgeverassociatie ‑ “die hatten sogar schon genormte Verpackungen für ihre Lampen” (Eichinger) ‑, bei Japan und Amerika gab man die genauere Suche bald auf, weil klar wurde, daß man keine Transportkosten würde tragen können. Die wenigen Einladungen, die in den Osten gingen, versandeten. Weder Wladimir Slapeta aus Prag noch Akos Morawansky aus Budapest konnten kommen. So wurde es ein Treffen mit dem Rücken zur Grenzmauer.

In den Unterlagen findet sich eine mit “nonparticipanti” überschriebene Liste, die mit unverfrorener Naivität Gott und die Welt auflistet: Spalt, Ronte, Oberhuber, Hollein, Feuerstein, Noever, Krier, Sottsass, Mendini, Himmelblau, Rem Koolhas, Podrecca, Branzi, lkea, KIKA, Blau, Habitat, Bene, Beuys, Worhol, Gehry, Pesce, Celant, Czech, Coppola, Zevi, Domenig, Fiorucci, Site u.v.a.
Ursprünglich wollten wir ja mindestens zwei Entwerfer-Generationen zusammenbringen”, erinnern sich Eichinger und Knechtl. “Das Treffen sollte zu einer Konfrontation zwischen Etablierten und Neuen werden”. Als man merkte, daß man sich mit einem solchen Super‑Treffen zu viel vorgenommen hatte, wollte man die Stars, von denen ja viele als Hochschullehrer Bezugspersonen der jungen Designer waren, wenigstens zur Konfrontation animieren. “Denen hätten wir zeigen wollen, was längst an ihnen vorbeiläuft”.

Gekommen ist schließlich kein einziger der Großmufti im Gestalter‑Business. Nur Robert Maria Stieg, der 1980 bei seiner Wiener Ausstellung “Vorsicht: Polstermöbel!” bereits Sensibilität für die neuen Stilbrüche zeigte und etwa das Autoreifen‑Sofa von Jochen Gros vorstellte, war drei Tage lang beim Meeting und zeigte sich als sehr interessierter Beobachter. Alle anderen Opinion-Leaders im 50 Kilometer entfernten Wien blieben desinteressiert und ahnungslos: weder die Proponenten der neuen Wiener Architektur kamen, noch die Fachkritiker, weder die auf Italo-Design spezialisierten Händler, noch die beamteten Ausbildner der Kunsthochschulen. So kam es, daß mit Ausnahme einer einzigen Radiosendung jedes Medienecho ausblieb. Wenigstens ein Wiener Publizist (Dietmar Steiner) schämte sich, ein Jahr später, “namens des Zeitgeistes”, das Projekt Rastlos und das Meeting “DESIGN ON THE BORDER” “richtiggehend verschlafen” zu haben.

Geradezu rührend wirken im Nachhinein die Versuche des Planungsteams, Sponsoren zu finden: “Z/Banken/ ÖIAG/SPÖ/AK/Institut für Formgebung/Ministerium/Mobil Oil/Verkehrsbüro” (Planungszettel), eine Litanei für Sisyphus. “Arch. Aktuell meldet sich nicht”. “Dr. Schlag besetzt”. “Peter Weibel weiß nichts wg. Sponsoren”.
“Die Erste noch einmal anrufen”. “Römerquelle ruft zurück”. Nur die burgenländische Landesregierung war bereit, das bodenlose Projekt mit einem nennenswerten Beitrag zu unterstützen. Im Förderungsansuchen hatten die Projektanten darauf hingewiesen, daß mit dem Beisatz “on the border” auch “auf die Situation der jungen, freischaffenden Künstler” hingewiesen würde, und daß die intendierte Internationalität dem Burgenland eine “Belebung des Fremdenverkehrs” bringen könnte.

De facto hat das Rastlos‑Team das ganze bislang erwirtschaftete Geld in das Treffen gebuttert. Die Teilnehmer wurden in Fremdenzimmern der weiteren Umgebung untergebracht (der nahe gelegende Ort Müllendorf lehnte ab, Gästezimmer zu stellen), das Essen mußte von den Teilnehmern selbst bezahlt werden. Der Katalog, teuerster Einzelposten im Budget, sollte sich als längerfristige Investition bezahlt machen. Die Bereitschaft von “prodomo”‑Chef Teichgräber, ihn nach sieben Jahren nachzudrucken, damit er nun wieder als Speicher versprengter Vorzeit‑Ideen dienen kann, zeigt, daß man zumindest den Anschluß an die Zukunft richtig eingeschätzt hatte.

Manche der Teilnehmer von 1982 erwischten die Erfolgsspur, manche ordneten sich dann doch im Industrie‑Design ein, einige wechselten ihr Arbeitsfeld, von anderen verlor sich jede Spur. Einige der Netze hielten über die Jahre und wurden dichter. 1989 traten etwa Jasper Morrison und Andreas Brandolini (vormals Bellefast) mit acht anderen Designern (unter ihnen Marco Zanuso jr.) bei der Kunstmesse “Art Frankfurt” an, um Sitzmöbei für Galerienbesucher zu präsentieren (“The Seating Project”).

Eichinger/Knechtl stellten erst ein Jahr nach dem Designer‑Treffen ihre eigenen Einzelobjekte vor: bei prodomo zeigten sie eine “Buchschneidemaschine” und eine Lampe. Auf einem Holzbock, wie man ihn bei Straßenbaustellen verwendet, war eine zarte Neonröhre montiert, die das rigide Objekt wie eine Kerze erscheinen ließ.

Das Rastlos war vier Wochen nach “FOR SALE?” geschlossen worden. “Sechs Monate sind genug”, stand auf dem Plakat für das letzte Konzert, bei dem David Van Tiegham und Peter Gordon noch einmal für einen gut gefüllten Parkplatz sorgten. Eine Änderung in den Besitzverhältnissen ließ den günstigen Pachtvertrag platzen, doch das war nicht der einzige Grund dafür, daß die Nomaden den von ihnen bezeichneten Ort nun wieder verließen: “Eigentlich war das Führen eines Lokals auf Dauer nicht unsere Sache”, erinnert sich Eichinger, “uns ging es ja darum, etwas ins Laufen zu bringen, etwas anzuwerfen”.

Noch steht das blaugestrichene Unikum aus den Fifties mit den inzwischen ebenfalls verwitterten Spuren der Eighties wie ein Ufo im verlorenen Land. Es ist schwer, nicht gerührt zu sein, wenn man bei regennasser Fahrbahn auf der Beinahe‑Autobahn nach Eisenstadt rast, wenn plötzlich die Sonne all die Straßen, die sich durch die einst liebliche Eisenstädter Pforte drängen, silbrig glitzern läßt und wenn man alle Abstufungen von Grau mit zugekniffenem Auge durchspielen kann. Der Himmel ist riesig da unten, im Kitsch vermischt sich alles.

Als Studienprojekt konnte das Rastlos nie abgeschlossen werden: Prof. Dahinden verweigerte den eingereichten Materialien (Photos, Videos, Plakaten, Tonbändern) die Anerkennung, weil er die obligaten Baupläne vermißte. Daß hier “in situ” projektiert wurde und vor allem in Realzeit der Realität entlang, blieb ihm unverständlich.

Eichinger und Knechtl brachen ihr Studium ab und formierten sich, nach einem Intermezzo als Weibel‑Assistent (Eichinger) und Zivildiener (Knechtl), als Generalisten eigenen Zuschnitts. Ob “Falter”‑Titelblätter, Büroräume oder Buch‑Layouts: von nun an wurden alle Interventionen im urbanen Chiffren‑Dschungel als Retuschen an der Struktur der Stadt begriffen. “Bei den Zeitungs‑Covers stellten wir uns immer vor, wie sich die Stadt verändert, wenn die Leser den ‘Falter’ in der Sakko‑Tasche stecken haben.” Entworfen wurde weiterhin nicht auf der Grundlage von Konstruktionszeichnungen, sondern über den Fluß von Gesprächen und in Antwort auf vorgefundene Situationen.

Ein paar Jahre nach dem Meeting “FOR SALE? DESIGN ON THE BORDER”, ist die Frage reizvoll, ob die Veranstaltung und ihr Schauplatz jemals existiert haben. Die achtziger Jahre haben ja einen ganz anderen Typus von Veranstaltung zur Perfektion gebracht: das total mediatisierte Event, das völlig überlagert wird von Simulation. Die Veröffentlichung von Ereignissen wirkt realer als alles, was sich tatsächlich zugetragen hat. “Das, was nicht publiziert wird, existiert in einer von Massenmedien beeinflußten Gesellschaft nicht” (Christian Borngräber im “Kunstforum”‑Band “Deutsche Möbel”, März 1989). Es läßt sich fragen, was alles verloren geht in diesem Doppelnelson aus schnellem Ideenverschleiß und ungenauer und verfälschender Medienverstärkung. Vielleicht ist fast alles, was als Bilderfilm dieser Epoche an uns vorbeiläuft, bloß potemkinsche Inszenierung, die in jeder Sekunde wieder verschwinden kann.

Zum Schluß also, aus Anlaß dieser Rekonstruktion, die Frage: gab es 1982 noch Leben diesseits der Simulation?

1989 für prodomo, Wien. Mit freundlicher Genehmigung des Autors

n dem weißen Schweigen
das den Beginn der Endrunde
ankündigte lernte er den
immer anderen Bauplan der
Maschine lesen die er war
aufhörte zu sein anders
wieder war mit jedem Blick
Griff Schritt und daß er ihn
dachte änderte schrieb mit
der Handschrift seiner
Arbeiten und Tode

aus: Heiner Müller, HERAKLES 2 ODER DIE HYDRA
In: Ders., Werke 2: Die Prosa. FfM: Suhrkamp 1999, 94-98

participanti

 1. RASTLOS ‑ B59 + B16 – Austria
2. ALTRO DESIGN – Milano – Italy
3. BELLEFAST  – Berlin – Germany
4. PIERO CASTIGLIONI – Milano – Italy
5. ARMANDO CHITOLINA – Milano – Italy
6. WERNER DEGENFELD – Vienna – Austria
7. STEFANO GIOVANNONI – Spezia ‑ Italy
8. HEIDI + PETER – Berlin – Germany
9. K88 ‑ Berlin ‑ Germany
10. SACHA KETOFF – Paris – France
11. CINZIA LAURELLI M. GRAZIA CHIAPINELLI SONIA LOLLI ‑ Firenze – Italy
12. GERHILD LIEBENBERG/WOLFGANG  POHL ‑ Hamburg ‑ Germany
13. HUGO LIMA ‑ Vienna –  Austria
14. BATTISTA LURASCHI – Como – Italy
15. LUX NEONLICHT – Hamburg – Germany
16. MAGGIORI‑ZANUSO jr. ass. – Milano ‑ Italy
17. TONI MEICHENITSCH – Pottendorf – Austria
18. MEMORY HOTEL STUDIO – Firenze – Italy
19. MONOTON ‑ Vienna ‑ Austria
20. JASPER MORRISON – London – England
21. HANS NEVIDAL
22. JOSE’ C. NOSEL – Rimini – Italy
23. OCEANO OLTRELUCE ‑ Milano – Italy
24. ONE OFF – London –  England
25. PADELUUN – Berlin – Germany
26. DAVID PALTERER ‑ Firenze ‑ Italy
27. FRANCO PAOLINELLI ‑ Roma ‑ Italy
28. PLAGIO ‑ Milano ‑ Italy
29. PLODERER & ROLLIG ‑ Vienna ‑ Austria
30. PIERRE YVES PRIEUR ‑ Paris ‑ France
31. RAUMPUNKT ‑ Berlin ‑ Germany / London ‑ England
32. GUGLIELMO RENZI – Firenze – Italy
33. VALERIO SACCHETTI – Bologna – Italy
34. DENYS SANTACHIARA – Reggio Emilia ‑ Italy
35. WOLFGANG SATTLER‑THEO GONSER ‑ Schwäbisch Gmund ‑ Germany
36. FABRIZIA SCARSELLATI ‑ Firenze ‑ Italy
37. H.D.K. ‑ Kontakt THOMAS SCHWEBEL ‑ Berlin ‑ Germany
38. SPECIALE ‑ Bari – Italy
39. PHILIPPE STARCK – Paris – France
40. STILEMA ‑ Montecatini Terme ‑ Italy
41. STUDIO ALCHIMIA ‑ Milano ‑ Italy
42. STUDIODADA ass. ‑ Milano ‑ Italy
43. TOTEM ‑ Lyon – France
44. GIANNI VENEZIANO – Milano ‑ Italy
45. GUIDO VENTURINI – Firenze ‑ Italy
46. VORMGEVERSASSOCIATIE ‑ Arnheim ‑ Holland
47. MONIKA WALL ‑ Stuttgart ‑ Germany
48. THOMAS WENDTLAND ‑ Hamburg ‑ Germany
49. WOHNFREIHEIT ‑ Kontakt GERHARD STABL ‑ Linz ‑ Austria
50. ZAK‑ARK ‑ Bologna ‑ Italy
51. ZYX ‑ Vienna ‑ Austria

hrg. prodomo, Wien 1989, Fotokopie.
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Joachim B. Stanitzek u. Wolfgang Kos