Wo die Zeit geblieben ist

Freitag, 16. Januar 1998. Reise nach Hamburg. Premiere von Rainald Goetz’ Theaterstück Krieg im Hamburger Schauspielhaus mit anschließender Premierenfeier in Anwesenheit des Autors. Sie hatte sich gar nicht vorstellen können, daß so ein Stück, so ein Text überhaupt spielbar sei. Das Bühnenbild ein Mittelding aus Parlamentsbühne und Kneipentheke. Die Hauptfigur ein DJ am Lichtreglerpult. Toller Einfall. Der Krieg bestand im Sprachkrieg, auch viel Kleinkrieg. So gesehen wäre die eigene Kriegermontur mit dem Wappen des japanischen Schwertadels gar nicht nötig gewesen. Bei der Premierenfeier ist der Autor out of mind. Wieder und wieder hört sie das Stück Church of KRIEG auf der CD Krieg von Klaus Jankuhn und Rainald Goetz: es ist kraftvoll und ein großer hoher Raum. Ein Mittelding aus Kraftwerk/Sakamoto/Bob Wilson “Civil Wars”. Die Klavier-Passage mag sie sehr.

Dienstag, 10. Februar 1998. Ende ihrer einjährigen Gastprofessur in Kassel. Ende des wöchentlichen Pendelns zwischen Kassel und Berlin. Endlich raus aus der Kofferexistenz und dem Doppelberuf.

Mittwoch, 18. Februar 1998. Süddeutsche Zeitung. Nachrufe auf Ernst Jünger, der am 17.2.1998 im Alter von 102 Jahren gestorben war. Darunter Rainald Goetz’ persönliches Statement unter der Überschrift “Die Schwelle”.
Ernst Jünger: “Das Komma gehört zum Duktus, der Gedankenstrich kündigt eine Schwelle an.”
Der einzige Satz, der einen Gedankenstrich enthält im Nachruf von Rainald Goetz, lautet: “Daß der Tod, den er im Übermut der Jugend herausgefordert hatte, ein überlanges Leben lang nicht von ihm weichen wollte — das vielleicht schrecklichste, traurigste und menschlichste Bild dieses Lebens.”
Der einzige Eintrag, den sie in ihrem Zitat-Tagebuch von Ernst Jünger findet, lautet: “In der toten Zeit würde die innerste Spannung gebrochen, die den Gang der Zeit und den Wert der Stunden bestimmt.”

Mitte Februar. Vorbereitung auf die Shanghai-Reise.

11. – 22. Februar 1998. Berlinale. Filmfestspiele. Pressekarten. 16 Filme gesehen, vorwiegend China, Hongkong, Taiwan, Japan und ein paar große Hollywood-Produktionen. Der Film Große Erwartungen des Regisseurs Alfonso Cuarón mit Robert de Niro und Zeichnungen von Francesco Clemente. Inspiration, Schaffenskraft, Schaffensrausch, unerfüllte Liebe, Sehnsucht. Das gebrochene Herz. Eine Parabel auf den Kunstboom und seinen Niedergang.

Sie hört Bob Dylan’s Time Out of Mind:
– I am sick of love
– I try to get closer, but I am still a million miles from you
– My attempts to please you, they were all in vain
– Well your loveliness has wounded me
– Well I’m lost somewhere
– I don’t want nothing from anyone

26. Februar 1998. Sie besorgt sich in der Buchhandlung den Vorschautext von Rainald Goetz’ Erzählung RAVE: “Wenn die Sonne scheint und der Sommer regiert, wenn Milde, Offenheit und Zartgefühl die Stimmungen bestimmen, erhebt sich auch die Erzählung RAVE hoch in die Lüfte.”

Lektüre der Theaterstücke Festung. Kronos von Rainald Goetz:
– Körbe mit Rosen, Tagebücher
Der Wartesaal zum kleinen Glück.
– Es war Abend, glaube ich, Frühsommer. Ein sanfter Wind, Achtsamkeit und Harren,
seliges Sein …
– Erfahrungen, die es ermöglichen, alles neu zu bewerten.
– man muß ja warten lassen können
– I am your husband honey, not your bloody butler
– Beim Gehörten handelt es sich meistens um Gesagtes
– Oft war das Gesagte vorher ein gesehenes Geschehen
– Wer spricht, wertet. Aber auch wer schweigt, wählt aus.
– Interessant finde ich auch, daß man praktisch unmöglich mit Absicht von einer
bestimmten Sache, an die man nicht denken möchte, weg denken kann. …
– Ich ging dahin, und es war Mittag. Und ich sah mein Leben, wie es sich so durch
mich durch heraus gebohrt und geöffnet hatte und inne hielt im Augenblick …
Und der Weg war lang. Und ich war müde. Und ich ging dahin.
– Bei Berührung entsteht Linderung.

Lektüre von Ernst Jünger Der Baum.

5. – 13. März 1998. Reise nach China: Peking und Shanghai.

Montag, 16. März 1998. Die redaktionelle Lektüre von Karl Jaspers’ Buch Strindberg und van Gogh versetzte sie in die Lage, ihre eigene psychopathologische Geschichte aufzurollen. Die mit der Pubertät einsetzenden Suicidgedanken, täglich im Tagebuch verzeichnet. Mit aktiverem Sexualleben der hinzutretende Eifersuchtswahn. Die Liebesdramen. Erste Einlieferung auf einer Rußlandreise in ein finnisches Krankenhaus. Man versetzte sie einfach in einen tagelangen Tiefschlaf, schickte sie dann nach Hause mit der Bitte, die Nieren gründlich untersuchen zu lassen. Ab 1986 dann erster heftiger Schub auf einer Ungarnreise. Der Wasserhaushalt brach zusammen und ein dunkler Vorhang des Mißtrauens zog sich um sie.

Sie deutete: unglückliche Liebe, Überarbeitung, midlife-crisis. Ständiger Interpretationswahn bis Wahngebilde. Konstruktionen aus Wirklichkeitsversatzstücken zu einem bedrohlichen Mafiaverfolgungswahn.
Frühjahr 1989 Flucht aus Berlin aufs Land. Einlieferung 14. Juli 1989 in die psychiatrische Klinik Braunschweig auf eigenen Wunsch. Verstummen. Behandlung mit schweren Psychopharmaka. Entlassung nach 4-6 Wochen. Seitdem regelmäßige Medikamentation mit Neuroleptika:  Fluanxol. Seitdem 3-4 Schübe. Der letzte auf der Reise nach Zürich im September 1997. Sonst keine Anomalien psychischer Natur. Leichter Hospitalismus, Beinewackeln, Unruhe vom Rückgrat ausstrahlend.

Die Lektüre des Jaspers-Textes ergibt bezogen auf ihre eigene Krankengeschichte die eindeutige Diagnose: Schizophrenie. Der Aspekt der Dauer, des Prozeßhaften, der Schübe, des phasischen Verlaufs, den Jaspers in seiner Darstellung des Wahnsinns, einhergehend mit dem schöpferischen Schaffensdrang beschreibt, war besonders einleuchtend dargestellt. Diesen Aspekt ergänzte sie durch die Lektüre des Buches von Toshiaki Kobayashi Melancholie und Zeit, wo der Begriff der Dauer von Bergson hergeleitet wird, den wiederum Deleuze zum Begriff des Werdens wendet. So galt für ihr Schreiben wie für ihren Werdegang: “Form bzw. Gestalt ist ein Bewegliches, ein Werdendes, ein Vergängliches.”

Beschäftigung mit Dürers Melencholie.
Stereogramme zu betrachten heißt, den melancholischen Blick anzunehmen. Eine kognitive Dissonanz.
Melancholischer Blick versus erleuchteter Blick.
Diagnostischer Arztblick versus Kinderaugen.

Mittwoch, 18. März 1998. Brief an Aurel Schmidt:
“Lieber Aurel, meine Lektüre Deines Manuskripts Reise ohne Raum ist zu ihrem Ende gekommen. Das Ganze gelesen in zwei Etappen. Vom Kapitel “Anfang und Aufbruch” war ich so gefangen genommen, so daß ich gleich “mittendrin”, “eingeschifft” war. Tiefsinnig alle Deine Ausführungen zur realen Reise, Deine Reisephilosophie, die in ihren vielfältigen Schattierungen meine Erfahrungen teilt/oder ich die Deinen. Da schreibt einer, der selber in seinem Leben unterwegs ist. Und wie köstlich die Abschnitte über die Unbehaglichkeiten und Mißgeschicke des Reisens. Was habe ich da gelacht und mich an so manches Ungeschick auf meinen eigenen Reisen erinnert gefühlt. Deine kenntnisreiche Reiselektüre von Marco Polo bis Chatwin steht mir in großen Teilen, besonders den älteren Berichterstattungen, noch bevor, sie haben mich aber neugierig gemacht, dort meine Lektüren fortzusetzen.
Hättest aber ruhig Schliemanns Reise durch China und Japan erwähnen können. Ist er doch der typische Erforscher, der wie ein Botaniker alles beschnüffelt und wie ein Händler alles Fremde mißt, wiegt und zählt. In diese Kategorie (nur viel früher) gehören übrigens auch die Kulturgegensätze Europa-Japan vom Jesuitenpater Luis Frois von 1585, erstmals erschienen in einer zweisprachigen (portugiesisch/deutschen) Ausgabe an der Tokyo Sophia Universität 1955. (Das Buch habe ich ausgegraben und hoffe einen Verlag zu finden, der es publiziert.)
Im Kapitel “Niemandsland” fand ich mich dann gleich wieder in meinem türkisch/polnisch/russischen Berlin, und dachte an die gerade erlebten Megalo-Festungsbauten in Shanghai. Danach war die erste Lektürephase beendet.

Anderer Tag, neuer Lektüreeinstieg mit Kapitel “Beschleunigung und Stillstand”, das mich schon in der Titelgebung so stark an Virilio erinnerte, daß ich zügig die Zeilen überflog. Im Kapitel “Digitale Urbanität” dröhnte dann dermaßen die Sprache der heutigen Technologien aus allen Rohren, daß die Zeit stehenblieb. Immer weiter lesend trat ich irgendwie auf der Stelle. Die anfänglich mitvollzogene Schritt für Schritt Lektüre kam zum Stillstand. Es kam mir so vor, als wenn ich keinen weiteren Gedankengang vor mir hätte, obwohl sich doch tatsächlich, wie von Dir richtig beschrieben, täglich und sogar stündlich in der technischen Entwicklung Ungeheures vollzog und harte Wirklichkeit wurde.
Die Kapitel “Raum als Information und Prozess” sowie “Das Dasein als Informationsmasse” sind so sehr in der Jetztzeit verankert, daß ich bei der Lektüre verspüre, was uns alle krank macht: es ist die leere, gezählte Zeit. Da liebe ich mir doch die Bergson’sche “Dauer”! Verstehe das Gesagte bitte nicht als Kritik an Deinen sehr richtigen Ausführungen, sondern als Kritik an dem Sosein unserer gegenwärtigen Wirklichkeit, unserem Zeitalter der vierten technischen Revolution.  Habe mir sehr viele Passagen angestrichen, die ich nun für mich und die Vertreter exerpieren will.
Freue mich schon auf das persönliche Gespräch in Berlin. Ich danke Dir sehr für dieses schöne Buch, für die erkenntnisreiche und bewegende Lektüre. herzlich grüßt Dich Heidi.”

Freitag, 20. März 1998. Seit der Rückkehr aus China schwebten chinesische Weisen durch die Verlagsetage und beschwingten den tristen regnerischen Alltag.
Vor ein paar Tagen Justus’ [Zielinski] Geburtstag mit dem Stummfilm Dr. Caligari in der expressionistischen Kirche auf dem Hohenzollerndamm begangen mit anschließendem Abendessen in einer Pizzeria.
Zwei Tage später bringt Justus beim Besuch im Verlag die indische Filmmusik Matches mit. Der Worthorizont des englischen Ausdrucks match erstaunte sie: Ebenbürtiger, Seinesgleichen, jemand, der es mit einem aufnehmen kann, seinen Meister finden, zusammenpassendes Paar, Gespann, Heirat, gute Partie, ehelich verbinden …
Die Kassette war eine Antwort auf ihre Kassettenedition Heidi-Mix 1997, die er ausdrücklich ganz schlecht fand, sowohl in der technischen Aufnahmequalität als auch in der Musikauswahl. “Ganz schlecht”, wiederholte er auf die abgedroschenen Lieder anspielend. Es war klar: sie brauchte dringend neue Musik!
Sie überspielte sich von der indischen Musikkassette die Titelsongs Matches opening und Matches closing. Ein langes Instrumentalstück, zu Anfang tragische Filmgeigen, dann einsame Flöte schmachtend, dann fröhliches verlockendes Zupfen, zuletzt einsame Geigen.

Samstag 21. März 1998. Nach dem Brötchenholen mit dem Rad, wo ein recht frischer klarer Morgen war, Zeitungslektüre über Partydrogen und Stellenangebote für Professoren durchforsten. Dann Busfahrt zum Hamburger Bahnhof, zur Broodthaers-Filmausstellung. Vom Lehrter Bahnhof, “Ansage abwarten”, eine Station weiter, vorbei an der größten Baustelle Europas zur Friedrichstraße, dem einstmals größten Verkehrsknotenpunkt der Stadt von Ost nach West, jetzt überfüllt von Menschen, die auf zwei Gleise beschränkt von hier aus in alle weiten Bezirke fahren. Nach Ahrensfelde zum Beispiel. Wo liegt das eigentlich? Dabei wohnt sie schon seit 29 Jahren in der Stadt! Friedrichstraße, Besuch des neueröffneten KulturKaufhauses “Dussmann”, wo auf 3 Etagen von Weltmusik bis Gartenbücher alles verkauft wird. Die Besichtigung der ersten Etage genügte!

Eine S-Bahnstation weiter am Hackeschen Markt drängten sich die Berlinbesucher vor den neueröffneten Cafés. In der Galerie Borgemeister waren schwarz/weiß Perspektivenarbeiten zu sehen, aber kein Galerist zu sprechen. In der Architekturgalerie nebenan, war das Modell des Gartens im Wandel für die Expo Hannover 2000 zu sehen. Eine hervorragende Arbeit!
In der Buchhandlung zeigte sie kurz dem Buchhändler, welches Merve-Buch er zur jetzigen Zeit im Umbruch am besten verkaufen könnte (Poker im Osten), und ihrem Compagnon zeigte sie noch den Engelspalast, wo die im Feuilleton vielbeachteten ostberliner Jungregisseure als Politclowns verkehrten. Die Heimfahrt mit dem Bus war verstellt von einer Rollstuhlfahrer-Demo. Schließlich wieder angekommen in ihrem Stadtteil Schöneberg empfängt sie der Türkenmarkt mit seinen melodiösen Händlerrufen heimisch.

Sonntag, 22. März 1998. Videoaufzeichnung des taiwanesischen Films Meister des Puppenspiels des Regisseurs Hou Hsiao-Hsien aus dem Jahre 1993 angeschaut. Eine Familiensaga in epischer Breite, ein visionäres Gleichnis des Lebens. Die Bilder wie Gemälde holländischer Meister, die Interieurs in rot, gelb, dunkelbraun gehalten. Dazwischen Landschaftsbilder wie die Courbets. Sie läßt sich von dem Strom der Klänge und Bilder tragen.

Lektüre von Ludwig Binswanger Traum und Existenz, Bern 1930 Erstveröffentlichung:
– fassungslose Enttäuschung; das Wesen der jähen Enttäuschung und des Entsetzens ist, daß die Eintracht mit Um- und Mitwelt, die uns bis dahin trug, plötzlich einen Stoß erlitt
– Bei jähem Entsetzen tritt ein Tonus- oder Spannungsverlust unserer quergestreiften Muskulatur ein, daher eine Bedrohung der aufrechten Körperhaltung, als ein körperliches Wanken, Straucheln oder Fallen wahrgenommen … der Eindruck, daß man auf schwachen Füßen steht, weil die Eintracht mit der Welt einen Riß bekam.
– Unser Blick wird von leidenschaftlichen Hoffnungen, Wünschen und Erwartungen “umnebelt”.
–  … als ein Glücklichseiendes steigt, als ein Unglücklichseiendes fällt
– Die Träume gehören in den Bereich der Nacht und der Erde, sie sind selber Dämonen, bewohnen ein eigenes Revier und bilden sogar einen eigenen Stamm.
– Das eigentliche Wachsein ist für Heraklit das Erwecktsein aus einer Privatmeinung (Doxa), dem subjektiven Dafürhalten.
– Die Erweckung des Sinns für die Unendlichkeit
– Träumen heißt, ich weiß nicht, wie mir geschieht, während man wachend Lebensgeschichte macht.

Vorwort von Michel Foucault dazu:
– Eine Anthropologie der Imagination
– Eine Methode der Wahrscheinlichkeitsverstärkung wie bei der Dechiffrierung geheimer Codes
– Als Imaginationsmenschen konnten die Hebräer nur die Sprache der Bilder verstehen; als Passionsmenschen konnten sie nur durch Leidenschaften mitteilende Schreckens- und Zornesträume unterworfen werden. Das prophetische Traumgesicht ist gleichsam der indirekte Weg der Philosophie.
– … und was man glaubt, es sei geschehen, kann man von weitem erst kommen sehen …
– … enthüllt der Traum paradoxerweise die Bewegung der Freiheit auf die Welt hin … diese Bewegung der ursprünglichen Einsamkeit
– Der Traum ist das erste Bild der Poesie … ist das Träumen freie Schöpfung, Selbsterfüllung
– Die epische Dichtung, die Lyrik, die tragische Darstellung (S. 71)
– Das Träumen ist nicht eine Modalität der Imagination, sondern deren erste Möglichkeitsbedingung.
– Die Abwesenheit umschreibt die Bewegung meiner Imagination.
– Imaginieren heißt die Welt werden, wo er [der Andere] ist.
– In der Imagination bin ich mir selber ausgeliefert, kann ich das Gesetz meines Herzens entziffern.
– Die Imagination verwandelt den Gegenstand der Wahrnehmung in einen Gegenstand der Betrachtung, und damit setzt sich der Realismus der Unwirklichkeit durch.
– Der Wert der dichterischen Imagination bemißt sich nach der inneren Zerstörungsmacht des Bildes.

23.-27. März 1998. Betriebsamkeit. Redaktionelle Bearbeitung der Blanchot-Übersetzung La folie par excellence mit Hanns Zischler. Treffen mit Manfred Klauß wegen Musikkassetten-Austausch, Vertretersitzung mit Gabriela Wachter, Vorbereitung der Video-Edition PAROLE zusammen mit Tobias Hauser für München, Gespräch mit Robert Cailloux im SAVO, Ersaufen der Arbeitshektik mit 3 Glas Rotwein in der Bar von MISTER HU, Quartalsbuchhaltung erledigt, Einladungen für Fotoausstellung hergestellt und versandt, Verlag ausgeräumt für Fotoausstellung von Annette Kiesling, komplette Herbstvorschau getextet und gelayoutet sowie Leseproben für die Vertreter zusammengestellt …
Leseproben-Zitatologie von Aurel Schmidt Von Raum zu Raum.

Samstag, 28. März 1998 mittags 12 Uhr. Das vorbestellte Exemplar von Rainald Goetz’ Buch RAVE ist eingetroffen. Hastige Lektüre des schönen roten Buchs mit dem falschen Autorennamen (Reinald) bis 20 Uhr. Niederschmetternd!
Danach Ausstellungseröffnung Neue Absichten, Fotos von Annette Kiesling mit Einleitungsrede von Hanns Zischler in der Verlagsetage. Rund 100 Freunde und Bekannte tummeln sich angeregt unterhaltend für 3 Stunden in der hell erleuchteten Etage. Sie zeigt Hamid [Ludin] das Buch über Melancholie und Zeit und handelt einen Preis für den Verkauf des Grimm-Lexikons aus; sie macht Marianne [Karbe] mit Hannes [Böhringer] bekannt wegen seines Textes zum Thema “Bewahren – Vernichten”, worüber Marianne gerade eine Rundfunksendung macht; sie rät Barbara Feldman, die Violonistin Mary Oliver zu ihrem Konzert in Holland einzuladen; mit Peter Bexte verabredet sie einen Termin für seinen Vortrag über Michel Serres im Mai; Christian Bertram übergibt sie die versprochene Tonbandüberspielung; Birger [Ollrogge] zeigt sie das Buch über das Vergessen mit der interessanten Zitatologie. Als der Wein zur Neige geht, zieht noch ein Troß mit ihr um die Ecke in die Schwulenbar Anderes Ufer, wo sie dann erst so richtig in Fahrt kommt.

Sonntag, 29. März 1998. Zwei Stunden Partyreste aufräumen, das Arbeitswerkzeug wieder zurechtlegen. Dabei munteres Gespräch mit ihrem Compagnon über den vergangenen Abend. Wer mit wem was verabredet hat usw. Dann Fortsetzung und Beendigung der Lektüre von Goetz’ Buch RAVE. In seinem Werkverzeichnis im Klappentext ist das Merve Buch mit Westbam korrekt verzeichnet. Darüber freut sie sich! Aber irgendwie ist sie enttäuscht darüber, daß alles so eine kaputte Szene ist, oder geworden ist. Die Hervorhebung des Kaputten ist wie eine Ohrfeige für die Macher der Szene. Immer wieder blättert sie darin nach einzelnen Stellen, um zu überprüfen, ob sie sich nicht verlesen hat oder doch noch mehr den Zeilen zu entnehmen ist.

Irgendwie angeschlagen macht sie sich dann bei strahlendem warmem Sonnenschein nachmittags mit der S-Bahn auf nach Mitte, zur Galerie Bruno Brunett, der Vernissage von Raymond Pettibon, aber ein Blick genügt, um zu erkennen, daß irgendwie alles abgekupfert ist, selbst wenn es als Kommentar auf vorhandene Kunststile gemeint ist. Sie unterhält sich mit [Manfred] Hermes über seine Architektur-Fotografie und wartet vergeblich auf Johannes Gachnang, der sie doch eigentlich zu diesem Treffen hierher bestellt hatte. Bruno meint, Johannes sei gestern schwer versackt. Naja, dann braucht sie auch nicht länger auf ihn zu warten. Sie dreht bei, heimwärts.

Treffen mit Andreas Hiepko wegen Titelwahl für den Jeudy-Band: Städtebilder, Streifzüge, Stadterfahrungen? – Treffen mit Henning Schmidgen wegen Textkürzungen seines Klappentextes zum Jaspers-Band. Sie weiß zwar, daß der sachliche Zusammenhang, in den sie das Buch stellen wollen – den weitverzweigten Diskussionszusammenhang um Blanchot, Foucault, Derrida, Laplanche, Klossowski –  in Kürze schwierig darstellbar ist, aber irgendwie vermißt sie auch die Begeisterung für diese herrlichen Verrückten, die doch die Hauptrolle in diesem Buch spielen.

Nachts zweite komplette Lektüre von RAVE ohne Besserung der diffusen Niedergeschlagenheit, die das Buch bei ihr ausgelöst hat. Es bleibt ein rigoroses, niederschmetterndes Buch. Brillant in seiner Erzähltechnik, die Vielheit der Autorenpersonen, die Zeitkonstruktionen, die Schnitte, der Perspektivenwechsel. … der stereotype Wortschatz, toll der Klang und Rhythmus des Erzählten, der Duktus. Trotzdem kam ihr Goetz’ Begeisterung für das Nachtleben irgendwie überholt vor. Diese Welt lag zeitversetzt mehr als 10 Jahre hinter ihr. Gerade weil Goetz ein wahrhafter Dichter ist, hätte sie ein anderes Ambiente, eine andere Themenwahl gewünscht.

Dienstag, 31. März 1998. Rainald Goetz’ Tagebuch ABFALL FÜR ALLE komplett aus dem Internet runtergeladen/ausgedruckt. Nachts komplette Lektüre der prallgefüllten 121 Seiten. Unangenehm ist ihr nur der aufgedrängte Voyeursblick in seine “Stube”, wann er Wäsche wäscht und so weiter, interessant seine Notate/Reflexionen zur eigenen Schreibpraxis, seine Vorbereitungen auf seine Poetikveranstaltungen in Frankfurt. Nur das Internet hat folgenden Nachteil: “Die Unmöglichkeit der Antwort und der Vergeltung … darauf beruht das Machtpotential.”
(Baudrillard Der symbolische Tausch und der Tod)

Mittwoch, 1. April 1998. Abreise von Peter nach Thailand für 4 Wochen. Computer-Drucker streikt. Konfusion. Goetz vermeldet im Internet den Abschluß seines Jeff Koons-Stücks.

Donnerstag, 2. April 1998. Im Briefkasten lagen am Morgen der fertige Ausdruck der Blanchot-Übersetzung von Henning Schmidgen und der fertige Satz des Jaspers-Buches. Sie reparierte zwei Stunden lang mit Erfolg ihren Computerdrucker, las dann die letzten Seiten Korrektur.

Um eins kam Thomas Gabler, für den sie die Disketten abspeicherte und mit dem sie das Seiten-Layout des Jaspers-Buches besprach. Kurz darauf kam Hamid Ludin eilig vorbei und holte für 500,- DM das Grimm-Wörterbuch ab, dann kam Annette Kiesling mit einem roten Tulpenstrauß und hängte das heruntergefallene Bild wieder auf. Ihre Foto-Recherchen in Sachen Architektur hatten einen ziemlich harten Kern von Realismus. Der Vertreter Michael Klein sagt sich aus München an. Dann kam 16:30 Uhr Nils Roeller aus Köln und brachte die CD von Thomas Brinkmann mit den geklauten Merve-Autoren-Stimmen-Zitaten (ohne jegliche Quellenangaben), dann vermeldete sie Manfred Klauß und Claudia vom Flyer die eingetroffenen Kittler+Computer-Bücher und dann radelte sie zur Mieter-Versammlung, um zu erfahren, daß sie langfri­stig, aber doch möglichst bald, aus ihrer jetzigen Wohnung ausziehen müßte. Danach fuhr sie mit der S-Bahn raus nach Lichterfelde und verbrachte den Rest des Abends im Rahmen der Familie ihrer Schwester beim Bier.

Freitag, 3. April 1998.  Tagsüber nervöse Hektik. Liebes Fax von Peter aus Thailand. Abends Lektüre von Wolfgang Tonninger’s Magisterarbeit über Rainald Goetz Wer kennt Rainald G. Über die diskursive Position des Literaten an der Grenze von Literatur, die Tonninger in Auszügen zusammen mit einem Bewerbungsschreiben für ein Verlagslektorat am 25. März geschickt hatte.

Zitate daraus:
“2.2. Die Inszenierung der Person
– … nicht die des Erzählers als einer scharf umrissenen konkreten Figur, sondern die des in unzählige Rollen zersplitterten Autors …
– … der Autor in einer konsequenten Selbstinszenierung innerhalb des Kulturbetriebstheaters …
– Der Privatmann Rainald Goetz hat für den Germanisten wenig Aufschlußreiches, ja ist für ihn nur erreichbar, wenn er von seiner Profession absieht und den dafür allein möglichen Rahmen der ‘Enthüllungen’ in Kauf nimmt: die Boulevardpresse.
– sein biographischer Hintergrund ist lediglich Erfahrungsreservoir …
– Sich als Zeichen ernst nehmen, in dem es Realitäten produziert bzw. sich als Realität inszeniert …

2.3. Das Leben als Inszenierung
– … Fiktionalisierung von Wirklichkeit und Realisierung von Literatur
– … ein Vorgang, in dem sich das Leben selbst als Text schreibt; die Simulation des Lebens ist vom ‘wirklichen’ Leben nicht zu unterscheiden …
– … wie jener Riß auf der Stirn des Rainald G. nicht nur ein Zeichen des Wahnsinns ist, sondern eben auch wahnsinniger Riß.”

Im Tonninger-Text finden sich zwei wichtige Quellenhinweise zum Gebrauch des Wortes “Ahoi” bei Goetz (in seinem Roman Irre auf Seite 298 + in den Lied-Texten der Musik-Gruppe Palais Schaumburg, die als Motto dem Roman Irre vorangestellt sind). Dem Hinweis muß sie nachgehen, da Goetz’ Fax-Antwort auf ihre Shanghai-Postkarte lautete: “Shanghai Ahoi”.

Spät nachts dann nochmalige Lektüre des Blanchot-Textes Der Wahnsinn par excellence.
Zitate daraus:
“- der Appell an die eigene Existenz drängt uns dazu, uns selbst gegenüber dem, was unzugänglich bleibt, zu verändern.
– Hölderlin nennt die Philosophie traurig das Hospital, in das sich der verunglückte Poet immer noch mit Ehren flüchten kann.
– Den Einzelgänger bekümmert nicht mehr seine Einsamkeit, denn er verbleibt jetzt in der Welt, die er selber erschaffen oder geschaffen hat.
– Hölderlin: ‘dem Geistigen sein Leben, dem Lebendigen seine Gestalt.’
– Hölderlin: ‘nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.’
– Denn nicht immer vermag der Mensch die Fülle zu ertragen.”

Nach der Lektüre überlegte sie, ob sie Goetz für das geplante Burghölzli [Psychiatrische Universitätsklinik Zürich]-Projekt Den Wahnsinn denken einladen sollte: in seiner Eigenschaft als ehemaliger Psychiatriearzt, als Autor des Romans Irre und mit seinem eigenen Irresein.

Was sie von Goetz seit der Premiere von Krieg in Hamburg gelernt hatte, war seine Sprachkritik: das Hören auf die Floskeln, Klischees, Stereotypen der heutigen gesprochenen deutschen Sprache.
Seitdem hörte sie im Alltag bei der Begegnung mit Freunden und Bekannten diese Sprachgerüste, aus denen jede Person auf ihre eigene Art gemacht war. Stephan Richter fügte jedem Satz die rhetorische Frage an: “Verstehst Du?”. Die Schweizer hatten dafür ihr angehängtes fragendes “Oder?” und die Prollis lieben immernoch als Abschlußformel “Alles klar”. Und sie erinnerte sich, daß vor Jahren, als es ihr sehr schlecht ging, sie ständig sagte: “Macht nichts.” Jetzt hatte sich in ihrem Sprachgebrauch das bei Fußballern wie bei ihrer Schwester übliche “Ich denke mal” eingenistet. Jedenfalls hatte sie mit ihrem Compagnon nun ein Spiel einge­führt: Immer wenn er “Ding” sagte, sollte er eine Mark ins imaginäre Sparschwein werfen und sie desgleichen für die Floskel “Ich denke mal”; was übrigens zu einem variantenreichen Spiel sich auswuchs.

Was sie aber seit der Lektüre von RAVE bei Goetz nicht begriff war, daß er sich als Dichter wiederum in eine Szene begeben hatte, wo die Spracharmut eklatant war. Er hatte zwar dieser Nachtlebenwelt ihren speziellen Sound abgehört, und es traf auch zu, was neulich in der Süddeutschen Zeitung berichtet wurde, daß z.B. die Sprache der Drogentherapeuten, die auf Junkies geeicht waren, nicht griff für den ausgeflippten Techno-Raver, aber in dieser Welt gelangte er als Dichter doch nicht zu jener Sprachqualität, die sich dann wiederum via Goetz in die deutsche Sprache hätte einschreiben können, wovon übrigens Heiner Müller immer geträumt hatte. So gesehen gab es zwischen Krieg 1986/ 97 und RAVE 1998 die stereotype Wiederholung des gleichen Prinzips. Dabei gibt es in seinem Internet-Tagebuch vom 12. März 1998 einen Eintrag, der seine Qualität als Dichter hervorragend unter Beweis stellt und zeigt, daß es auch anders geht.

“Une expérience est toujours une fiction.” (Michel Foucault)

Sonntag, 5. April 1998. Fahrt nach Braunschweig, morgens hin, abends zurück. Mutter empfing sie am Bahnhof, wie immer sehr gepflegt und wach. Sie war eine kleine, sehr schmale, zarte und doch sehr energische Person. Sie fuhren zusammen ins Heim, wo Vater lag, von oben bis unten gelähmt und sprachunfähig. Sogenanntes Wachkoma, seit 4 Monaten.
Im Entrée unterschrieb sie die vorgegebenen Formeln für die nicht lebensverlängernden Maßnahmen. Als sie das ruhige helle sonnendurchflutete Zimmer betrat, lag er da und schlief friedlich. Sie ergriff seine Hand, die linke, die manchmal noch zitterte, und sprach ihn an. Nach etwa zehn Minuten ruhiger Rede kehrte er aus einer weiten Ferne zurück und öffnete die Augen. Und sie sah in seinen schönen braunen Augen, dem linken, daß er sie sah. Und während sie sich erkannten, Fleisch vom selben Fleisch, Auge in Auge, es dauerte Minuten, da ging ein zartes Lächeln über seinen geschlossenen Mund. Und sie sagte mit Worten die Freude, die sie beide empfanden. Dann schüttelte ihn ein Röcheln, das den ganzen Körper erfaßte, und sich über das offene Röhrchen in seinem Hals Luft machte. Mutter, die auf der anderen Seite des Bettes stand, tupfte krankenschwestergeübt den Schleim weg.
Dann schauten sie sich wieder vertraut in die Augen und sie sprach ihm von den Bäumen, die er liebte und von den Spaziergängen, die sie bei Wind und Wetter unternommen hatten. Und es lag ein ruhiges Einverständnis in seinem Blick. Manchmal, wenn Mutter etwas sagte, dann wanderte sein Blick auf die andere Seite, und er schaute skeptisch drein, so als wollte er sagen: ja, aber … – Sie hatte es gewußt, aber bis zu seinem Lächeln nicht so gewußt, welche innige Verbindung seinerseits bestand. Er hatte es eben nicht zeigen können. Da hatte also doch zu so später Stunde noch so etwas wie Einverständnis stattgefunden.
Als Vater wieder in tiefen Schlaf versunken war, ging sie mit Mutter zu Fuß ins nahegelegene Restaurant, einem Jugoslawen, der herzlichen Anteil an ihrem Schicksal nahm. Auf dem Weg dorthin schauten sie die Bäume an, wie sie gerade das erste Grün blicken ließen und sie fragten sich gegenseitig nach den Namen der Bäume.
Als sie dann auf der Heimfahrt nach Berlin im Zug saß, flossen doch ein paar Tränen, was ja keiner sehen konnte bei der neuen Sitzordnung. – Als sie in Berlin angekommen war und auf der U-Bahnstation stand, schien ihr, der Ernst des Lebens sei ihr ins Gesicht geschrieben und als sie um sich blickte, um zu erforschen, womit die Menschen so bepackt, beladen und beschäftigt seien, da gewahrte sie nur Banalitäten.

6.-12. April 1998. Allein im Verlag. Täglich Faxe an Peter in Thailand und Südchina. Täglich Tagebuch-Lektüre von Rainald Goetz im Internet. Tüchtiges Arbeiten:

Jaspers-Buch zum Druck befördert, Vertretersitzung mit Michael Klein aus München abgehalten, Gespräche mit Foto-Ausstellungsbesuchern Kai Völcker (Weimar) und Katja Eitel (Bielefeld), Ohrenarzt, Friseur, Kosmetik, Ausstellungsbesuch im Anderen Ufer, Kinofilm Wasted (über Sex&Drugs&techno). Brief an Derrida wegen Burghölzli-Projekt, Brief an Galerist Gögger wegen Münchner Ausstellungsprojekt, Ausstellungsbesuch der Skulpturen von Petra Wende in Berlin-Mitte mit Christian Bertram, Quartalsbuchhaltung beim Steuerberater eingegeben, Merve-Lager umgeschichtet, Jahresvergleichszahlen des Verlages errechnet, Besuch von Wilfried Gärtner aus Kassel, Frühjahrsputz in der eigenen Wohnung, komplettes privates Adressbuch erneuert …

Ostermontag, 13. April 1998. Brief an Rainald Goetz:
“Guten Morgen lieber Rainald, frohe Ostern!

Es ist mir zur lieben Gewohnheit geworden, morgens Deine ABFÄLLE vom Vortag aus dem Internet zu lesen. Mal abgesehen davon, daß ich dann weiß, wie es Dir geht und was Du so machst und tust und treibst, interessiert mich Deine sogenannte PRAXIS, die Vorbereitung auf Deine Frankfurter Poetik” Vorlesungen”. Da ich ja nicht nach Frankfurt reisen kann, sage ich Dir im Vorfeld, was mich als Zuhörer interessieren würde:

– zur ICH-Form und der Vervielfältigung der eigenen Person in mehrere Figuren. Deleuze würde sagen “Ich bin mehrere”. Inwieweit wird die eigene Person zur Figur? (Ich habe nicht den Mut, in Ich-Form zu schreiben)
– zur Gattungs-Poetik: Roman, Erzählung, Stück. Welches Sujet erfordert welche Form? Warum ist Roman so schwierig? (Deshalb schreibe ich blöde Tagebücher, weil mir das Epische nicht gelingt.)
– zur Zeitkonstruktion, sprich Gegenwarts-Form. (Mir gelingt die Gegenwarts-Form nicht)
– zum Realismus-Begriff: wenn man gelebte Geschichten aus der Jetzt-Zeit schreibt, was passiert dann mit dem Reservoir der eigenen Erfahrung? Kehrt sich das Verhältnis nicht um, und alles Gelebte wird zum Material degradiert und man lebt für seine Geschichten?
– zu den Aufschreibsystemen: Verhältnis handschriftlich mit Füller und maschinenschriftlich mit Computer. Genauere Beschreibung zum Umgang mit dem Computer, der Gebrauch der copy/paste-Funktion, wieviele/welche Material-Dateien werden angelegt, wird am Bildschirm oder am Ausdruck Korrektur gelesen … (ich muß immernoch erst handschriftlich aufschreiben, weil die Langsamkeit im Vorfeld siebt, bevor die Wörter auf dem Blatt erscheinen)

Fragen, Fragen. Nimm sie vielleicht als Anregungen.
Einen ruhigen schaffensreichen Tag wünscht Dir ganz herzlich
Heidi
P.S. Lese gerade mit Gewinn Foucault’s Vorwort zu Binswanger’s Traum und Existenz zum Thema Imagination versus Bilder (Verlag Gachnang&Springer, Bern-Berlin 1992).”

Lektüre von Michel Foucault Psychologie und Geisteskrankheit, darin wichtige Hinweise auf Jaspers und Binswanger gefunden.

Lektüre von Konfuzius Gespräche:
– Ist der Grund gefestigt, öffnet sich der rechte Weg.
– Stütze dich auf jene, die dir immer nahestehen werden, dann hast du einen
zuverlässigen Halt.
– Etwas zu mögen ist besser, als es nur zu kennen. Noch besser ist es aber, dadurch
Freude zu gewinnen.
– Vier Dinge lehrt der Meister Die alten Schriften verstehen, richtig handeln, treu
und  standfest sein, aufrichtig und glaubwürdig sein.
– Verschwendung ruft Unordnung hervor, Sparsamkeit führt zur Einfachheit.
Einfachheit ist besser als Unordnung.
– Der Edle ist ausgeglichen und innerlich ruhig; der Gemeine hingegen ist innerlich
verkrampft und lebt stets in Nöten und Ängsten.
– Sich selbst überwinden, die eigenen Wünsche und Begierden bezwingen, sich von
Anstand, Höflichkeit und guten Sitten leiten lassen, das ist sittliches Verhalten.
– Wie soll man einen guten Freund behandeln: Ihm treu zur Seite stehen, ehrlich
raten und ihn taktvoll zum Guten führen. Will er dir nicht folgen, dann laß ihn.
Vermeide so, dich selbst zu beschämen.
– Wenn man einen Menschen liebt, wie sollte man dann nicht um ihn besorgt sein?
Ist man einem anderen verbunden, wie sollte man ihn dann nicht stets zum
Guten  ermahnen?
– Der Edle schämt sich, wenn seine Worte seine Taten übertreffen.
– Zum Weg des Edlen gehört dreierlei:
Richtiges Verhalten zu anderen Menschen: es  befreit von Sorgen.
Weisheit: sie bewahrt vor Zweifeln.
Entschlossenheit: sie überwindet die Furcht.
– Wenn der Edle in Not ist, erträgt er sie standhaft. Ist der gewöhnliche Mensch in
Not, dann verliert er die Fassung.
– Wie man sich benehmen sollte, um überall zurechtzukommen. Offen und ehrlich
reden, redlich und pflichtbewußt handeln – damit kommst du selbst bei den
Barbaren zurecht.
– Wer nicht an die Zukunft denkt, wird bald Sorgen haben.
– Der Edle fordert sich selbst. Der Gemeine fordert von anderen.
– Geht man unterschiedliche Wege, dann kann man einander keine Ratschläge
geben.
– Neun Dinge sind es, auf die der Edle sorgsam achtet:
Beim Sehen achtet er auf Klarheit, beim Hören auf Deutlichkeit,
in seiner Miene auf Freundlichkeit,  im Benehmen achtet er auf Höflichkeit,
im Reden auf  Ehrlichkeit, im Handeln auf Gewissenhaftigkeit. Wenn ihm Zweifel
kommen, fragt er andere. Ist er im Zorn, bedenkt er die Folgen. Angesichts eines
persönlichen Vorteils fragt er sich, ob er auch ein Anrecht darauf hat.
– Immer offen und freimütig sein wollen, aber keine Bildung haben:
das führt zu Grobheit.
– Konfuzius sprach: ‘Ich möchte meine Zeit nicht mit Reden verbringen.
Ein Beamter sollte die Zeit, die ihm frei bleibt, zum Lernen verwenden.
Ein Lernender sollte die  Zeit, die ihm frei bleibt, für ein Amt verwenden’.

Ostermontag, 13. April 1998 abends. Seit 14 Tagen zum ersten Mal ein Fernsehabend: Cassavetes’ Film New York New York, die Geschichte eines Musikerpaares, bei der die Frau tüchtiger ist als der Mann, der es nicht merkt; Gespräch zwischen Helmut Schmidt und Helmut Kohl zum Ende des Jahrhunderts – wenig aussagefähig, sehr privatistisch und eitel; Film Die barfüßige Gräfin mit Humphrey Bogart – sie erkennt sich in der gespaltenen Leidenschaft der Hauptdarstellerin. Mit einer Flasche Rotwein wird ihr eigenes Desaster ertränkt.

Montag, 20. April 1998. Seit 20 Tagen allein: Verlagstätigkeit. Ihr Compagnon Peter ist in den südchinesischen Bergen unterwegs. Es ist mühsam und einsam. Begegnungen mit Freunden zu Regina Poly’s Ausstellungseröffnung bei der Galerie Aedes ist enttäuschend, da sie nicht einmal einen wohlverdienten Ausstellungskatalog geschenkt bekam, der Ausflug mit ihrer Freundin Almuth [Carstens] in den Hamburger Bahnhof zum 15. Jubiläum der “Freunde Guter Musik” ist ebenfalls enttäuschend: 30,- DM Eintritt für ein freejazzartiges Happening-Fluxus-Arrangement, als wenn sie noch in den 60er Jahren leben würden.
Kein Echo in der Presse auf die Verlagsfrühjahrsproduktion. Irgendwie beschleicht sie das massive Gefühl der Vergeblichkeit allen Tuns.

Mittwoch, 22. April 1998. Brief an Peter in Chiang Mai, Thailand:
“Lieber Peter, laß mich ein bißchen mit Dir reden, weil es sonst so still hier ist.
Mir fehlt Deine Stimme, deine ruhige und beruhigende Stimme, die in einem stetigen Fluß auf mich einredet. Dein Zutrauen. Ich bin müde und durch die Spritze wieder in einem fürchterlich unruhigen Zustand. Wenn ich laufe, ist es wie auf Watte.
Ich kann mich nicht aufraffen, irgendetwas zu tun.
Ich weiß, ich habe keinen Grund zur Klage. Bislang haben wir unser Auskommen und ein schönes Leben. Mit Dir kann ich es genießen, aber allein …
Bin ein wenig im Kleistpark spazieren gegangen, habe mich dort auf eine Parkbank gesetzt und die Empfindsame Reise von Laurence Sterne begonnen zu lesen.
Sehr schnörkelhafter betulicher Stil. Dann habe ich mich draußen in die Sonne der Feinbäckerei gesetzt und Käsespätzle zur Unzeit verspeist: nachmittags halb vier. Nun bin ich in den Verlag zurückgekehrt und schreibe Dir. Was soll ich sagen? Die Zeit wird so unsäglich lang allein. Dir zu schreiben, tut wohl. Daß Du da in der Ferne ansprechbar bist, ist schon merkwürdig und erfreulich.
Und daß aus der Ferne Deine Stimme zu mir dringen kann, ist noch erfreulicher.
So sei heute lieb umarmt
von Deiner Heidi.

Und da bin ich schon wieder, lieber Peter, Deine Stimme aus dem Off. Hatte gerade die Sozialgeschichte der Stars in Händen, die schönen alten Filmbilder, und dabei fielen mir die Kinokarten vom diesjährigen Filmfestival in die Hände und es fiel mir Dein alter Uni-Filmclub und Deine Bekanntschaft mit Ulrich Gregor ein. Und weißt Du noch, wie Foucault im Arsenal aufgetreten ist und jemand fragte, ob der Film Ich, Pierre Rivière … nicht antifeministisch sei, und Foucault ganz verlegen meinte, es sei doch eine tatsächliche Begebenheit im Film geschildert worden, die sei nun mal so:  die Geschichte.
Es bleiben die Erinnerungen. Darum habe ich auch wieder ein Heidi+Peter-
Fotoalbum begonnen. Lustige Bilder: Du und ich und ich und Du. Sonst niemand. Schon merkwürdig. Zu dem großen Chinaalbum konnte ich mich noch nicht durchringen. Draußen zwitschern die Vögel. Von Ferne rauscht der Verkehr.
Die Wespen suchen sich im Gemäuer ihr Nest. Die Uhr tickt. Im Hof spielen zwei Kinder. Das Fenster klappert. Jemand macht die Mülltonne zu. Die S-Bahn fährt vorbei. Die frühlingshafte Lautatmosphäre. Ein weitgedehnter luftiger hellblauer Raum. Ganz rein, gülden, seidig.
So nun heißt es wieder ab die Post
herzlich Deine Heidi”

Donnerstag, 23. April 1998. Ihr ging es wie einem Maler. Man kann nicht immer ein gelungenes Bild malen. Manchmal kann man überhaupt nicht malen. Dann leidet man schrecklich. Die Poesie ist davon geflogen, die Inspirationsquelle. Ihr fehlte zum Schreiben ein Modell. Da stellte sich die Reinheit einer einsamen japanischen Flöte ein. Leichte Einsamkeit, nicht schwere. Aber nicht frei von Tragik.
Sie hing der Lektüre von Melancholie und Zeit von Toshiaki Kobayashi nach. Nicht wegen der Melancholie, die sie vor zehn Jahren abgelegt hatte, sondern wegen der Zeit, die seitdem vergangen war. Manche Biographien bestechen ja gerade wegen der Löcher im Leben, in denen scheinbar nichts Markantes geschah, und die gerade deswegen so schwer zu durchleben sind. Zeiten, in denen sich Türen und Fenster des Wachbewußtseins schließen.
Von diesen Perioden, Phasen, Schüben spricht in plastischer Weise Kobayashi, auch wenn man sich ein bißchen lang durch Lesefrüchte quälen muß: Freud, Bergson, Binswanger, Jaspers.
Sie verdankt diesem Buch aufschlußreiche Hinweise zum Prozeßcharakter der gelebten Zeit, der sogenannten Erfahrung. Besonders der Hinweis auf die Dauer, die einem jeden Werden innewohnt, ein Werden auf das Gilles Deleuze rekurriert, das er aber Bergson’s Materie und Gedächtnis und Denken und schöpferisches Werden entnimmt. Schön das Eingeständnis des japanischen Autors Kobayashi, daß die japanische Mentalität im Grunde eine melancholische ist. Und aufschlußreich der Hinweis auf das japanische Zeichen “Zwischen”, das auch “Pause” meint. Vielleicht ist ja die Zeit, in der wir leben, nicht unbedingt melancholisch, sondern eine Zeit der Pause, der Umgestaltung, des “Zwischen”.

Freitag, 24. April 1998. Sie hatte Manfred’s [Klauß] japanische Meditationsmusik eingelegt. Es war 18 Uhr, die Sonne spiegelte sich warm und gütig in der gegenüberliegenden Häuserzeile. Beim dritten Glas Bier senkte sich allmählich die Unruhe des Tages. Die gesäten Wicken reckten ihre kräftigen Sprößlinge zum Licht. Sie hatte eine Einladungskarte für einen Büchertrödel entworfen, da ein Drittel der Verlags-Bibliothek wegen Umbaumaßnahmen weichen mußte. Diesen Entwurf schickte sie wehmütig ihrem Compagnon zu seinem 62. Geburtstag per Fax nach Thailand. Noch immer senkte sich die Sonne in Zeitlupe und noch immer erscholl die einsame japanische Flöte durch die Fabriketage.
Thomas Gabler rief an, ob er noch Bücher für den Kneipenverkauf abholen könne. Sie ließ den Anrufbeantworter unbeantwortet.
Jean-François Lyotard war in der Nacht vom 20. zum 21. April 1998 an einer zweiten Leukämie-Attacke gestorben, wie Clemens Haerle aus Paris am 22. April abends telefonisch vermeldete. Dabei hatte sie die Nachtricht per Info-Radio schon am 21. April morgens vernommen. Das Telefon klingelte seitdem und die Radiostationen wollten Herrn Gentsch oder Herrn Geble sprechen. Nachdem sie die Redakteure aufgeklärt hatte, daß Verleger Gente nicht zu sprechen sei, kein Ton mehr. Die Hilflosigkeiten der Nachrichten-Agenturen eben.
In der Frankfurter Allgemeinen und der Süddeutschen von Gumbrecht und Joseph Vogl korrekte Nachrufe, nur ohne Gespür für Lyotard’s So-Sein.
Sie schrieb einen Trauerbrief an Lyotard’s ehemalige Frau Andrée.
Sie gewann dem leeren Raum und der einsamen Flöte ein paar luftige Zeitlupentanzschritte ab – Raum und Bewegung – sonst nichts.
Die Vögel draußen stritten um die Wette plötzlich bei sinkender Sonne. Allmählich zwitscherten dann nur noch einzelne. Wie beim Älterwerden. – Nach dem sechsten Bier legte sie zur Abwechslung die indonesisch einschmeichelnde Festtagsmusik auf, die so fröhlich über die Reisfeldterrassen dahintrabte wie die Enten dort. Unbeschwerte Leichtigkeit. Und sie erinnerte sich daran, wie sie stundenlang bei einem Glas Ingwertee diesem Treiben hatte zusehen können, damals vor Jahren auf Bali. In völliger Ausgeglichenheit. Hier dagegen quälte sie sogar der breitausladende Korbsessel. Sie holte sich ein dickes Federbett und verfrachtete es in den Opasessel. Schon besser! Sie öffnete die enge Kleidung. Schon wohler! Die Pappel warf auf die gegenüberliegende Hauswand allmählich ihre Schatten. Ruhe. Muße.

Sonntag, 26. April 1998. Fax an Peter in Thailand:
“Lieber Peter, soeben retour aus Gießen und Braunschweig.
Die Prolit-Vertretersitzung war mit einer Stunde sehr knapp zum Vorstellen des Herbstprogramms, zu knapp für eine wirkliche Resonanz der Vertreter.
Ein paar Verbesserungsvorschläge gab es dann doch.
Eberwein war aus Krankheitsgründen ausgefallen, so war es ohnehin eine Schrumpf-Sitzung mit Hörnemann, Scappini und Monika von Prolit. Das allgemeine “legendäre” Abendessen mit Michael, Jochen, Eckbert, Alfred war ganz locker. Thilo hat Geburtstag gefeiert, Herr Tell hat den großen Affen gemacht mit seiner großen Polit-Vergangenheit. War aber alles erträglich. Wohnte bei Monika Pankratz und ihrem Mann Michael, der sehr große Stücke auf uns hält und noch nachts um 2 Uhr ein großes Loblied auf Merve angestimmt hat.
Morgens dann verschlafen und im Eiltempo zur Bummelbahn nach Kassel, dann Braunschweig:
Mutters Empfang, Vaters Besuch. Natürlich traurig sein Zustand. Dann bin ich doch über Nacht geblieben, der Mutter zuliebe. Mit viel Weißwein die alten Geschichten nochmal und nochmal angehört. Jaja, das Altwerden. Auch so ein großes Kapitel.
Ein Fleurop-Auftrag zum Begräbnis von Lyotard hat leider nicht geklappt, unser Blumengeschäft hatte morgens bei meiner Abfahrt nach Gießen noch nicht geöffnet, der Bahnhof-Zoo und der Bahnhof-Gießen hatten keine Fleuropstation und eine telefonische Beauftragung von Prolit aus war zu spät für eine Schleife. Habe aber einen langen Brief an Andrée Lyotard an die alte Adresse geschrieben und hoffe, er erfüllt seinen Zweck. Zwei Radio-Stationen hatten sich hier auch erkundigt, habe ihnen wenigstens die lieferbaren Titel gefaxt. In den beiden Nachrufen, FAZ + Süddeutsche sind unsere Titel leider nicht erwähnt. Dafür hat Ulrich Raulff den Foucault-Band Vom Licht des Krieges in einer Rezension des ersten, in französisch erschienenen Foucault-Vorlesungsbandes erwähnt. Von Walter Seitter’s Buch Physik des Daseins gab es auch eine Besprechung in der Süddeutschen.
Ansonsten ist Ebbe in der Presselandschaft.
Eben schwebt eine feine reine einsame japanische Flöte durch den luftigen Verlagsraum, eine Aufzeichnung von Manfred. Entspricht meiner Sonntagnachmittagsstimmung.
Ein Blick in die Karten sagt mir, daß Du ja erst am 1. Mai zurückkommst und nicht, wie von mir angenommen, am 30. April. Jedenfalls erwarte ich Dich schon sehnsüchtig. Mutter hat mir auch einen Geburtstagsumschlag für Dich mitgegeben. Vielleicht schreibst du ihr ja noch: Sielkamp 10, 38012 Braunschweig. Sie hat mir auch eine alte Postkarte von Deiner Weltreise gezeigt. Wird alles daheim wohlverwahrt. Habe mir ein altes Vogelbuch von meinem Vater aus dem Jahre 1936 mitgebracht, darin hat er immer nachgeschaut, sein Leben lang, wenn er eine Vogelsorte noch nicht so ganz genau kannte. Das alte Baumbuch dagegen, habe ich in der Elternbibliothek nicht mehr gefunden. Schade. Hast Du eigentlich einmal das Kapitel über die Bäume bei Ernst Jünger gelesen? Ein Gedicht! Weißt Du übrigens, daß ich Dir 1983 Ernst Jünger’s Auf den Marmorklippen geschenkt habe mit der Widmung “Jetzt nahen wir uns dem Geheimnis”. Köstlich!
Ernst Jünger ist ein Autor, den ich wohl erst jetzt lesen kann und auch werde. Manchmal schon merkwürdig, welchen Weg durch die Zeit man nehmen muß, um bei etwas anzukommen, das bereits früher einmal auf dem Weg lag. Wir sollten mal wieder ein Buch zusammen lesen. Wüßtest Du eins? Somerset Maugham würde mich vielleicht reizen.
Wir sollten wirklich an der Komposition unserer Bibliothek arbeiten. Sorgsam auswählen den Bestand, die Aussagen über die Zeiten, die Fundstücke, die Wegbegleiter, der abstoßbare Schund, die Autorenbibliothek. Pflege des Bestandes.
Dirk Baecker hat Dir zum Geburtstag das Buch Die Erziehung des Henry Adams aus dem Antiquariat erstanden und geschickt. Sehr aufmerksam und stilvoll!
In den Büchern und mit den Büchern leben ist schon eine feine Sache. Darüber haben wir uns getroffen, darin haben wir unsere Gemeinsamkeit.Gerade war Nanae [Suzuki] zu Besuch und hat die Einladung für das Hamburg Symposion mit Ausstellung Umzug ins Offene Ende erster Maiwoche vorbeigebracht. Ich hoffe sehr, daß wir beide übers Wochenende dorthin fahren. Daniel Defert ist auch als Vortragender dabei. – Justus hat gerade angerufen und will mal vorbeikommen. Er ist aus Saarbrücken zurück.

So, nun sei lieb umarmt
von Deiner Heidi”

Wieviel Gestrüpp mußte man manchmal aus dem Weg räumen, bis man endlich zu seinem eigenen Weg fand. Darüber vergingen manchmal Jahre.- Justus war kurz angebunden, beinahe schlechter Laune. Seine Mutter war auf Intensivstation gekommen und er kümmerte sich nun täglich um seine alten Eltern. Eine gemeinsame Verständigung darüber erwiderte er nur unwillig. Er monierte den Parfümgeruch im Raum. Dann mahnte er die geliehene Musik-Kassette ein und das Geld für das handgeschöpfte Papier aus Mexiko, rauchte seine Ost-Zigarre kaum zu Ende und machte sich dann wieder auf den Weg, nachdem er ihr in Hamburg ein Hotel an der Reeperbahn beschrieben hatte.

Geh’ den Freunden nicht nach, wenn sie Deinem Rat nicht folgen, sagte sie sich, einer alten chinesischen Spruchweisheit folgend. Goettler hatte in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel über Rainald Goetz’ Internet-Tagebuch veröffentlicht, der das neue Monolog/Dialog-Prinzip mit der Maschine im Medium des schweigsamen Psychoanalytikers sah. Das aufgelöste Ich des Schreibers/Sprechers im Dialog mit dem Computer im antwortlosen Internet-Raum.

Sie telefonierte mit Andreas Hofbauer wegen der Notiz zum Tagebuch-Ich von Ingeborg Bachmann, die in deren Frankfurter Poetik-Vorlesung enthalten sein mußte, jedenfalls wenn sie dem Hinweis von Goetz folgen wollte. Wollte sie? Immerhin gab er einen Hinweis auf die Ich-Funktion des Schreibers, der Schreiberin.

Jeden Morgen und jeden Abend gab es dassselbe Ritual: den Schmuck an- und ablegen. Wie ein Krieger seine Rüstung. Den Armschmuck, den Halsschmuck, den Fingerschmuck. Fehlte nur noch der Ohrschmuck und die Brosche als Wappen.

Dienstag, 28. April 1998. Das letzte Fax war nach Thailand abgeschickt.
Peter machte sich nun über Bangkok und Warschau allmählich auf den Heimweg nach Berlin. Der Drucker lieferte die ersten 400 Berlin-Exemplare des neuen Jaspers-Buches. Die Merve-Buchdeckel zum Tapezieren eines Paravents waren nach München geschickt zur Galerie Christian Gögger, die zur Zeit die Merve-Video-Sonderedition PAROLE in einer Stückzahl von 100 Exemplaren herstellte in einer Aufmachung von Tobias Hauser. Die Süddeutsche Zeitung hatte in der Wochenendbeilage endlich eine Besprechung des Böhringer-Western-Buches gebracht. Der Rezensent Norbert Grob hatte das Besondere dieses Textgenres erfaßt und äußerte sich angenehm überrascht.
Heute begann Goetz seine Frankfurter Poetik-Vorträge, die er mündlich, nicht schriftlich vortragen wollte. Warum wechselte er für die traditionellen Vorlesungen das Genre? Seine sogenannte PRAXIS Dr. Wirr fand zur selben Stunde statt, da sie die jasperschen Pathographien ihrer geliebten verrückten Künstler Strindberg, Hölderlin und van Gogh durch den Drucker in Empfang nahm. Eine glückliche Fügung diese zeitliche und thematische Koinzidenz.

Sie las noch einmal in Foucault’s Ordnung des Diskurses, seiner Antrittsvorlesung am Collège de France aus dem Jahre 1970. Welche Klarsicht über die Stellung des Autors/Redners, und die Regeln, denen er in öffentlichen Institutionen unterliegt, Institutionen, die ihm Macht verleihen und ihn gleichzeitig entwaffnen. Und sie erinnerte sich, wie sie Foucault bei seinem Berlinbesuch anhand von Eierkuchen den Unterschied von “Echtem” und “Wahrem” erklärt hatte. Und wie er vor versammeltem Audimax durch ihre Stimme verlauten ließ, er sei nicht gewillt, vor dem Publikum zu sprechen, er sei von einem Ausflug nach Ostberlin ermüdet. Und als jemand der Zuhörerschaft daraufhin provokatorisch fragte, wie alt Foucault denn schon sei, er daraufhin, wieder durch ihren Mund, verlauten ließ: “200 Jahre!”

Die Brille von Foucault

Interview aus SOLO

© Ulrich Raulff, Tunix-Kongress TU Berlin, 1978

Die Musik von Leonard Cohen tanzte lässig durch den Raum. Sie schichtete einen kleinen Teil der Bibliothek um. Kippenberger wanderte ins Autorenhäuschen, daneben kam Kapielski zu stehen, daneben Goetz. Ihr gefiel die Zusammenstellung.

Mittwoch, 29. April 1998. Andreas Hofbauer hatte ihr freundlicherweise Ingeborg Bachmann’s Frankfurter Vorlesungen aus den Jahren 1959/60 aus der Bibliothek mitgebracht. Unter der Überschrift “Das schreibende Ich” fand sie folgende Bemerkungen zum Tagebuch-Ich:

“Gedanken, in einem Tagebuch notiert, sind annehmbar, nicht aber, wenn eine Romanfigur damit konsequenzlos belastet wird. Denn das Ich des Tagebuchschreibers, eines Schriftstellers, hat eine andere Trag- und Belastungsfähigkeit. Es ist ein Ich, das, wie bei André Gide, notieren darf, daß James zu Besuch war, daß eine Reise vorbereitet wird, es kann notieren, welche Bücher gelesen worden sind, welche zu lesen wären. Es spricht von Überlegungen, Kopfschmerzen, vom Wetter und kann im nächsten Augenblick einen Gedanken zur politischen oder literarischen Siituation äußern.
Obwohl das Tagebuch-Ich wahllos vorzugehen scheint, ist es von Natur wählerisch. Denn das Ich figuriert nicht etwa als der ganze André Gide, sondern es posiert, ich meine das nicht abschätzig, für den Schriftsteller Gide. Das Tagebuch-Ich hat auch die Besonderheit, daß es die Figur Ich nicht zu erschaffen braucht, genau so wenig wie das Brief-Ich. Es kann gar nicht anders denn als Ich einziehen in den Text. Es muß auch nichts von der Stelle bewegen, es bekommt keine Zusammenhänge aufgebürdet, es geht schrittweise vor und springt; es kann unterbrechen, alles berühren und alles wieder lassen. Denn dieses Ich zieht nicht als Leben, nicht dreidimensional in den Text ein.
Es hört sich an wie ein Widerspruch, weil die Tagebuchform doch als die subjektivste, unmittelbarste Gattung gilt. Und doch, trotz aller Subjektivität, trotz der intimen Äußerung und Mitteilung verbirgt es die Person. Es heißt ‘Ich’ und immerzu ‘Ich’ in den Tagebüchern, und doch ist auf eine unerklärliche Weise der Autor entrückt und hat Schutz gefunden hinter der Form, der Ich-Form, die verlangt ist. Das Tagebuch ist zwangsweise in Ich-Form. Der Roman, das Gedicht, sind es nicht.”

Freitag, 1. Mai 1998. Ihren Compagnon Peter am Flughafen abgeholt, er kam mit einer polnischen Airline inmitten lauter türkischer Familien. Schmal geworden, glücklich, es wieder einmal geschafft zu haben. Voller Geschichten. Dann im Verlag verspäteter Geburtstagsgabentisch mit Fliederstrauß und im Gegenzug seine Mitbringsel, der chinesische Buddha und die gewünschte Musik It’s a Wonderful World. Glück, Reden. Dann Festtagsessen: erster Mai mit erstem Spargel.
Nach 22 Stunden unterwegs ist er dann erschöpft. Sie läßt ihn allein, radelt aufs Unbestimmte heimwärts, kehrt unterwegs ein beim Griechen auf ein Glas Retsina in ihrer “Dorfstraße” bei Nachmittagssonne. Der Wirt spricht sie an, setzt sich dazu. Feierabendstimmung.

Immer ersehnt, immer schwierig: das Wiedersehen mit ihrem Compagnon. Zwei Welten prallen aufeinander. Seine Reise in den Süden Chinas, nach LiJiang, in die Bergwelt am Jangtsekiang-Fluß, in die altchinesischen Dörfer, die unberührte Landschaft: ein Traum, ein Abenteuer, bewundernswert. Dagegen ihre Verlagsarbeit voller Pläne, Vorhaben, die Welt des erfüllten Schaffens. Beide Welten im Einverständnis miteinander, füreinander.

Sie hatte für den ersten Mai, den Tag seiner Rückkehr und das anschließende Wochenende keine Vorhaben. Sie ließ ihn gewähren. Der schwierige Prozeß des Ankommens. Sie umsorgte ihn liebevoll, pflegte seine Wunden, hielt sich zurück, und während er im Rahmen der Rituale Zeitungsausschnitte durchblätterte, Post durchlas, machte sie sich still unsichtbar, überließ ihm das Feld, die wunderbar inspirierende Verlagsetage, zog sich zurück in ihre Junggesellenwohnung und versank in die Lektüre von Somerset Maugham’s Silbermond und Kupfermünze. Eigentlich ein Buch über den Maler Paul Gauguin, die psychologische Biographie eines Genies. Eine erbauliche Lektüre, weil sich der Blick weitete über den Alltag hinaus. Die bewunderswerte Entschlossenheit eines Menschen, nur seinem Werk zu leben.

Die Lektüre versetzte sie in ungefähr jene Lebensstimmung, in der sich ihr geliebter Compagnon Peter nach der Reise befand. Im Grunde würde er am liebsten seine Zelte in Europa abbrechen, den Verlag abgeben und in Asien für immer, den Rest seines Lebens, das Alter, verschwin­den. Aber was würde aus ihr? Die Witwe des Verlages?

Samstag, 2. Mai 1998. Sie begann die Bibliothek mit Peters Hilfe auszusortieren, neu zu ordnen, auf Kommendes hin zu entschlacken, für Fremde bereitzustellen, zum Beerben. Bei den Umräumarbeiten fand sie alte Zeitungen, alte Briefe, erste Annäherungsversuche an ihren heutigen Compagnon, voller Bange und zugleich Wunsch nach Halt in ihrer vertrackten versoffenen Existenz. Das war 1975/76. Sie war froh, dieser Welt entronnen zu sein, dieser dumpfen, sprachlosen Proleten-Säufer-Welt.
Mit Peter hatte sie eine eigene Welt erschaffen, die es nun galt zu pflegen, umzustrukturieren auf den neuen Lebensabschnitt hin: sein Alter und ihre Übernahme der Pflichten. Und sie fand gerade bei den alten Chinesen in Sitte und Bräuchen sich bestärkt. Demütig festhalten an dem Geschaffenen, an Pflicht und Treue.

Und dann stahl sie sich nachts um 22 Uhr aus dem Bett der Lektüre, spazierte in betonter Langsamkeit im Viertel umher, den Duft des frischen Frühlings genußvoll einsaugend, kehrte hier und dort in einer Bar ein. Saß dort nichtstuend für die Länge von 1-2 Glas Wein, segnende Müdigkeit erwartend, völlig entspannt.
Goetz’ erste Frankfurter Poetik-Vorstellung war in der FAZ besprochen worden. Sie sah ihn förmlich vor sich: total aufgelöst, nach Fassung ringend, ein wirrer Darsteller, den diese Rolle völ­lig überforderte. Sie war froh, diesem öffentlich anschaubaren Desaster nicht zuschauen zu müssen. Der offene Wahn im Hörsaal auf der Bühne, als Dichter-Provokation verkannt. Schrecklich. Grausam.
Um ihn aufzuheitern in seiner Zerfahrenheit sandte sie ihm eine musikali­sche Wortliste, etwas durchaus Komisches.

Montag, 4. Mai 1998. Mit Mühen begann sie die erste Woche im Mai eine Alltagsstruktur aufzubauen, die den anstehenden Aufgaben des Ver­lages einigermaßen nachkam. Thomas Kapielski brachte sein “Extra­blatt” als Sondervorschau für sein neues Buch bei Merve: komische Kunstfotos mit komischen Sprüchen. Kapielski eben. – Dirk Baecker hatte eine Autorenlesung in der Buchhandlung Saveedra in Berlin-Pankow. Anschließend Abendessen mit Carlo Barck und Hannes Böhringer. – Redaktion der Übersetzung von Henri Jeudy’s Buch Stadterfahrungen. Berlin-Vertreterbesprechung mit Gabriela Wachter. Täglich Bibliotheks­umbau …

Mittwoch, 6. Mai 1998. Sie hatte seit der Begegnung mit den Chinesen eine neue Haltung eingenommen. Fleißig und strebsam erledigte sie eine Arbeit nach der anderen, ganz darin aufgehend, ganz bei der Sache, je­den Gedanken an Befindlichkeiten beiseiteschiebend. Im Wunsch, ei­nen guten Verlag machen zu wollen, entfaltete sie ihre Kräfte über das Maß der Erschöpfung hinaus. In den auferlegten Mußestunden genoß sie dann die Frühlingssonne, das Vogelgezwitscher, ihre Lektüren: Nor­bert Elias Über die Einsamkeit der Sterbenden, Honoré de Balzac Theo­rie des Gehens, Victor Segalen René Leys. Sie war jederzeit gewahr, was sie tat. Endlich in der Gegenwart angekommen.

Die chinesische Haltung, sich den Sitten und Pflichten zu beugen, entlastete von dem wilden Individualismus, der ständig danach fragte, was man eigentlich jetzt gerade will. Und in diesem ständigen Sich-neu-Entscheiden-Müssen ging kostbare Handlungszeit verloren. Dagegen eingebettet zu sein in eine Zeitstruktur, eine Ordnung, gab den jeweilig anstehenden Tätigkeiten einen Halt, ein Gerüst, einen Zusammenhang, von wo aus sich leichterdings unterscheiden ließ, was ist wichtig, was unwichtig, was dringend, was kann warten. Und diese Art von Entscheidungen wurden von der Sache gefordert und eben nicht von der jeweiligen Stim­mung oder Laune bestimmt.

Dienstag, 12. Mai 1998. Sengende Hitze. Die Haut brennt. Arbeitshektik, Arbeitsalltag morgens von 9-13 Uhr. Erstmal Computer an, Mail-Box Post abholen, Goetz-Tagebuchblätter aus dem Internet ausdrucken, dann Blumen gießen und Frühstück. Dann Termin mit Derrida in Paris fest­gemacht mit Monsieur persönlich. Paris-Flug gebucht, Hotel klarge­macht.
Kapielski hat 3 Stunden lang an ihrem Computer seinen Merve-Band korrigiert. Dionysos [Kawathas] kommt zu Besuch und läßt sich Buchtips für seine Athener Seminare geben. Maria Zinfert kommt zur Übersetzer­besprechung des Agamben-Bandes. Termin festgemacht mit Ulf Schleth wegen Webseiten-Neugestaltung. Treffen mit Cathy [Lara] aus Californien bei der Blixa-Vemissage verabredet. Fotoabzüge für das Hamburg-Interview mit Hans-Christian Dany in Auftrag gegeben. Termin mit dem Architekten Heinemann vereinbart wegen möglicher Anmietung einer Einzimmer­wohnung. Bei Andreas Hiepko die Disketten-Abspeicherung seiner Jeudy-Übersetzung angefordert. Bei Jochen Stankowski in Köln die Deckel-Gestaltung für den Kapielski-Band in Auftrag gegeben. Mittags 13 Uhr eine Schale Erdbeeren und eine Tasse Kaffee, dann Ende der Hektik und Anfang des ruhigen Teils des Tages. Lektüre von liegenge­bliebenen Zeitungsausschnitten, Briefe schreiben, Übersetzungs­redaktion …

Samstag, 16. Mai 1998. Galerie Bruno Brunnet in Berlin-Mitte, Blixa-Bargeld “Solo-Konzert” live auf CD gebrannt. Blixa macht ein Stück für Merve aus den gesungenen Worten “Sencha” + “Carl Schmitt”, an­schließend Vernissagen-Dinner im Schwarzen Raben. Dann im Taxi von Berlin-Mitte nach Kreuzberg, Prinzessinnenstraße, Einzugsparty von mediamorph und rhythm corporation: futuristisches Ambiente, Treffen von Cathy Lara aus San Francisco, von Justus ganz in Weiss als Doktor Schivago, Dr. Motte, Hans-Otto Richter – sehr relaxte Atmosphäre.

Sonntag, 17. Mai 1998, Braunschweig. Familienfeier am Sterbebett ihres Vaters, 55. Hochzeitstag.

Montag, 18. Mai 1998, Paris. Friedhofsgang zum frischen Grab von Jean-François Lyotard auf dem Père Lachaise. Er liegt in der Nähe von Jim Morrison. Der Grabstein ist noch nicht errichtet. Abends Besuch bei Mira [Köller] und Dominique [Séglard], Austausch unter Archivaren: Tonbandmitschnitte, Fotokopien, Erstausgaben, Manuskripte, Briefe. Und natürlich dazu den unvermeidlichen Pariser Klatsch.

Dienstag, 19. Mai 1998, Paris. Besuch bei Daniel Defert, der Witwe von Michel Foucault, in der alten Wohnung von Foucault, hoch über den Dächern von Paris. Bei der Begrüßung müssen sie alle miteinander die Tränen wegdrücken. Daniel hat die Wohnung ziemlich unverändert ge­lassen. Auf dem Balkon zwei große Kübel Lilien, vom Grab von Michel Foucault in Poitiers. Sie gehen zusammen essen und diskutieren das Pro­jekt Penser la folie in der Züricher Klinik Burghölzli.
Sie bringen Dani­el eine Fotokopie von Foucault’s Text über Manet in Tunesien mit, den er noch nicht kennt. Eine echte Trouvaille. Sie verabreden, daß Daniel den Text mit den handschriftlichen Notizen von Foucault über Manet vergleicht und auf Fehler durchsieht und Merve eine deutsche Publika­tion, eine édition sauvage, davon herausbringt, da der Text bislang nir­gends aufgetaucht ist und auch in dem Foucault-Gesamtwerk Dits et Ecrits nicht enthalten ist.

Abends Besuch bei Fanny Deleuze. Sie ist nach dem Fenstersturz von Deleuze umgezogen. Nur zu verständlich. In der neuen Wohnung Bilder von Bacon und Katzen. Besprechung eines Auswahlbandes mit 3 Musiktexten von Deleuze. Die Erben- und Copy­right-Problematik. Nicht Fanny, sondern ihre Kinder sind die Erben. Und es darf nur veröffentlicht werden, was bereits veröffentlicht war. Alles Unpublizierte, auch Briefe, hat Deleuze vor seinem Selbstmord verbrannt. Die Vorlesungen im Internet und das Fernseh-ABC aus arte dürften nicht ins traditionelle Printmedium übertragen werden. Der Charakter des Gesprochenen soll gewahrt werden. Gemeinsames Dinner in einem Re­staurant in der Nähe. Gespräch über Filme. Der Hit zur Zeit in Paris Ceux qui m’aiment prendront le train von Patrice Chéreau.

Mittwoch, 20. Mai 1998, Paris. Spaziergang vom Hotel an der Bastille bis zum Boulevard Raspail. Zufällige Straßenbegegnung mit Hamid Ludin. Gemeinsames Teetrinken im Foyer des Hotels Lutecia, wo er mit einem seiner Patienten verabredet ist. Dann Termin im Büro von Jacques Derrida im Maison des Sciences de l’Homme. Besprechung des BuchVorhabens über Nietzsche (1 Text von F. Kittler, 1 Text von Derrida). Er ist einverstanden, aber wir müssen den Verlag Galilée um Erlaubnis bitten.

Der Versuch, ihn für das Burghölzli-Projekt zu gewinnen, gelingt ihr nicht. Er hat genug von Kolloquien. Ist außerdem für die nächsten zwei Jahre ausgebucht. Derrida erzählt noch, daß man in der Nacht sein Auto an seinem Wohnort, einem 300-Seelen-Dorf in der Nähe von Pa­ris, in die Luft gesprengt hat. Gemeinsames Rätselraten, ob es ein poli­tisches Attentat war oder irgendein Verrückter. Zum Abschied wünscht er “bonne chance pour vous”.
Abends Kino: Ceux qui m’aiment prendront le train: sehr französisch, chaotische Beziehungskisten.

Donnerstag, 21. Mai 1998, Paris. Morgens Besuch bei Henri-Pierre Jeudy. Diskussion einiger Übersetzerstellen seines Buches Courir la ville. François Séguret ist zugegen, um bei eventuellen Sprachschwierigkeiten zu helfen. Sehr ruhige entspannte Atmosphäre. Dann Spaziergang durch die halbe Stadt, zum Musée Guimet, asiatische Buddha-Statuen anschau­en. Abends Kinobesuch Blues Brothers 2000 von John Landis mit allen Blues-Legenden von New Orleans. Anschließend Austernessen.

Freitag, 22. Mai 1998, Paris. Spaziergang zum Boulevard Montparnasse, Restaurant La Coupole, Rendez-vous mit Paul Virilio 12:30 Uhr. Vorher Zufallstreffen mit Jean Baudrillard auf der Straße. Sie holt sich bei Baudrillard die Einwilligung für La pensée radicale und Illusion, désillusion ….  – Baudrillard erzählt vom Krankenhaus-Besuch bei Lyotard und vom Begräbnis, einem großen gesellschaftlichen Er­eignis. Lyotard war eben eine geheime Integrationsfigur zwischen den Pariser Cliquen und Zirkeln gewesen.

Virilio kommt ihnen in der Coupole entgegen, hat einen Tisch reserviert, lädt zum Austernessen ein. Sie be­sprechen das Licht-Projekt für Saarbrücken und holen sich seine Zusage. Virilio sieht seine Generation mit dem Ende dieses Jahrhunderts aussterben. Er spricht von seinem Engagement für die Pariser homeless people. Er hat eine Gruppe gebildet, die aus privater Tasche sechs Streetworker finanziert, die sich um die Elenden küm­mern. Anschließend Besuch der Librairie Tschann, Virilio’s Lieblingsbuchhandlung. Sie zeigt ihm Hanns Zischler’s Buch Kafka geht ins Kino in der französischen Ausgabe.

Samstag, 23. Mai 1998, Paris. Ruhetag. Zwiebelsuppenessen bei den Hallen, Schneckenessen.

Sonntag, 24. Mai 1998. Bahnfahrt nach Saarbrücken. Andreas Brandolini holt sie am Bahnhof ab, Besichtigung der verrotteten Saarstahlwerke, die heute unter Denkmalschutz stehen. Fahrt auf sein Landhaus nach Petit Réderching (französische Seite). Weintrinken im Garten.

Montag, 25. Mai 1998, Saarbrücken. Meeting mit den Abgeordneten der Saarbrücker Stadtwerke, deren neues Haus der Zukunft Brandolini für ein paar Millionen ausgestattet hat.
Dann mit dem Auto Ortsbesich­tigung diverser Stadtwerke-Orte für das Lichtprojekt:  Busbahnhof, Kabel­halle, Zentrallager, Wasserturm, Heizkraftwerk, Turbinenhalle, Wasser­werk Dudweiler, altes Umspannwerk. Zum Abschluß Mittag­essen in der Altstadt. Dann Spaziergang zur Stadtgalerie, wo zwei be­freundete Berliner Chinesen ausstellen. Fahrt nach Bitche, alte Festungs­anlage, Maginot-Linie, dann nach Meisental, alte Glasbrennerei, wo schon Meister Gallé seine Jugendstilvasen fabrizierte. Brandolini kümmert sich hier um die Aufrechterhaltung und Fortführung der alten Handwerkstradition. Sie ist schwer beeindruckt. Dann Fahrt durch die traumhafte Landschaft der Nordvogesen.

Dienstag, 26. Mai 1998. Rückfahrt nach Paris mit dem Zug. Rückflug nach Berlin. Wenn die Welt so voll ist, das Leben so prall erfüllt von Ereignissen, Begegnungen, dann ist keine Zeit zum Schreiben. Nur Stenogramm. Nach Paris war Hektik, Nachbereiten der Reise, Aufarbeiten des Liegenge­bliebenen: Briefe, Faxe, e-mails, Termine. Dann hinein ins nächste Wo­chenende:

Pfingsten, 30. Mai – 1. Juni 1998. Drei Tage Besuch von Aurel Schmidt aus Basel, sein neues Merve-Buch besprechen. Drei Tage volles Programm, nicht zu denken an wohlverdiente Erholung. Immerhin ein gemeinsa­mer Berlinspazierrundgang im Frühlingswetter: Anhalter Bahnhof, Gropius Bau, Abgeordneten-Haus mit Regina Poly’s Begrünung, Pots­damer Platz – Baustellenbesichtigung von der Info-Box aus, Leipziger Straße vorbei an der alten Treuhand, Friedrichstraße mit altem Checkpoint Charlie und den Architekturen aller namhaften Architekten, Unter den Linden, Altes Museum mit der Ausstellung Mythen der Nationen, vorbei am Dom über die Museumsinsel zum Hackeschen Markt, durch die Hackeschen Höfe zur Mittagspause im Hinterhofambiente des Schwarzen Raben. Dann weiter Spaziergang durch die Oranienburger Straße vorbei an der Synagoge, dem alten Postfuhramt, dem Tacheles, durch die Friedrichstraße vorbei am Friedrichsstadtpalast, Berliner En­semble und Tränenpalast bis Bahnhof Friedrichstraße. Dann S-Bahn-Fahrt vorbei am Baugelände des Regierungsviertels, Lehrter-Bahnhof, durch den Tiergarten bis Zoo, dann U-Bahn raus bis Westend. Dort Nach­mittagsgartenlesung von Hanns Zischler in der Villa von Regina Poly. Auf ihren persönlichen Wunsch Somerset Maugham Eine flüchtige Begegnung. Zwei Stunden Entspannung in einer heilen Welt bei Kaffe und Kuchen mit Vogelgezwitscher und Katzenschnurren.

Mittwoch, 3. Juni 1998. Ihr Vater ist gestorben.

Dienstag, 9. Juni 1998. Ihre Befindlichkeit war auf dem Nullpunkt: He­xenschuß, Unruhe von den Neuroleptika-Spritzen, Erschöpfung. Die Merve-Soirée mit Vortrag von Peter Bexte zu Michel Serres und Kon­zert für eine Stimme von Makiko Nishikaze war glänzend vonstatten gegangen. Die 50-60 Gäste sprachen so heftig aufeinander ein und es erschall fortwährend hier und da ein Lachen, Gelächter, daß sie selbst sich den ganzen Abend darüber wunderte.

Anderntags war sie so gründ­lich erledigt, daß sie drei Tage brauchte, um einigermaßen die Alltags­aufgaben auf die Reihe zu bekommen. Der Jeudy-Text über Stadt­erfahrungen wurde ein zweites Mal Korrektur gelesen. Die Diaserie für die Veranstaltung in München wurde neugeordnet. Dazwischen traf die Nachricht vom Tode ihres Vaters ein. Endlich war er erlöst! Es war ihr, als wenn nun niemand mehr hinter ihr stand.

Donnerstag, 11. Juni 1998. Beerdigung ihres Vaters in Braunschweig. Sie hält als einzige eine Trauerrede:
“Mein Vater war ein Mann des Krieges,
ein umsichtiger Kaufmann und ein guter Familienvater.
Er hat einen Baum gepflanzt, Kinder gezeugt und ein Haus erbaut.
Es war also ein erfülltes Leben.
Er war besonnen und schweigsam,
und wenn es not tat, wußte er zu entscheiden und zu handeln.
Aber wenn das Deutschlandlied ertönte,
dann sang er mit unter Tränen.
Das war sein Schicksal.
Er ging immer gern wandern und spazieren, in freier Natur, bei Wind und Wetter. Und solange ich ihn begleiten durfte, war er für mich wie ein Baum:
standfest, groß und gütig.
Wir stehen auf und erheben unser Glas auf einen Mann, dessen erstes Wort der Pflicht geschuldet war, dessen zweites Wort der Verantwortung galt und dessen unausgesprochene Eigenschaft die Güte war. Er lebe fort in unser aller Erinnerung.”

Noch am selben Tag Heimfahrt nach Berlin. Der Abend klingt feierlich aus ohne Musik und ohne Fernsehen. Allein dem Gesang der Vögel lauschen und dem allmählichen Dämmern zuschauen, bis nachts um 24 Uhr. Ein würdiger Ausklang.

Freitag, 12. Juni 1998. Ein Abend mit Justus. Treffen in der Studiogalerie des Hauses am Lützowplatz zur Pop-Ausstellung von Danielle de Picciotto. Hampelmann-Puppen typologisiert in Abzocker, Knackies, Surfer etc. Illustre Gesellschaft: Dr. Motte, Alfred [Hilsberg] vom Spacesaloon, Hans Otto von mediamorph, FM Einheit, Jochen Arbeit, die Ex+Pop-Clique. Mit ein paar Weißwein-Gläsern die Stimmung spritziger gemacht.

Bei strömendem Regen Taxifahrt durch die halbe Stadt in den Ostteil, zur Hausparty von Johann Lorbeer, living-sculpture-artist. Sie stürzen sich auf den Aal am Küchenbuffet, sie unterhält sich mit Folke Hanfeld und Nanae Suzuki, dann lauscht sie eine Weile dem Prasseln des Regens im Hinterhof.

Samstag, 13. Juni 1998. Abendgesellschaft bei Hamid Ludin, mit zwei Analytikerinnen, dem Filmer Harun Farocki und der amerikanischen Filmtheoretikerin Katja Silverman aus Californien. Sie sprechen dar­über, daß nach dem Zusammenbruch der DDR die West-Männer sofort die Meinung verbreiteten, die Ost-Frauen hätten keine Orgasmus-Schwierigkeiten. Das Thema war ein gefundenes Fressen für Analytiker, die die Meinung vertreten, Lacan habe keine Triebtheorie. Amüsant, aber nicht abendfüllend.

Sonntag, 14. Juni 1998, nachmittags. Isolde Eckle kommt aus Zürich zu Besuch und sie besprechen den neuesten Stand des Foucault-Burghölzli-Projekts. Frédéric Gros soll noch eingeladen werden und Pierre Fédida. Der Termin wird auf den 15/16/17. April 99 eingegrenzt. [hat nicht stattgefunden]
Isolde erzählt noch von Michael Oppitz, dem Ethnologen, der über den chinesischen Stamm der Nashi in Yünnan eine Ausstellung in Zürich ausgerichtet hatte, den Stamm, dessen Piktogrammschrift Peter bei seiner Aprilreise nach Südchina kennengelernt hatte, einem Kapitel aus Bruce Chatwin’s Buch Was mache ich hier nachreisend. Eine freudige Koinzidenz.
Kaum bricht Isolde auf, kommt Andreas Hiepko zu Besuch und sie besprechen Textpassagen aus François Jullien’s Eloge de la fadeur, dem chinesi­schen Buch zum Lob der Fadheit.
Dann kommt auch noch Justus vor­bei, bringt den Diaprojektor zurück und pflanzt sich vor den Femseher, einen alten schwarz/weiß Serienkrimi Der Kommissar anschauend. Es wird ein Femsehabend, bei dem wüst durchs Programm gezappt wird: Fussballweltmeisterschaft, Dokumentarfilm zur Bundeswehrgründung, Godard-Film Die Verachtung mit Fritz Lang und der Malaparte-Villa. Von dem Abend bleibt ein Informationssalat zurück, den kein Mensch verarbeiten kann.

Mittwoch, 17. Juni 1998. Im Eiltempo hatte sie mit Kapielski’s Hilfe den Satz für Aurel Schmidt’s Buch Von Raum zu Raum druckfertig gemacht. Somit war die komplette Herbstproduktion bereits im Kasten, bis auf das Buch von Agamben, das Peter betreute. Und bei dem brauchte alles seine Zeit, wenn es denn überhaupt rechtzeitig fertig wurde. Der Com­puter hatte bei der Herstellung zweimal Bombenwarnung gemeldet, aber als sie das Gerät zum Händler gebracht hatte, zeigte er keine Fehler auf dem Bildschirm. Mit dem Gefühl, nochmal davongekommen zu sein, packte sie das Gerät wieder in den Einkaufswagen und zog strahlend ab. Computerreparaturen haben mittlerweile eine Wartezeit von 14 Tagen, eine echte Bedrohung für den Arbeitsablauf, in dem der Computer mitt­lerweile einen unerläßlichen Bestandteil bildet

Eine gestohlene Stunde, mittags zwischen Druckabgabe und Vorberei­tung auf München. Draußensitzen im Café bei herrlichstem Wetter: kla­re Luft, blauer Himmel, leichter Wind, Juni-Sonne. Dösen, Passanten beobachten, Wein trinken. Mittagsmüdigkeit, Mittagslässigkeit. Zwei Musikanten pflanzen sich vor dem Café auf, singen leise südamerikanische Lieder. Ein Gefühl von Siesta kommt auf. Es ist alles so lässig, so leicht, so entspannt. Erstes kurzes Sommergenießen, aus dem Alltag davongestohlen zwischen diesem Tun und jener Aufgabe. So wenig, so viel! Im rastlosen Hin und Her selten die Momente. Dann umso glückli­cher.

Wunderbares Gefühl, wenn die Arbeit getan ist. Leere Zeit liegt vor ei­nem, Zeit die freudig mit neuen Vorhaben gefüllt sein will. Erster Ent­wurf, erste Skizze für die nächsten zwei Monate. Welche Freude am Entwerfen der Lebenszeit: was ist wichtig, woran liegt einem, auf wel­che Arbeit freut man sich am meisten, was muß sein? Die Gestaltung eines Zeitraums. “Entwerfen, erfinden, erschaffen: das ist die philoso­phische Trinität.” (Deleuze Was ist Philosophie?)

18.-20. Juni 1998, München. Auf Einladung des Galeristen Christian Gögger Verlagspräsentation in der Galerie Springer in München mit Audio-CD, Diashow, Videoband, Video-Edition Parole im Schuber von Tobias Hauser gestaltet, ein mediamorph-Schriftlaufband aus Verlagsautoren-Zitaten. Etwa 30 Personen sind gekommen, darunter Markus Sedlaczek, der gerade Michel Onfray für Merve übersetzt und dem sie den neuen Baudrillard La pensée radicale als Übersetzungsauftrag mitgebracht hat. Auch Frank Böckelmann ist gekommen, der gerade sein neues Buch Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen mit Erfolg heraus­gebracht hat.

Anschließend in einer zünftigen Bierhalle mit Fußball-WM-Übertragung viel Biertrinken mit einer kleinen Schar. Anderntags bei wunderbar strahlendem Wetter Spaziergang durch den Hofgarten zur Amalienbuchhandlung, die zur Veranstaltung einen Büchertisch und ein Schaufenster gemacht hatte. Friedliches Parkbanksitzen im Englischen Garten, Herr und Hund beobachten. Sie ist in fröhlicher Stimmung und denkt an Rainald Goetz, der hier in München seine große Zeit hatte. Dann Draußensitzen im Biergarten und die Zeit genießen. Treffen mit Peters Bruder Klaus Gente im Bayrischen Hof zum Weiswurstessen. Besprechung von Peters Rentenproblematik, um die sie sich zu küm­mern hat. Spaziergang über den Viktualienmarkt, Zitronengras kaufen. Die Vielfalt der Gewürze und Kräuter und Pflanzen genießen.
Anschlie­ßend Galeriebesuch bei Christian Gögger, der gerade lockere leichte Ar­beiten von C.O. Paeffgen zeigt.
Abends beim Haxn-Buam Spanferkel-Es­sen. Von der Riesenportion hat man lange was! Anderntags Heimfahrt im Zug unter hohem blauem Himmel an der Saale entlang, weckt die Sehnsucht nach dem Landaufenthalt, nach Spaziergängen und Wiesenblumenpflücken, nach dem Geruch nach Wald und nach friedli­cher Stille. Sie sah das Schilf und die reifen Kirschen an den Bäumen, das frische Grün, den klaren Bach, die Pappelallee, den Fischreiher. Welch eine Wohltat! Ein herrlicher Sommertag im Zug durch deutsche Lande.
Ihre stille Freude in München: ihren Jaspers-Band in der Universitäts­buchhandlung im Schaufenster liegen zu sehen.

Ende der einwöchigen Nebenwirkungen der Neuroleptika-Spritze. Ende des Wandertriebs.

Sonntag, 21. Juni 1998. Sommeranfang. Ein Sonntag im Garten ihrer Schwester in Lichterfelde-Ost. Friedliche Stille. Jeder liegt irgendwo anders im Garten verteilt: auf dem Rasen, in der Hängematte, im Schat­ten, auf dem Liegestuhl. Die Enten schnattern, die Katze spielt mit ei­nem Grashalm. Sie pflückt ein paar rote Kirschen vom Baum und nascht am Johannisbeerstrauch. Irgendwann ist Fußball-WM-Übertragung. Niemand interessiert sich hier dafür. Sie liest mit Vergnügen Strindberg’s Verwirrte Sinneseindrücke über Blumen und Farben, über Licht und Gold, über Steine und Landschaftsmalerei.
Am späten Nachmittag gro­ße ländliche Tafel unter freiem Himmel mit Schweinebraten und kräfti­gem Rotwein. Und wie immer bei der Großfamilie reden alle durchein­ander. Auf der Heimfahrt mit der S-Bahn glüht sie vom vielen Wein und von der Sonne und ist ganz müde von der vielen frischen Luft. Ein herr­licher Sommeranfangstag.

Montag, 22. Juni 1998. Bürotag. Wege zur Bank, zum Postfach, zum Copy-Shop, zum Wasch-Center. Einkäufe, Briefe, Überweisungen, e-mail. Laufende Erledigungen, die zum Betrieb dazugehören. Mitten auf den Wegen traf sie Justus. Und wegen eines Platzregens nahmen sie Schutz unter der Markise des Südwind-Geschäfts. Und er schenkte ihr die alte Single Sag’ ja zu mir! von Karel Gott.

Donnerstag, 25. Juni 1998. Im Internet hatte Goetz in seinem Tagebuch Abfall fiir alle folgende Notiz zum Gedenken an Michel Foucault vermerkt: “Daß es fast 15 Jahre her ist, daß Foucault gestorben ist, dafür gibt es überhaupt kein realitätsentsprechendes Gefühl. Die reale Ferne muß man sich von der Ziffer seines Todesdatums sagen lassen: 25.6.1984. Und alles in einem schüttelt den Kopf, immer noch, NEIN.”

Nachmittags kommt der Künstler Tobias Hauser im Verlag vorbei und brachte ein Kunstwerk zum Geschenk mit, das ein Zitat aus Michel Foucault’s Heterotopien verwendet hatte. Mit feinem Bleistift trug er das heutige Datum ein. – Am Abend zur Silberhochzeit von Gerhard Hoffmann und dem wilden Maler Salomé in der Schwulenbar Anderes Ufer tranken sie alle drei, Gerhard, Peter und Heidi, einen Schluck Sekt auf Michel Foucault zum Gedenken an seinen Todestag. An der Wand hing Salomé’s malerisches Monument/Homoment Der Rosa Winkel am Brandenburger Tor. Sein Entwurf für ein Monument der Aids-Toten. Welch ein Tag! Und alle sagten auf ihre Weise: Es lebe Michel Foucault!

Freitag, 26. Juni 1998. Täglich las sie Goetz’ Tagebuch Abfall für alle im Internet.
In seiner Schreibe äußerten sich für ihren Geschmack allmählich zuviel Reiz-Reaktionsmechanismen; zuwenig eigene Impulse gingen davon aus.

Henning Schmidgen hatte ihr einen Artikel mitgebracht über ein Buch von Jean-Didier Vincent Biologie des Begehrens. Daraus entnahm sie den wichtigen Hinweis auf die Wechselwirkung von Neuroleptika und Hormonen.
Henning Schmidgen war überhaupt ein Schatz. Letztlich, bei der Lektüre-Gruppe ’93, bei der sie mit Gewinn Deleuze’ Was ist Philosophie? lasen, brachte er eine Besprechung von Goetz’ Frankfurter Vorlesung samt Foto mit. Einfach Klasse!
Und als sie auf dem Weg zur Lesegruppe in Berlin-Mitte aus der U-Bahn stieg, da sagte im Vorbeige­hen ein angeheiterter Mann zu seinem Kumpan: “Guck mal, die trägt grün. Die wächst noch”, und lachte kichernd dazu.

Samstag, 27. Juni 1998. Vorbereitung des letzten Wochenendes vor dem Alleinsein. Ihr Compagnon Peter wird ab Anfang der Woche für 2 Mo­nate auf Reisen sein, wahrscheinlich in Thailand, Laos, Südchina. Lang­sames Einstellen auf die Situation: Arbeitstische aufräumen, letzte Arbeit­saufträge übergeben, Finanzen klären etc.
Hier und da noch mit einer leichten Umarmung letzte Wünsche dem anderen ins Ohr geflüstert “Sei nicht zu abenteuerlich”, “Denk an Dein Alter und Deine schlechte Kon­dition”, “Hast Du Deine Reiseapotheke aufgefüllt?”…
Nachmittags kommt der Komponist Walter Zimmermann vorbei, er soll für die Frank­furter Allgemeine Zeitung eine Rezension des Merve-Bandes von Peter Garland Six American Composers schreiben. Für seine Frau, die Zeich­nerin Nanne Meyer, leihen sie das Buch über die Bilderschrift des chine­sischen Stammes der Nashi aus.

Fussball-WM 98, Argentinien gegen Chile 4: 1. Das schönste Spiel, das sie bisher gesehen hatte. Das Geheimnis: die Ähnlichkeit, d.h. die Ähn­lichkeit der Spielweise beider Mannschaften. Während Macintosh Reklame macht mit dem Spruch “Think different” und Gauloises seine neue Zigaretten-Sorte mit dem Spruch “Make a difference” einführt, entdeckt sie die Möglichkeit, die in der Ähnlichkeit liegt.

Zum ersten Mal in ihrem Leben mit Bewußtsein wahrgenommen: extre­mer Lindenblütenduft, sobald sie auf die Straße tritt. Hatschiii!

Montag, 29. Juni 1998. Vormittags Urnenbeisetzung ihres Vaters in Braunschweig auf dem Dorffriedhof Volkmarode. Abends Abflug ihres Compagnons Peter vom Flughafen Berlin-Tegel nach Bangkok. Tag des Abschiednehmens.

Dienstag, 30. Juni 1998. Morgens Abgabe des Merve-Buches von Kapielski Davor kommt noch beim Drucker. 1500 Exemplare Auflage. Abends Lieferung vom Drucker die zwei neuen Titel: von Aurel Schmidt Von Raum zu Raum. Versuch über das Reisen und von Henri-Pierre Jeudy Stadterfahrungen. Rainald Goetz meldet im Internet-Tagebuch ebenfalls Abgabe der  Neufassung seines Stückes über Jeff Koons beim Verlag. Schon wieder eine Koinzidenz.

Mittwoch, 1. Juli 1998. Berlin-Auslieferung der zwei neuen Titel samt Presseversand. Eine riesige Packerei.

Donnerstag, 2. Juli 1998. Quartalsbuchhaltung gemacht. Cocktail-Party bei Barbara Monk Feldmann.

Samstag, 4. Juli 1998. Ein Fax von Peter aus Thailand. Seine Frauengeschichte ist dort jetzt vorbei. Findet sich sicherlich eine andere dafür. Sie liest mit Vergnügen extra langsam 2. Korrektur des 2. Kapielski-Bandes Danach war schon. Gottesbeweise I-VIII. Bei der Lektüre muß sie Tränen la­chen. Ein echtes Berliner Original mit Humor und Mutterwitz. Nur wird er sich wahrscheinlich auch zu Tode saufen, wie Kippenberger, sein Vorbild.

Sonntag, 5. Juli 1998. Naß-kalter Tag. Besuch in der Neuen Gemäldega­lerie am Kulturforum. Trotz Himmel und Menschen ein “Seelenruhe-Ort”, wie Goetz schrieb. Klare Architektur, schönes Oberdeckenlicht, klassische Hängung. Sehr schön!

Freitag, 10. Juli 1998. Lektüre des Buches von Daniel Hell Schizophrenien.
Daniel Hell ist der Chef der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli, Zürich,
wo Merve ein Symposion zum Thema “Wahnsinn denken” vorbereitet.
Die Lektüre ergibt wichtige Hinweise zu der seit 10 Jahren bestehen­den medikamentösen Behandlung ihrer Schizophrenie durch Neuroleptika.
Grundsätzlich wirken Neuroleptika als Dämpfung des emo­tionalen Antriebs. Der Wirkungsmechanismus beruht auf einer Einschrän­kung der Reizübertragung in bestimmten Gehirnregionen. Ihre Wirk­samkeit bezieht sich auf die Fähigkeit, Symptome wie Verfolgungswahn, Durcheinander im Denken etc. zu dämpfen.

Das ihr alle 5 Wochen in Form von Depotspritzen verabreichte Neuroleptikum Fluanxol gehört zur Gruppe der hochpotenten Neuroleptika, d.h. hoch wirksam, dafür manchmal schwerer zu vertragen. Die Nebenwirkungen dieser Arznei­gruppe betreffen den Bewegungsapparat. Häufig, wie bei ihr, kommt eine allgemeine Unruhe auf, die als Unfähigkeit, still zu sitzen, auffällt und sich gerade bei Ruhe, beispielsweise beim Sitzen oder im Bett, höchst unangenehm bemerkbar macht. Dieses Phänomen wird Akathisie genannt. Treten diese Symptome bei langjähriger Be­handlung auf, so spricht man von Spätdyskinesien. Es kann, wie in ih­rem Fall zutreffend, auch zu Störungen des weiblichen Regelzyklus kom­men. Da es bei Langzeitbehandlung auch zu Blutbildveränderungen kommen kann, wird sie regelmäßigen Blutkontrollen unterzogen. Eine Gewöhnung an Neuroleptika im Sinne einer Abhängigkeit oder Sucht ist nicht bekannt. In Kombination mit Alkohol, kann es zu einer Verstärkung der Alkoholwirkung kommen. Wenn einmal eine akute Krise in­nerhalb einiger Wochen aufgetreten ist, empfiehlt sich hinfort eine me­dikamentöse Prophylaxe bei allen Schizophreniekranken, um einerseits Rückfällen vorzubeugen, aber auch dann, wenn trotz Prophylaxe Rück­fälle auftreten.
Die Verabreichung des Medikaments als Depotspritze (Wirkungsdauer 1-4 Wochen) hat gegenüber Tabletten den Vorteil, daß der Blutspiegel des Medikaments konstanter gehalten und die Dosis insgesamt etwas niedriger gewählt werden kann. Der Abbau dieses Medikaments erfolgt hauptsächlich über die Leber, die Ausschei­dung vorwiegend über die Nieren.

Freitag, 10. Juli 1998. 22-2 Uhr Arena, Berlin-Treptow: Dr. Motte-Party Licht & Liebe, 20,- DM Eintritt, Konsum: 2 Bier. Das Schönste an der Light-Show in der Arena ist eine Breitbandleinwand mit einem niedrigen schnellen Flug über die Wolken. Sie tanzt ein wenig auf der Stelle in der noch leeren Halle. Afrika Bambaata steht da, umgeben von einer Horde Schwarzer, und checkt offenbar die Akustik der Halle. Sie geht auf ihn zu und fragt, wann er morgen spielen werde. “I don’t know.”
William von Low Spirit kommt vorbei und schleust sie draußen im Vorhof am Flußufer in die VIP-Zone. Um ein Uhr legt morgen Westbam auf, läßt er sie wissen.
Sie setzt sich zu [Bad Boy] Bill, der gerade ein druckfrisches lettisches Exemplar von Mix, Cuts & Scratches aus Riga mitgebracht hat. Er erzählt von der Schwierigkeit der Übersetzung, besonders der musikalischen Ausdrücke.
Sie zieht es wieder zur Tanzfläche. Noch ein tänzelnder Rundgang durch die Halle, dann trottet sie gemäch­lich dem Ausgang zu. Sie ist ganz bei sich und genießt diesen Zustand. Gegen vier Uhr macht sie zuhaus das Licht aus. Sie fröstelt.

Samstag, 11. Juli 1998. LOVEPARADE in Berlin, die größte Tanzparade der Welt: Zwischen Brandenburger Tor und Ernst-Reuter Platz bewegen sich zwei Wagenzüge aufeinander zu, um sich dann in einer Kreisfahrt um die Siegessäule zu treffen. TV-Live-Übertragung auf B 1 von 14-23 Uhr.
Die Reporter berichten, daß sich der Menschenstrom eindeutig nach Westen bewegt. Sie deutet diese Bewegungsrichtung als ein politisch-­historisches Votum. Eine Million Menschen tanzt in ein- und demselben Rhythmus unter dem Motto: “One World. One Future”. Der Slogan “Die Droge ist die Musik” wurde ausgegeben. Sie selbst hält die Massen­panik von der direkten Teilnahme ab, aber bei der Fernsehübertragung ist sie dabei wie bei der Mondlandung. Ein Track trägt die Aufschrift “Brazil goes techno”, ein anderer ist von der FDP.
Der Reporter meint, die Loveparade sei der Ausdruck unserer Single-Gesellschaft. Alle wür­den durch ihre Kleidung ausdrücken, daß sie noch zu haben sind. Für den Fall des Ausbruchs einer Massenpanik ist die Veranstaltung in den Tiergarten verlegt, damit die Menschen nicht an harte Mauern gedrückt werden. Viele tragen narrenkappenartige Kopfbedeckungen, der Müll­männer-Look ist in. Anhand der Teilnehmer ist festzustellen, daß es sich um eine europäische Veranstaltung handelt, mit einem wachsenden In­teresse seitens der Japaner. Helium wird als legale Droge zugelassen. Der Schalldruck der vorbeiziehenden Wagen beträgt 1 Million Watt. Der Slogan “One world. One future” wird gedeutet als “Wir sitzen alle in einem Boot”.

Nach einer Stunde seit Beginn ist der Platz an der Sieges­säule schon überfüllt.
“Ein Karneval der Jugend” nennt es ein Mann der ersten Stunde. Die einen halten es für die größte Verkaufsmasche, die anderen sprechen von der Liebe, die nicht käuflich ist. Techno ist undenkbar ohne den Computer. Und damit kann jeder kleine Junge heute seine eigene Platte machen und mit der richtigen Mischung zum richti­gen Zeitpunkt in die Charts kommen.

Obwohl sechs Regengüsse sich über die Menschenmassen ergießen und es 10 Grad kühl ist, tanzen die Mädels tapfer im Mini-Rock und BH weiter. An der Siegessäule legen ab 19 Uhr die DJs Sven Väth, ein Japaner, Marusha, Hell, Van Dyck, Dr. Motte und zum Abschluß Westbam auf mit der offiziellen Hymne der Lowspirit Compilation. Pünktlich 23 Uhr ist die Veranstaltung offi­ziell beendet. Sie wirft sich in Schale und ab Marsch gehts los ins Nachtleben. In der überfüllten U-Bahn hängen völlig erschöpft die Raver. Vor der Arena kämpft sie sich tapfer durch zur Gästeliste. Und schon steht sie auf der Tanzfläche, der 6000 Menschen fassenden Halle, ganz vorne vor dem DJ-Pult und tanzt beglückt zur Musik von Westbam. Er entdeckt sie und grinst freudig. William kommt vorbei und begrüßt sie überrascht. Eine VIP-Lounge ist nicht auszumachen. Sie geht völlig im Tanz auf und merkt gar nicht, wie die Zeit vergeht. Westbam spielt die ganze Zeit über. Als sie hinaustritt, um frische Luft zu schnappen, ist es bereits hell. Gegen 5 Uhr zieht sie heimwärts. Ganz weiche Knie vom Rhythmus.

Donnerstag, 16. Juli 1998. ARD Tagesschau:
– Internet-Skandal: Kinderschänder-Porno-Ring im Internet in unerhör­tem Ausmaß  ausfindig gemacht. Erschießung eines der Händler.
– Zunehmende Verarmung weiterer Bevölkerungskreise in Deutschland. 12% Kinder im Westen und 22 % Kinder im Osten sind davon betroffen. Von Verarmung wird gesprochen, wenn jemand weniger als die Hälfte des bundesdeutschen Durchschnittsgehalts zum Leben hat.
– War sie eine EU-Bürgerin? Immerhin wurde ein Merit-European ver­liehen, der aus  Monaco finanziert wird.
– Auf den blauen Autobahnen allseits Stau. Der Spiegel titelt: “Rasender Stillstand”. Eigentlich ein gleichnamiges Buch von Paul Virilio, der aber in dem Blatt nicht  erwähnt wird.
– Eine Firma namens INTERSHOP geht mit großem Erfolg an die Bör­se. Sie machen Programme, mit denen Versandfirmen ihre Internet-Prä­senz optimieren können.
– Tour de France mit Doping-Skandalen aus Havanna.
– Themenabend auf arte, Jenseits von Dschingis Khan: Der Schamanen­kult der nomadischen Mongolen scheitert unter der Anwesenheit der Fernsehkameras.

Während der Fernseher läuft, liest sie die eingesandten Original­manuskripte des Ethnologen Hans-Jürgen Heinrich über Freud als Schriftsteller und über die Transformationen bei Lévi-Strauss. Sie no­tiert einige Zitate daraus:

– Der Gesang, der ins Ohr dringt, verlangt ein ganz spezi­fisches Zuhören: kein unmittelbares, sondern ein abgerücktes, in den Raum der Erzählung versetzes, auf akustische Bilder verwiesenes Zuhören.
– Blick für das Virtuelle, das Zwischen, das Mehrdeutige.
– Der Blick für das Aleatorische, wonach alles nach Wahrscheinlichkeiten geschieht
– Der Aufnahmeapparat vermittelt dem Zuschauer die Illusion, er sei dabeigewesen, zieht ihn hinein in ein Spiel der Identifikationen, ver­dichtet seine Erlebniszeit, eröffnet verschüttete unbewußte Bildwelten. An den Schnittstellen von Bild,  Photographie, Spielfilm, Dokumentati­on, Feature, Reportage und filmischem  Tagebuch werden die Wirklichkeitserfahrungen möglich.

Sie rekapituliert noch einmal die vergangenen Tage:

11.7. Love Parade mit 1 Million Beteiligten auf der Straße, und fast alle TV-Sender übertragen das Ereignis.
12.7. WM-Finale. Titelsieg der Franzosen in Paris gegen die Brasilianer   (Bestechung???). 1,5 Millionen Menschen auf den Champs Elysées, 20 Millionen Zuschauer in der ARD, 2 Milliarden TV-Zuschauer weltweit
14. Juli. Französischer Nationalfeiertag
15. Juli. Tour de France. ARD + Telekom sponsern die deutsche Equipe der Tour. Das Werbevideo zur Tour signalisiert, daß die Fahrer mit Discman auf Technorhythmen fahren. Für die Übertragung eines Fußballspiels muß die ARD 5 Millionen Senderechte zahlen. Wieviel Einnahmen aus den Senderechten hat die Loveparade gehabt? Zu all dem die Frage auf der letzten Seite von Westbam’s Mix, Cuts & Scratches:
“Was machen wir damit, daß etwas neues entstehen kann?”

Spät nachts Lektüre von Martin Heidegger Vom Ereignis:
– Übergang zu einem anderen Anfang
– Übergang ins Offene der Geschichte
– keine Gründung ohne Loslösung vom Festgefügten
– Erschrecken Scheu Verhaltenheit
– aus dem Geläufigen herausfallen: Sprung
– Ermöglichung des Anfangs- Ziel ist das Suchen selbst
– Der Augenblick, der den Übergang trägt, ist niemals feststellbar oder errechenbar. Er setzt auf die Zeit des Ereignisses.
– Erschütterung die Ahnung
– die Entschiedenheit, die Nüchtenheit des Schaffenden, des Entwerfens
– Wenn noch Geschichte sein wird, so durch Ereignisse, die jeder künfti­gen Geschichte entspringen.
– Darum gilt denkerisch allein die Besinnnung auf das Ereignis. Das Er­eignis ist das  Zwischen im Vorbeigang. Das Entspringenlassen.
– Das Ereignis bleibt das Befremdlichste
– Die unumgänglichen Machenschaften und Erlebnisse gehen meist an dem Ereignis  vorbei.
– Nur wenige stehen in der Helle der Blitze
– Mut zum Abgrund
– Wende Kehre
– Schicksal
– Verhaltenheit als Offenheit für die verschwiegene Nähe
– Eräugen. Erspähen
– Die Notwendigkeit des Gewachsenen birgt die Abgründigkeit des Schöp­ferischen.
– Schaffen, Betrieb, Machenschaften sind nur der Anschein der Leben­digkeit des Schöpferischen
– Propaganda
– Jeder Anfang ist unüberholbar. Deshalb muß er ständig wiederholt wer­den.
– Warum denn überhaupt Anfang?
– Weil nur das größte Geschehen, das innigste Ereignis uns noch retten kann aus der  Verlorenheit in den Betrieb der bloßen Begebenheiten und Machenschaften
– Der Scheinerfolg des Genannt- und Beredetwerdens.
– Die Freiheit der Massen, die beliebige Zugänglichkeit von allem für Alle.
– Ereignis ist die Mitte
– Vorbereitung, damit etwas eintritt

Freitag, 17. Juli 1998. Besuch der Hagemeister-Ausstellung im Bröhan-Museum. Berliner Landschaften aus der Jahrhundertwende. Vieles Kitsch; zwei, drei gelungene Impressionen. Interessante Maltechnik.
In Berlin ist die Ferienzeit angebrochen. Die Nachbarin gibt die Schlüs­sel zum Blumengießen ab und schenkt ihr einen riesigen Kornblumenstrauß. – Ihr Compagnon schreibt aus Phuket (Thailand) von tags Koral­lenriff-Schnorcheln und abends Wein, Weib und Gesang.

Sie liest weiter in Heideggers Buch Vom Ereignis. Für Heidegger ist das Ereignis der außerordentliche Moment, worin sich entscheidet, ob sich die Götter einem zuwenden oder ob sie sich abwenden. Zur richtigen Zeit am rich­tigen Ort zu sein, scheint ihr das meiste, was man erreichen kann. Oder wie die Stones einmal sagten: ‘The time is on our side’.

Samstag, 18. Juli l998. Walter Seitter fragt in seinem Brief, welches ihre Geopolitik ist?
Ihre Geopolitik besteht aus drei Segmenten:
1) Mentalitätsreisen
seit 1986 geostet – Fernost: Japan, Indonesien, Indien, China . Dazu gehörten Tempelbesuche, Klöster und rituelle Handlungen: Zen-Buddhismus, Shintoismus, Animismus, Fruchtbarkeitskulte, Buddhismus, zuletzt Konfuzianismus.
2) Reisen auf der Stelle
so wie jetzt Juli + August 1998, Kur, sprich Diätetik. Lesereise, so wie jetzt zum Begriff des Ereignisses
3) Publizistik
so wie jetzt Aurel Schmidt’s Versuch über das Reisen und Jeudy’s Stadterfahrungen.

Sonntag, 19. Juli 1998. Sonntagnachmittag im Garten bei Regina Poly und Hanns Zischler. Bei Kaffee und Kuchen liest Hanns eine phantasti­sche Geschichte des russischen Dichters Terz aus den 60er Jahren. Die Erzählung ist an und für sich belanglos, aber das stille Zuhören unter freiem Himmel und das Rauschen in den Bäumen tut gut. Gegenwärtig­keit in gedehnter Zeit.

Mittwoch, 22. Juli 1998. Textbeitrag für die Neuherausgabe von Szeemann’s Junggesellenmaschinen-Katalog

Freitag, 24. Juli 1998. Mittags holt sie sich vom Buchhändler die Vor­schau zu Rainald Goetz’ Stück Jeff Koons, das im August erscheinen soll. Im Internet berichtet Goetz, daß er gerade über die Covergestaltung konferiert und seinen Band Celebration begonnen hat: mit Bildern und Texten zur Nacht. Eigentlich hatte sie selbst kein großes Bedürfnis mehr zu schreiben und doch hatte ihr die eine Seite Text zu den Junggesellen­maschinen Vergnügen bereitet. Sie las mit großer Neugier Goetz’ Ankündigung. Es sprach der Harmoniegestörte. Sie fühlte sich von sei­nen Texten immer persönlich angesprochen. Wie auch immer … Sie quäl­te sich mit dem Alleinsein. Hatte frühzeitig den Verlag verlassen und lag nun wegen der Hitze nackt in ihrer kühlen verdunkelten Wohnung und schrieb mal wieder an ihrem Tagebuch, wie ein gelangweiltes pubertierendes Mädchen. Nicht immer wollte sie die Härte der Realitäten spü­ren. Warum also nicht eine sommerliche Wochenendfreizeit träumend daheim?

Im Gespräch mit Dionysos [Kawathas] hatte sie ihre ersten Ideen zum Be­griff des Ereignisses bei Heidegger im Gegensatz zu den Medien­ereignissen entwickelt. Und als sie vom rechnerisch Wahrscheinli­chen sprach, da wandte Dionysos ein, daß sogar bei der Börse das Un­wahrscheinliche eintreten kann, ohne daß man errechnen könnte wann. Diese Aussage brachte sie weiter. Sie kämpfte seit 20 Jahren um das finanzielle Überleben. Und allmählich gegen Ende türmten sich die Probleme, so schien es ihr. Sie müßte erstmal lernen, Formulare auszufüllen. Und mit der Beschaffung ihres Wohnberechtigungsscheines und der Eingabe zu Peters Pensionsan­gelegenheiten hatte sie einen ersten Schritt unternommen, ihre Angele­genheiten in die Hand zu nehmen. Mal sehen, wie hartnäckig sie daran festhalten konnte.

Montag, 27. Juli 1998. Einsamkeit war immer verbunden mit Traurig­keit. Sie hörte alte Musiktagebücher, “and so the music was sort of a diary of what was going on”, schrieb Goetz in seinem Internet-Tage­buch. Das Tonband spielte “nous avons toute la vie pour nous amuser, nous avons toute la mort pour nous reposer.” Sie empfand ihre Einsam­keit als ein Drama. Über diesen Punkt war die Techno-Musik hinaus. Das Stampfen stärkte die Abwehrkraft. Fit für das nächste Jahrtausend: Generation Celebration.

Es war Montag und sie war völlig erschöpft zurück von der Hochzeit auf dem Lande, gleich neben dem Dorffriedhof, wo ihr Vater lag. Vor­mittags hatte sie einen Halm vom Kornfeld gepflückt und auf sein Grab gesteckt und abends mächtig angeheitert allein unter all dem jungen Glück getanzt. Heute war sie dann erstmal zum Friseur gegangen. “Sie sehen aber gut aus. Sind sie glücklich?” “Och, es geht.”
“Naja, man macht das Beste draus.”
Das Ereignisthema mußte erstmal ruhen. Der Loveparade-Hit vom ver­gangenen Jahr strahlte ein SommerSonnenErlebnis ab, Höhepunkt eines reifen reichen Glücksjahres.

Lange las sie an Detlev Linke’s neurowissenschaftlichen Ausführungen. Dann notierte sie:
“Manche Dinge können nur unter pathologischen [Bedingungen], also [eines] unter den Gesetzen des Leidens stehenden Gehirns gesagt werden. Meiner Ansicht nach verhält es sich so, daß sich bei der künstlerischen Produktivität die Kognition vom Eros abspalten oder diesen zu einem gewissen Grad in sich hineinnehmen muß. Wenn den Künstler die Muse küßt, dann tut sie es nicht als real fleischliches, sondern als inspirieren­des, den Geist betreffendes Wesen. Sie ist Attraktor im neuroinformatorischen Sinne, an dem sich das Nervensystem orientiert.”

Es hatte also alles seine Richtigkeit mit dem Leiden. Andere taten es auf ihre Weise. Goetz zum Beispiel zur Loveparade: “Ich konnte nichts sagen, weil ich praktisch nicht mehr reden konnte. Ich wollte ja auch gar nichts mehr sagen. Ich wollte mich treiben lassen, dort und von denen, wo es einen eben so hingetrieben hat”.
Und wie gefiel ihr heute, als er von einer spätmittelalterlichen Minne schrieb. Sogleich kramte sie Luhmann’s Liebe als Passion unten aus dem Regal.

Mittlerweile war es Mitternacht. Und die heilige Stille kehrte ein. Weit draußen und doch ruhig. Goetz’ Internet-Tagebuch war Klas­se! Es gab ihr Mut und konnte Vorbild sein. Eine einzige Schriftgirlande rankte sich darum. Dabei war sie sich selbst ein Rätsel. Mehr eine Figur als eine Person. Ennio Morricone’s Geigen schwebten leise durch den dunklen Saal. Sandig, samtig, sanft.
Und sie dachte zurück an das ver­gangene Wochenende. Wie mit dieser Hochzeit der Familienschmuck seine Besitzer gewechselt hatte, traditionsgemäß wie Waffen und Schmuck bei den Nomaden. Ihr Bruder vererbte den Ring seines Groß­vaters an den Bräutigam, den Urenkel. Sie selbst erbte den Familienschmuck von ihrer Großmutter väterlicherseits über ihre Mutter. Dafür erbte ihr Bruder den Ring ihres kürzlich verstorbenen Vaters. Ihre Nich­ten trugen das Familienemblem, einen in Tempelform gerahmten Gold­knoten unbekannter Verschlingung. Ein besonderer Seemannsknoten. Heute war der erste Tag in ihrem Alleinsein, an dem sie sich ihrem Her­zen, ihren Neigungen, Stimmungen überlassen hatte. Und am Ende war es ein glücklicher Tag geworden.

Wie es schien, war nun auch Justus verreist. Im Grunde ganz jahreszeit­gemäß, seine Sommerreise eben. Sommer in Berlin, eine besondere At­mosphäre. Nur Goetz düste laut Tagebuch am Sonntag mit dem Fahr­rad allein durch die Straßen von Berlin, von Friedhof zu Friedhof. HERR DU BIST MEINE ZUFLUCHT. Wie er sie rührte! Zum dritten Mal begann sie ihr Musiktagebuch von 1997 abzuspielen. Sie lebte gern in der Erinnerung. Und jedes Jahr gab es neue Eindrücke, Einflüsse, Wandlungen. Und hernach war sie immer so dankbar, es schien im Nachhinein voller Glanz, voller Glück das Durchlittene.

Endlich hatte sie Muße gefunden, Freund József [Tillmann] aus Ungarn zu schrei­ben. Er hatte soviel Vertrautheit und Freude geschickt. Seine Post hatte sich gestapelt seit März. Seine Zeitungsartikel, seine Gedanken, seine Musik.
Heute Nacht war sie eingeschwenkt in die Schönheit der Einsamkeit, wenn sie die Pflicht ruhen ließ. Ferien in Berlin eben.

Dienstag, 28. Juli 1998. Ein herrlicher Hochsommertag. Nicht zu heiß, leichter Wind, hoher Himmel.
“Zuviel Einverständnis unter Machern, beinahe Mitleid für die dahin­terstehende Tragik. Das Gefährdetsein der anfänglichen Offenheit der Zukunft”, so beschrieb Goetz heute in seinem Tagebuch eine gewisse Brüderlichkeit. Auch reflektierte er die Form der Erzählung. Ihre Fragen zur Gattungspoetik fanden hier Antwort. Ihm schwebte ein offenes Ge­schehen vor, direkter, ohne Erzählperspektive.  Für ihn barg die Indirektkeit die Realität von Konflikten. Eine scharfe Beobachtung, ja, aber nicht ganz leicht, den Gedanken zu erfassen. Das Schreiben von Erzählung gehörte für ihn zum MOVE des Vergnügens. Argumentieren folgte dagegen praktisch einem Automatismus.
Sein Sprachschatz hatte sich aufgehellt. Die sonnigen Seiten kamen etwas mehr zu Wort und Geltung. Das freute sie. Überhaupt – wie aus tiefem Herzen er zu ihr sprach. Sie sah sich in seinem Spiegel in aller Zerrissenheit, in allem Facettenreichtum, in aller Aufdringlichkeit und Rätselhaftigkeit. Zwi­schen Minne und Brüderlichkeit. Und sie las weiter in Luhmann’s Liebe als Passion:
– Das Verhältnis des Autors zu seiner Kommunikation war eine Art Existenzverfälschung. Und so gesehen waren Liebeserklärun­gen gar nicht mehr möglich.

Mittwoch, 29. Juli 1998. Seit der Hochzeit auf dem Lande war sie ver­wandelt. Sie trank wieder. Eine gewisse Entspannung trat dadurch ein, auch Genuß und Genießen. Sie verabredete sich mit Justus zur Foto-Ausstellung von Ellen Auerbach in der Akademie der Künste. Ganz ruhig saßen sie beieinander und tranken Rotwein. Und er erzählte, warum die Begegnung zwischen Bettina von Arnim und dem Landschaftsplaner Muskau gescheitert war. Bettina hatte nämlich bei einer öffentlichen Zusammenkunft ihren Kopf leicht auf seine Schulter gelegt und beim Gang von einem Saal in den anderen seine Hand ergriffen. Das war ihm zuviel. Bitte nur brieflich, war seinerseits gestattet.
In der langweiligen Eisler-Ausstellung nebendran blieben sie vor dem Schaukasten “Hoff­nungen” stehen, und Justus wies auf ein Gedicht über eine nie-stattgefundene Liebe.

Donnerstag, 30. Juli 1998. Ein unerwartet entspannter Sommerabend in Berlin. Cathy [Lara] rief nachmittags an, ob sie sich zur Kapielski-Lesung in Berlin-Mitte treffen wollten. Kapielski war gerade dabei im Verlag ih­ren Computer zu reparieren, dieweil sie im Bett zu Hause lag und ihren Kater pflegte. Abends dann im Brechthaus angekommen, überlegte sie noch, Heiner Müller’s Grab zu besuchen, traf dann überraschend Justus mit zwei Ex+Pop-Kumpels – und schon saßen sie in einer Biergarten-Hinterhof-Runde und alles war so vertraut. Man konnte über den Tod des Vaters sprechen, über Tschernobyl, den Weltschmerz und die Contenance der Nachbarschaftspflege. Die San Francisco-Germanistin, der Fotograf, das Berliner Original, die Verlegerin – kein Gehabe, kein Befremden, lockere Offenheit, Respekt.

Sonntag, 2. August 1998. Ihr Sonntagvormittagsspaziergang hatte sie auf den Friedhof zum Grab von Heiner Müller geführt. Vor dem Totenhaus HERR DU BIST MEINE ZUFLUCHT lag eine Katze, die sich gerne streicheln ließ. Nebenan die Kunsthallenbaracke mit [Albert] Oehlen-Ausstellung blieb verschlossen. Schlamperei! Davor ein Persil-Plakat “Rot ist die Farbe der Liebe. Und das bleibt auch so.” Die Reklame war ihr Kunst genug.

Wiedermal ein langer Nachmittag im Garten ihrer Schwester. Im Liegestuhl auf dem Rasen unter freiem Himmel im Schatten lesen: Niklas Luhmann Liebe als Passion. Plötzlich war sie mittendrin im Thema, im Gesagten, Geschriebenen. Vor Jahren noch ein Buch mit sieben Siegeln. Jetzt unwiderstehlich vor Augen, im Ohr, die spannendste Lektüre:

-“Galantes Verhalten ist nach beiden Seiten, zur Intimität und zur Gesel­ligkeit hin, anschlußfähig.”
– “Bei aller Unsicherheit im Hinblick auf Liebe: darin kann man sicher sein, daß das Bemühen um Gefallen gefällt.”
– “Der Adressat der Bemühung ist souverän in dem, was ihm gefällt, aber wie man ihm gefällt, kann man trotzdem lernen.”
– “Alles kann für die Liebenden neue Qualitäten erlangen, es geht um eine Steigerung des Wertgefühls.”

Sie geht ans Regal und holt sämtliche Luhmann-Bände heraus: Macht, Kunst der Gesellschaft, Soziale Systeme. Und schon war sie am Lesen über Medium und Form:

“Trotz all dieser Relativierungen bleibt jedoch die Differenz von Medi­um und Form, als Differenz, ausschlaggebend. Weder gibt es ein Medium ohne Form, noch eineForm ohne Medium. Immer geht es um eine Dif­ferenz von wechselseitiger Unabhängigkeit und wechselseitiger Abhän­gigkeit der Elemente; und daß es um eine Differenz geht, heißt, daß ein Abhängigkeits-Verhältnis höherer Art ins Spiel kommt.”

Das Seinlassen, der Weg durch die Einsamkeit, eine Woche Treiben­lassen hatte am Ende Früchte getragen. Morgen würde sie zu ihrem The­ma “Medienereignisse” mit Luhmann-Lektüre fortfahren.

Montag, 3. August 1998. Don’t cry, work! So lief das Leben dahin. Sie war unterdessen 48 Jahre alt geworden. Zeit, sich noch einmal neu zu orientieren. Die Stellenanzeigen boten kaum eine Auswahl. Das einzige reale Angebot, das sie ohne zu fragen bekommen hatte, kam von Aurel Schmidt, in seinem Basler Magazin regelmäßig zu schreiben, zu veröf­fentlichen. Warum war sie bislang nicht darauf eingegangen? In den heutigen Gesprächen mit Peter Geble, Sekretär bei Kittler an der Humboldt-Uni, und Birger Ollrogge, Langzeitarbeitsloser aus Passion, ging es nur darum, ob und wie und daß die gemeinsamen Freunde und Bekannten ihr gesichertes Auskommen fänden oder gefunden haben. Kapielski war wieder einer, der es geschafft hatte unterzukommen mit seinem neuen Professoren-Job in Braunschweig. Merve hatte aber auch mächtig im Hintergrund an den Fäden und Drähten gezogen.

Donnerstag, 6. August 1998. Ein Tag in Braunschweig. Anton-Ulrich-Museum. Die Gemäldegalerie aus Kindheitstagen. Wiedersehensfreude mit alten Bekannten: Holbein, Cranach, Vermeer. Herrliche niederlän­dische Malerei, vornehmlich von 1600-1650. Daher kam also ihr An­gezogensein von dieser Zeit!

Freitag, 7. August 1998. Post von Walter Seitter, Paul Virilio, Rainald Goetz.

Samstag/Sonntag, 8./9. August 1998. Wochenende auf dem Lande. Im Berliner Umland, im Süden, Bardenitz bei Treuenbrietzen, eine Auto­stunde. Baden im See, bei dem alten Mühlrad, Bohnenernte im Garten, Lesen im Grase, auf der Terrasse ländliche Tafelrunde mit Freunden, Gespräche am Lagerfeuer, Rotwein, Grillenzirpen, Vollmond, schlafen allein unter freiem Himmel, das Sternenzelt über ihr. Morgens dann Dorfkirchenglocken, Kirchgang, Singen in der kleinen Gemeinde “Geh aus mein Herz und suche Freud in dieser schönen Sommerzeit…”. Halleluja.

Heimfahrt mit der Bimmelbahn, wo man dem Lokführer noch zuwinkt, damit er an der Station hält. Hochsommersonntag. Langsame Fahrt durch die schöne Mark Brandenburg: der märkische Sand, die gelben Kornfelder, die Kiefern, leichter Wind. Weite. Ruhe. Frieden. Das Heili­ge, das Erhabene gestreift.

Rituelle Zeit. Jahreszeiten. Reifezeiten. Mahlzeiten und Schlafenszeiten. Der Rhythmus der Begegnungen und Briefe. Der Arbeitsrhythmus, projektorientiert, maximal bis zu 2 Jahren im Voraus, der Wochenkalender und das Tägliche, große und kleine Pläne. In den Pausen die Zeit Revue passieren lassen, Liegengebliebenes erledigen, aufräumen, Kraft schöp­fen, träumend neuorientieren. Einen Moment innehalten, dann freudig sich hineinstürzen in den Neubeginn, dem Tatendrang nachgebend. Struk­turierung des Obsessiven, des Schöpferischen, der kostbaren Momente. ARD-Tagesschau: im feierlichen kleinen Schwarzen mit hübschem Dekolletee und goldenem Schmuck verkündet die Sprecherin die neuesten Katastrophen und Spendenkonten. Radical chic im Er­sten?

Montag, 10. August 1998. Der Drucker meldet einen dicken Montage­fehler beim Kapielski-Band auf Seite 70. Was tun? Die gesamte Auflage ist fertig gedruckt und gebunden. Normalerweise Einstampfen und Neu­drucken. In Anbetracht der Pressemitteilungen entscheidet sie sich für den Errata-Zettel.

Mittwoch, 12. August 1998. Bestandsaufnahme zu ihrem Thema “Medi­en-Ereignisse”. Folgende Lektüren in den letzten drei Wochen absol­viert:
– Heidegger Vom Ereignis
– Roland Barthes Die Schreib-Weise des Ereignisses (Rohübersetzung Hanns Zischler)
– Lyotard Apathie in der Theorie, Kapitel “Das wichtige Ereignis”
– Deleuze Gespräch “Zeichen und Ereignisse” in Pariser Gespräche
– Baudrillard “Die supraleitenden Ereignisse” in Transparenz des Bösen
– Baudrillard “Der Streik der Ereignisse” in Die Illusion des Endes
– Foucault Die Ordnung des Diskurses
– Foucault/Deleuze Der Faden ist gerissen
– Foucault Stichwortregister von Dits et Ecrits Band 1+2 durchgarbeitet
– Luhmann Stichwortregister von Soziale Systeme durchgearbeitet
– Luhmann Macht
– Luhmann “Medium und Form” in Die Kunst der Gesellschaft
– Luhmann Liebe als Passion
– Luhmann Aufsatz “Das Medium der Kunst”
– Derrida Aufsatz “Signal-Ereignis-Kontext” in Randgänge der Philo­sophie
– Peter Weibel Aufsatz “Territorium und Technik” in Philosophien der Neuen Technologie

Außerdem als empirische Feldforschung zum Massenmedium TV:
– Fußball-WM-Übertragungen
– Loveparade-Übertragung
– Tour de France-Übertragungen.

Donnerstag, 13. August 1998. Den ganzen Tag den dicken Kater pflegen vom Vorabend der Lektüre-Gruppe. Schlafen, Dösen, Träumen, Nach­denken. “Zwangsstumpfsinn des Glücks” hatte Goetz in seinem Internet-Tagebuch geschrieben. Es hatte sich bei ihr der alte paranoische Eindruck wieder eingeschlichen, daß “man” via Computer-Vernetzung in ihren Aufzeichnungen lesen könne.

Freitag/Samstag, 14.+15. August 1998. Krank. Kreislaufschwäche, Kopf­schmerzen, Atemnot.

Samstag, 16. August 1998. Sehr in Unruhe und Sorge wegen Peter. Er wollte am Donnerstag, dem 13. August, morgens früh von Lijiang, Südchina nach Chiang Mai, Thailand zurückreisen und sollte dort im Top North Guest House wieder erreichbar sein. Ihr Fax dorthin, mit der Bit­te, sich doch zu melden, blieb unbeantwortet. Telefonische Nachfragen an beiden Orten blieben ergebnislos. Weder Aus- noch Ein­checken waren in den Hotels verbucht. Was ist los? Die halbe Nacht Surfen im Internet nach Airlines und den Flugverbindungen von Kunming.

17./l8./19. August 1998. Berlin-Auslieferung: Kapielski-Buch + Einla­dungskarte für seine Buchpremiere raus geschickt. Körperlich sehr schwach. Atemnot.

Samstag, 22. August 1998. Ausflug mit der Gruppe 93 nach Bad Muskau. In Pückler-Muskau’s Landschaftsgarten spazieren und Picknick.

Sonntag, 23.8. 1998. Lektüre eingegangener Manuskripte, die wegen di­verser Verbindlichkeiten unvermeidlich ist:
– Walter Zimmermann Tonart ohne Ethos. 60 Seiten über den Musik­ethnologen
Marius Schneider und dessen wüste Vergangenheit. Ausge­rechnet Barbie hat ihn
aus dem Knast geholt.
– Hans-Jürgen Heinrichs: Von der Lust des Beginnens. Sigmund Freud als
Schriftsteller
+ Die Leidenschaft für die Struktur. Zu Claude Lévi-Strauss’
Transformationen
. 70 Seiten, sachlich irrelevant.
– Shuzo Kuki (japanischer Philosoph 1888-1941) Die Struktur des Iki. 80 Seiten in
der Übersetzung von Minoru Okada. Iki, der Schlüsselbe­griff japanischer Ästhetik.
Ein japanischer Klassiker à la Heidegger, von dem sie ja das seltene Buch
Le Problème de la contingence 1986 aus Japan mitgebracht hatte.

Abends auf n-tv: Börsennachrichten und Finanzkrise. Brief an ihre Mutter, die verhungern möchte. Seit gut einer Woche ist die Musik verstummt.

Montag, 24. August 1998. Ende der Berliner Schulferien. Die Nachbarin bringt einen Strauß Heidekraut, selbstgepflückt, zum Dank fürs Blumen­gießen. Gesten des Einverständnisses in der Verlassenheit. Herbstlicher Regen und Sturm. Nasse Füße, Löcher im Schuh. Für 10,- DM Kauf gebrauchter Schuhe beim Schuster.

Fabian [Störmer] schreibt von daheim anrührende Zeilen auf der Schreibmaschine seiner Kindheit mit “bordeaux-roten Tasten”. Peter faxt abenteuerliche Exkursionen zu thailändischen Tempeln. Alles ist wieder einigermaßen im Lot: die Gesundheit, die Arbeit. Aber es bleibt immer ein Rest von Mehr oder Weniger, der sich nicht ausgleichen läßt und offenbar der Motor für Weiteres ist.
Spät abends noch im Kurvenstar Gespräch unter drei Frauen dreier Ge­nerationen.

Freitag, 28. August 1998. Je mehr sie auf n-tv die Nachrichten aus Poli­tik und Wirtschaft verfolgte, umso stärker der Eindruck, die Weltwirtschaftskrise liegt nicht mehr fern. Zwar war die deutsche Wirt­schaft mit Rußland nur zu 2 % verbunden, aber der politische und wirt­schaftliche Zusammenbruch Rußlands hatte eine Kettenwirkung auf die amerikanische, deutsche und schweizer Börse mit negativer Tendenz. Der deutsche Finanzminister verkündete im Rahmen des Bundestags­wahlkampfs, daß zur Zeit mehr Geld aus dem Ausland nach Deutsch­land hinein- als aus dem Land herausfließe.

Justus kommt vorbei und beruhigt sie, was das düstere Finanzszenario ihrerseits anbetraf. Stattdessen entwarf er seinerseits ein finsteres Sze­nario für die Jahrtausendwende, wenn sämtliche elektronischen Appa­rate einen nicht-programmierten Zeitsprung vollziehen mußten: Kraft­werke würden ausfallen, Großrechner müßten neu programmiert wer­den und die amerikanische Bevölkerung würde bereits jetzt für den Ernst­fall eigene Gemüsebeete anlegen, damit sie dann autark weiterleben könnte.

Sie hatte sich entschlossen an der Party Ready to Ruck im Haus der Kulturen der Welt heute abend nicht teilzunehmen. Es sollte ein Sam­melbecken der 68er-Polit-Generation, der 89er-Wende-Generation und der 98er-Techno-Generation werden, für einen politischen Ruck durch Deutschland. Gleichzeitig wurde verlautbart, daß die Schlingensief-Partei Chance 2000, die ja eigentlich ein Sammelbecken der vier Millionen deutschen Abeitslosen sein sollte, Pleite sei.

Stattdessen ein Abend mit Almuth und Cathy im Kurvenstar Ost und im Ex+Pop West. Davor ein Abend mit Günther Rösch im Bartolucci und Savo in Schöneberg. Davor ein Abend mit Gabriela [Wachter] und Simone [Bernet] im Kurvenstar. Noch davor ein Abend Lektüre-Gruppe 93 im Verlag. So war dem Gespräch mit “Suffkopp” Genüge getan. Im Rückblick war es er­schreckend, wie sehr sie sich hatte gehen lassen.
Durch die Ökosteuer die Wirtschaft anzukurbeln und neue Arbeitsplätze zu schaffen, wurde mit der Begründung abgelehnt, die Energiewirtschaft sei zu teuer.
Die Wahlbroschüre der Grünen Lesebuch für ein langsames Leben, worin auch ein Text von Virilio aus dem Merve-Verlag abgedruckt war. Finanzminister Theo Waigel spricht auf dem CSU-Parteitag in Bayern von der “Insel Europa als Wirtschaftszone”. Ende der Nachrichten.

Samstag, 5. September 1998. Nach drei Wochen Lethargie endlich wie­der “heimgekehrt”. Sie war ja nicht wirklich weg gewesen, nur mental abwesend. Bei einem Heimvideoabend, da war sie endlich wieder eingeklingt. Es war ein verregneter Samstagabend. Sie hatte zwei Sech­ser-Pack Schultheiss-Bier eingekauft und Folke Hanfeld hatte das japa­nische Originalvideo Tokyo Driver mitgebracht. Und beim Schauen der Bilder, der stillen Kamera, der Farben, da klingt sie plötzlich wieder ein. Früher hätte man dazu gesagt, die Seele ist in den Körper zurückge­kehrt.

Die Gäste waren gegangen Die chinesischen Klänge drifteten in aller Weite durch den dunklen Saal. Die Gespräche klangen nach. Rotter­dam, Hamburg, Italien. Sie trug ja immer nur die abgelegten Kleider der Nachbarin ihrer Schwester. Darunter fand sich leider kein quergestreif­tes Seemannshemd, wie es für heute passend gewesen wäre. Am Nach­mittag war Peter Weibel aus Wien für zwei Stunden zu Gast. Am frühen Abend hatte sie bei Justus im Dachstübl sein liebevoll selbstgebackenes Hühchen verzehrt und mit ihm die Verabredung zu einer Fotoausstellung getroffen mit seinem neun Meter langen Foto von der Brücke am River Quai.

Dienstag, 8. September 1998. Ihr Cornpagnon war nach neun Wochen China/Thailand zurückgekehrt. Peters Chinamusik schwebte leichtfü­ßig durch den Raum und verbreitete Freude. Eine anheimelnde Atmosphäre. Plötzlich entbrannte ein heftiges Gebrüll zwischen ihr und ih­rem Compagnon, wie selten. Nachdem sie so einträchtig nebeneinander den Text von Agamben über das Schreiben und die Schöpfung redi­giert hatten, erklärte sich Peter plötzlich für unfähig, in einer Pariser Buchhandlung ein Buch zu bestellen. Und sie halte keine Lust für ihn die Sekretärin zu spielen. Die kleine Fehde war schnell beendet, der Rauch schnell verzogen. An der Wand hing ein großes neues chinesisches Rollbild mit Kirschblüten.
Es war ein milder sonniger Septembertag. Der kleine Bummel durchs Viertel hatte sie beide ermuntert. Im Lotus-Laden in der Eisenacher Straße verkauften drei Chinesen in weißen Kit­teln chinesische Kräuter, Wurzeln, Pilze unbekannter Art als Heilmittel. Im Café Bilderbuch in der Akazienstraße gab es einen Hinterraum mit alten Büchern und altem Mobiliar. Ein Sushi kosten hier, Gewür­ze kaufen dort.
Zuhause dann die Yunnan-Kräutermischung ansetzen.
Dazu die Gedanken von Ibn Arabi über den Übergang des Denkens aus dem Zustand der Latenz in den Akt des Schreibens. Oder Aristoteles’ Bild der Wachstafel, wo sich das Denken im Schreibakt manifestiert. Wochenlang hatte sie im Zustand der Latenz verharrt. Die Stimme war verstummt und mit ihr alle Sinne stumpf geworden. Der Glanz kam eben nur durch fleißiges Polieren. Und ein faules Leben führte zu Verwahrlosung. Und mit dieser Erkenntnis hatte sie mal eben kurz neben-dran dann doch noch für Peter den Agamben-Bartleby-Band auf Fran­zösisch bei Tschann in Paris bestellt.

Abends Primary Colours von Mike Nichols in der Original Version im Odeon-Kino auf großer Leinwand, in der Hauptrolle John Travolta. Ein unterhaltsamer Kinoabend, nichts Aufregendes, herrliche Typen und Gesichter und zuweilen komische Szenen.

Das Lachen war wiedergekehrt. Sie lag in ihrer frisch aufgeräumten Wohnung im Bett und hörte Musik. Ihr Blick glitt über die Merve-Buch-Reihe im Regal neben ihr und sie schätze ab, welcher Titel der ver­gangenen Jahre in ihren Augen Bestand hatte und welcher nicht. Und es entfuhr ihr ein leichtes Auflachen, als sie gewahr wurde, daß doch eini­ges ihrer Wertschätzung standhalten konnte.
Jetzt, wo sie sich in ihrer Junggesellen-Wohnung allmählich eingelebt hatte, jetzt nach zehn Jah­ren, wo alles ihren Wünschen und Bedürfnissen einigermaßen entsprach, ja ihr der Raum gefiel, da mußte sie ans Ausziehen denken, weil das Haus verkauft war und große Eigentumswohnungen daraus werden soll­ten. Wahrscheinlich Praxen und Kanzleien.
Zwei vage neue Wohnmög­lichkeiten hatte sie ins Auge gefaßt: entweder eine kleinere Einzimmer­wohnung in Lichterfelde-Ost, um die Ecke von der Villa ihrer Schwe­ster mit Küche, sogar Bad und Zentralheizung und Balkon, oder eine Zweizimerwohnung in Schöneberg direkt im Vorderhaus des Verlages, aber dann müßte sie sich um einen Mitbewohner kümmern. Beides im­merhin denkbare Modelle und nicht die Aussicht auf Nichts. Das war doch einigermaßen beruhigend.

Sie schmökerte in alten Zeitungsartikeln über ShangriLa, das alte Kö­nigreich Sikkim, wo Peter auf seiner Reise auf der Hochebene von Tibet gewesen war.

Die drei Wochen Lethargie waren doch nicht umsonst. Die ständige Fra­ge “Was soll’s?”, die jegliches Aufraffen verhindert hatte und schließ­lich in der Frage mündete “Was bleibt?”, hatte so gründlich jede harm­lose Unternehmung  infrage gestellt bis zur restlosen Ausleerung. Nun konnte sie sich wieder wie ein Kind voller unverbrauchter Neugierde der Welt zuwenden.

Samstag, 12. September 1998. 17 Uhr Wiens Laden in Berlin-Mitte. Buchpremiere und Lesung von Kapielskis neuem Merve-Band Davor kommt noch. Gottesbeweise IX-XIII. Tagesparole Kapielski “Merve für Doofe”. Der Laden ist brechend voll. Sogar vom Hinterhof aus hören die Menschen durch das geöffnete Fenster zu. Sie präsentiert Kapielski als Urberliner, Mann aus guten Hinterhause mit Mutterwitz. Hans-Peter Krüger vom SFB zeichnet die Lesung auf. Kapielski liest die Münchner Geschichte vom Valentins-Museum. Das Publikum lacht Tränen. Sie auch. Seine Vortragsweise ist brilliant. Frenetischer Beifall. Stelldichein im Hinterhof. Trotz Regennässe angeregte Unterhaltungen. Hernach volles Lokal mit Nasenflöten-Blasorchester und Gesang. Allgemeine Ausgelas­senheit über die Tische hinweg.

Montag, 14. September 1998. Ein Lebensgefühl kommt in die Jahre. Seit zwei Tagen alte Zeitschriftenausschnitte sortieren. Bis ins Jahr 1993 gehen die Stapel zurück. Sortieren ins Merve-Mappenarchiv nach The­men, Sachgebieten, Autoren, Rezensenten. Neue Gebiete entstehen, manche stagnieren, z.B. die Mappe mit der Aufschrift “Peter Weiss” aus den 50er Jahren. Ihr Gartenlandschaftsthema schwillt an, neu entstan­den die Kiste “Techno/Pop”, und seit Jahren stetig wachsend das Buch-Thema. Jetzt könnte sie gut eine Gastprofessur gebrauchen, um ihr Buchthema einmal gründlich durchzuarbeiten, die sechs Meter Buch­regal und die drei Kisten Zeitungsausschnitte. Auf dem Fußboden lagen 10 Meter lang in 4er Reihen die Mappen, in die die Zeitungsausschnitte verteilt wurden. Allmählich war ihr Hemd ganz staubig und in den Bei­nen meldete sich der Muskelkater vom vielen Bücken. Trotzdem war bei der Arbeit Atelieratmosphäre entstanden. Die Ablagerungen der Lebenszeit.

Spät abends kam Justus noch vorbei und holte das bestellte Buch über Zahlen ab. Dabei wanderten sie im Gespräch immer wieder um die Mappenauslagen herum, Justus begutachtete die Themen und Namen, sie schenkte ihm ein Sakeschälchen selbstgemachten chinesischen Kräuterschnaps ein.

Dienstag, 15. September 1998. In den Computer-Datev-Kartons wur­den über Jahre Zeitschriftenartikel gesammelt, die eventuell mal ein Merve-Buch würden. Und die Verkaufszahlen dieses eventuellen Merve-Buches würden sich wieder im Datev-Computer niederschlagen. Der Kreislauf des Geistes, des Gedruckten, des Verlagslebens. Ihre drei Lieb­lingsthemen lagen jetzt wieder obenauf: Nomadentum, Wirtschaft/Ma­nagement, Landschaftspark.

Es war herbstlich frisch draußen geworden, sie trug wieder einen Pullover und hatte irgendwie  plötzlich das Bedürfnis, sich wieder das Gesicht zu schminken.

Besuch von Walter Seitter aus Wien. Abendessen im Winterfeld-Restau­rant. Gespräch über Foucault’s Manet-Text, über Nietzsche in Naumburg, Seitter’s Rom-Erfahrung, ihre München-Erfahrung. Dann zur Rückriem-Ausstellungseröffnung in die Neue Nationalgalerie, die ihr 30-jähriges Bestehen feierte. Kurzes Gespräch mit Kasper König aus Frankfurt, dann Scherzen mit Ter Hell. Nach drei Glas Wein langer Fußmarsch heimwärts.

Donnerstag, 17. September 1998. Sie war gerade beim Pilze waschen, da klopfte es an der Tür. Justus kam zu Besuch. Er wollte auf der Buch­messe ein Buch bestellt haben. Peter zeigte ihm seine China-Fotos. Er brachte ihr die CD MOONDOG von 1956 mit, die Musik eines New Yorker Stadtstreichers. Zum Dank spielte sie ihm ihre neue CD von Fritz Kreisler vor, besonders Nr. 5 “Liebesleid” und Nr. 6 “Liebesfreud”. Justus zeigte sich davon angetan. Während sie sprachen, räumte sie den Tisch auf und machte das Essen fertig. Justus hatte ohnehin immer die Ange­wohnheit, im Mantel zu bleiben und sich nicht hinzusetzen. Meist im Stehen und umherwandernd wurde dieses und jenes angesprochen. Er legte ihr zwei Kräuterbonbons auf den Tisch. Sie zeigte ihm ihre ge­braucht gekauften Schlangenlederschuhe vom Schuster. Während sie sprachen legte sie ihre rote Korallenkette an und steckte sich einen klei­nen Kamm ins Haar. Ganz ungeniert schaute er zu.
Sie sprach ihn auf die neue Location Kunst + Technik an. Er meinte, gleich daneben wür­den die Penner hausen. Heute abend hatte sie keine Lust, sich mit ihm im Bethanien zu treffen. Sie vermutete ohnehin den üblichen Künstler-Bluff mit berühmten Namen. Er selbst hatte sich mittlerweile auch anders ent­schieden. Sie wunderte sich, daß er in letzter Zeit häufiger den Kontakt suchte, aber vielleicht auch eher zu Peter als zu ihr. Trotzdem freute sie sich immer über seinen Besuch.
Er hatte immer etwas Schmunzelndes und war gerne zum Scherzen aufgelegt.

Freitag, 18. September 1998. Realien. Peter geht zum Mietverein, um sich gegen eine 500,- DM-Zahlung zur Wehr zu setzen, die ihm unrecht­mäßig sein Vermieter aufgebrummt hat. Sie geht zu ihrem Web-Master, um die neue Internet-Gestaltung des Verlages in die Tat umzusetzen. Auf n-tv wird die magische Dax-Marke von 4,5 gemeldet. Eigentlich ein Indikator für eine Weltwirtschaftskrise. Asien und Südamerika lie­gen ökonomisch darnieder. Sie selbst  hängt mit zehntausend Mark in der Börse mit Aktien drin.

Das Internet-Tagebuch von Goetz liest sich mittlerweile wie die ewige Nörgelei eines Asozialen. Seine Fixierung auf die Boulevard-Blätter ist trotz allen Pop-Interesses abstoßend. Sie liest Fetzen dieser Sprache in der U-Bahn. Eine alte Frau blättert in einem Prospekt mit der Überschrift “Fahrziel: Kultur-shopping”; ein Kind blättert in einem Bunt-Blatt mit der Überschrift “Hausaufgaben im Urwald”. Es ist zum Lachen und zum Weinen. Als sie sich entschließt, es von der lustigen Seite zu nehmen, da schaut sogar der Fascho-Hertha-Fußballfan von gegen­über auf, weil sie das Grinsen nicht unterdrücken kann.
Spät nachts hörte sie noch einmal GOOD DOG und das letzte Musik­stück enthüllt Sätze der Penner auf der Straße. Einer davon lautet “Try to live your own life”. Was hieß da own life? Seit über 25 Jahren hatte sie ihr Leben dem Verlag, dem Werk gewidmet.
Sie schrieb einen langen Brief an ihre Mutter. Während sie schrieb, hatte Peter eine Femsehserie eingeschaltet. Sie störte dieser Fernsehsound. Um davon abzulenken, telefonierte sie mit Johannes Gachnang, um das Exemplar seiner Neuerscheinung einzuklagen [Musée antiégoïste. Reisen mit der Kunst, hrsg. von Christiane Meyer-Thoss]. Wie sollte sie eine Rede auf sein Buch halten, wenn sie das Buch nicht erhalten und demzufolge auch nicht gelesen hatte?! Johannes verwies sie auf das Manuskript, das in diesem Fall geschickt werden müsse.
Sie dachte an die Frau heute beim Web-Master: typisches Lesben-Männer-Outfit. Früher hatte sie solche Frauen gemieden. Heute konnte sie sie verstehen. Sie signalisierten von vornherein, in welche Richtung sie orientiert waren. Sie selbst changierte mit ihrem Outfit in alle Richtun­gen. Einerseits verhinderte Schuhfetischistin, dann wieder Prolli-Outfit, dazu ehrbarer Familienschmuck, dazu japanisches Seidentuch. Sie entschied sich für das Spiel. Nicht das der Schauspieler, sondern das der life-player.
TV-Film Sea of Love/ Melodie des Todes, Regie Harold Becker 1989 USA. TV-Film Lolita, englischer Spielfilm von 1961, Regie Stanley Kubrick. Lolita, der Name aus Tränen und Rosen.

Sonntag, 20. September 1998. Altweibersommer. Autoreise ins Umland, nach Rheinsberg, mit Almuth [Carstens] und Cathy. Angels on travel. Geräucher­ter Aal und frische Pilze.
Abends Finissage von AUDIOROM in Club Kunst und Technik. Henri Michaux schreibt in seinem Text Schwierige Reise:”… unglaublich schwierig, daher mußte ich eine seltsame Form annehmen.”
Justus hatte ihr ein Kopfkissen geschenkt. Es war eigentlich gar kein Kopfkissen, eher eine Nackenstütze aus Asien. Sie hatte sich von ihm dieses Teil erbeten, aus praktischen Gründen, zum Femsehen als Rücken­stütze.

Dienstag, 22. September 1998. Lektüre von Tschingis Aitmatow Dschamila (Insel-Ausgabe von 1986) in der Übersetzung von Hartmut Herboth. Nachdem sie eine Weile ge­braucht hatte, sich einzulesen, schnellten die Augen mit einem Mal über die Zeilen, streiften nur leicht die Worte und sie flog dahin, getragen von einer Stimmung, einer Weite, einer Musik. Malerische Steppenland­schaft, filmische Plastizität, ansprechende Frauenfigur. Eine feine klei­ne Liebesgeschichte.

Kino Out of Sight von Soderbergh USA 1998. Ein viel zu schöner glatter Bankräuber, eine attraktive FBI-Agentin, eine humorvolle Love-Story. Dichte Kamera, gute Dialoge. Kein Jahrhundertwerk, eine unterhaltsa­me Momentaufnahme im leichten Erzählton. Göttler hatte in der Süd­deutschen Zeitung auf den Film angespielt als ein bestimmter Stil der 90er Jahre.

Mittwoch, 23. September 1998. Die Umgestaltung der Merve-Webseiten enthielt einen Programmierfehler, so daß der Netscape-Navigator je­desmal sich ausschaltete, sobald sie den Merve A-Z-Katalog anklickte. Offenbar war die Datei zu groß, so daß sie den Speicher des Navigators überforderte. Aber es mußte auch ein Programmierfehler vorliegen, denn die A-Z-Datei war nur um weniges größer als der chronologische Gesamt­prospekt, und der ließ sich öffnen, wenn auch die Ladezeit mindestens 60 Sekunden dauerte. Viel zu lang! Dabei hatte sie gerade alle überflüs­sigen Bildchen aus der alten Web-Seiten-Gestaltung herausgenommen, um den Zugriff auf die direkte Buchinformation zu beschleunigen. Ins­gesamt hatte sie die gesamte Netzpräsenz bereits mehr als 1000,- DM gekostet und dagegen hatte sie für 267,- DM netto Bücher verkauft! Dazu war aber zu sagen, daß die www.merve.de-Adresse bislang nur über die Buchhändler-Vorschauen verbreitet worden war. Erst in diesem Herbst würde sie über den Gesamtprospekt weiter verbreitet werden. Bis dahin mußte die Gestaltung stehen!

Frau Ute Bergmann vom Südwestfunk vermeldet, daß das Kapielski-Buch auf Platz 5 der Kritiker-Bestenliste im Oktober steht und tv-3sat am Sonntag, 18. Oktober um 10 Uhr morgens eine Sendung dazu bringt. Na prima! Das hatte sie Olaf [Schulze-Steinhaus, Antiquariat Kalligramm] und Elke Schmitter zu verdanken. Das Kapielski-Buch hatte es aber auch verdient!

Donnerstag, 24. September 1998. Blauer Himmel, klare Luft, mildes Sonnenlicht, Frösteln. Das Tagwerk ist getan. Ruhige Ausgeglichenheit. Die Weintrauben reif und süß. Beim Asia-Food-Shop Wilmersdorfer Straße hatte sie Mango-Chutney, frischen Koriander und Zutaten für Wan-Tan-Suppe gekauft. Peter kaufte zwei Käfer, die wie Riesenkakerlaken aussahen, meng-da hießen, was aber auch ein Wort für Zuhälter ist, aber offenbar auch eine thailändische Delikatesse. Bloß wie zubereiten? Die Dinger ekelten sie zutiefst.

Sie erkundigte sich bei den Machern vom Kunst+Technik-Club nach einer möglichen Präsentation des Merve-Videobandes PAROLE. Ihrem Web-Master Ulf Schleth von txt mußte sie Druck machen, daß er end­lich die verheerenden Programmierfehler aus den Merve-Web-Seiten beseitigte. Der Drucker vermeldete den fertigen Gesamtprospekt, der dieses Jahr das Motto trug “Die Kunst ist nie ein Ziel, sie ist nur ein Mittel, um Lebenslinien zu ziehen.”

Freitag, 25. September 1998. Lektüre des 300-Seiten-Manuskripts von Johannes Gachnang Musée in Vorbereitung ihrer Rede auf der Buchmesse bei der Galerie Grässlin in Frankfurt.

Samstag, 26. September 1998. 14-20 Uhr. Die Gruppe 93 beim Umzug eines ihrer Mitglieder. Schwere körperliche Arbeit. Aus dem 3. Stock in den 2. Stock schwere Gewichte tragen, vornehmlich Bücher natürlich. Erst am nächsten Tag sollte sich die körperreinigende Wirkung dieser Anstrengung zeigen.

Sonntag, 27. September 1998. Deutsche Bundestagswahl. Vormittagsspaziergang zum Wahllokal. Für sie ein Wahlgang nach 20 Jahren Anarchie, sprich Nicht-Wählerschaft. Wahl für einen Politikwechsel. Allgemeine hohe Wahlbeteiligung mit 80 Prozent Ein Medien-Wahlkampf amerikanischer Prägung. Nach 16 Jahren Ära Helmut Kohl ein Kanzlerwechsel. Gewinner SPD, Verlierer CDU.

28. September 1998. Beim spätmorgendlichen Alltagseinkauf das diffuse Gefühl eines besonderen Tages. Der Wechsel in der Politik hat stattge­funden. Obwohl Politik nicht der Horizont ihres Denkens ist, scheint ihr etwas Neues begonnen zu haben.
Tagsüber Vorarbeiten für die Rede auf der Frankfurter Buchmesse zu Johannes Gachnang.

Abends Besuch von Tom Lamberty aus München, Personalmanager bei Siemens, alter Freund von Kurt Leiner, dessen nachgelassene Texte Merve teilweise publizieren möchte. Kurt, eine Berliner Szene-Figur, mit 33 Jahren an Heroin gestorben, hinterläßt ein umfangreiches Schrift­material zum Thema Held, Sexualität und Technik. Tom hat als alter Freund von Kurt sich unmittelbar nach dessen Tod den Rechner von Kurt ‘gesichert’ und somit Zugriff auf Kurts Festplatte und sämtliche Textversionen. Rund 2000 Seiten. Und Tom selbst hat sich als Compu­terspezialist biographisch bis in die Spitzenetagen von Siemens durch­geschlagen. Fast zu perfekt dieses Knowlegde und die Spannweite sei­ner Interessen und Kenntnisse. Zugleich eine seltene Begegnung wegen des weiten Horizonts und der Offenheit des Gesprächs.
Tom brachte Fotos mit vom tätowierten Leichnam Kurts: Kurt habe nämlich testamentarisch verfügt, daß ihm nach dem Tode die Haut abgezogen werde. Seine mutige Mutter hatte diesen Willen ihres Sohnes wider al­len Rechts heimlich durchgesetzt und bewahrte hinfort die tätowierten Hieroglyphen als konservierte Hautpräparate in ihrem Haus auf. “Erst müssen wir erzählen. Und dann können wir geistig überhöhen. Aber eigentlich geht es um Schicksale.”

Donnerstag, 1. Oktober 1998. Beim Buchhändler eingetroffen das vorbe­stellte Buch von Rainald Goetz Jeff Koons. Ein Stück. Mehr als 30 DM für nur 160 Seiten, dazu die Vorbemerkung: “Wir danken Mercedes-Benz für freundliche Unterstützung”. Das allein genügte für ihr Urteil: “The Party is over!”
Danach schnelle komplette Lektüre, teils in der U-Bahn. Nichts Neues unter der Sonne, derselbe Redefloskel-Stil. Fini. Aber als sie das Buch ins Regal stellte, da wußte sie bereits, es sollte noch einmal in diesem Jahr gelesen werden. So einfach ließ sich die Sache nicht ab­tun. Gerade diese Mischung aus Neugier und Enttäuschung, aus Faszination und Banalität ließ sie nicht los.
Vielleicht war es ja gerade deshalb ein großartiges Buch, weil es kein klar umrissenes Sujet besaß, sondern mehr so stimmungsmäßig aus der Mitte heraus ins Offene hin­ein sich bewegte. Aus der verschachtelten Akt-, Szene- Bild-Numerierung wurde sie nicht schlau. Um dieser gesplittenen Ort-Zeit-Konstruktion auf die Schliche zu kommen, brauchte sie die Plastizität einer Theateraufführung dieses Stücks, so wie Krieg in Hamburg ihr die Sache mit einem Mal vor Augen geführt hatte.
Aus der Lektüre ergab sich diese Evidenz nicht. Wer was wann wie? Von seiner Schreibweise könnte sie einiges lernen. Auch faszinierte sie seine künstlerische Intelligenz, seine seismographische, blitzschnelle, haargenaue, treffsichere Aufmerksamkeit, seine Akribie in feinsten Nuancen. Darin steckte natürlich auch enorm viel Arbeit. Wenn sie aber ernsthaft dem eigenen Interesse an seinem Werk nachgehen wollte, dann würde das den Rahmen sprengen. Deshalb hatte sie den Buchdeckel so schnell wieder zugeklappt.

16 -19 Uhr Eröffnungsfeierlichkeiten der internationalen Kunstmesse ARTFORUM in den Messehallen am Funkturm. Sie selber sucht dabei die Begegnung mit Bekannten und Freunden, ihr Compagnon wendet sich hingegen den ausgestellten Kunstwerken zu. Plötzlich im Getriebe Harry Szeemann, der künftige Biennale Venedig Chef, lässig wie immer, Schmunzeln um die Augen: “Ihr seid also immernoch eine Kooperative?” fragt er. “Na klar”, antwortet sie. Das Wort “Kooperative” gefällt ihr als Bezeichnung für das undefinierbare und immer wieder andere Merve-Gespann.

Freitag, 2. Oktober 1998. Halber Tag Computerprobleme zu lösen versucht. Immerhin mit einem Erfolgserlebnis. Nach der Installation eines Konvertierungsprogramms kann sie nun via CompuServe empfangene Dateien lesen, allerdings nur Macintosh-Dateien, Dos-Dateien kommen immernoch verstümmelt an. Andere Hälfte des Tages Quartals­buchhaltung.
Offizielle Eröffnung der Mercedes-City am Potsdamer Platz unter dem Motto “Morgen beginnt die Zukunft”. Morgen ist der Tag der Deutschen Einheit.

Samstag/Sonntag 3./4. Oktober 1998. Tag der Deutschen Einheit. Feier­tagsstimmung. Ansprachen im Fernsehen. Das Deutschlandlied. Der Sonntagsbraten. Spaziergang zum neueröffneten Potsdamer Platz. Himmel und Menschen. Typisch, die neugierigen Berliner: alle mal kieken jehn. Das Quartier heißt jetzt Daimler-City. Schön, daß sie die alten Linden haben stehen lassen. Schneeregen.
Am Nachmittag Quälerei mit der Gachnang-Rede zur Buchmesse. Wie das Lampenfieber, das jetzt schon da ist, bekämpfen?

Montag, 5. Oktober 1998. Letzte Vorbereitungen zur Buchmesse: Bank, Post, Schlüssel abgeben, Anrufbeantworter neu besprechen, Reinigung, Einkäufe … Dazwischen zwei Stunden Berlin-Besuch von drei japanischen Anthropologen zusammen mit François Séguret aus Paris. Thema: Gedächtnis, Erinnerung. Irgendwie unklar, welche Interessenlage da ist. Sie freuen sich über den dargereichten grünen japanischen Tee und am Ende wird alles fotografiert: der Designer-Stuhl von Stiletto, die S-Bahn-Aussicht und und und.
Abends lange Redaktionssitzung am Agamben-Text mit Maria Zinfert und Andreas Hiepko.

Dienstag, 13. Oktober 1998. Nach sieben Tagen Frankfurter Buchmesse ist sie total leergeredet. Von morgens bis abends Gespräche mit Übersetzern, Vertretern, Verlegern, Autoren, Volontären, Agenten, Journalisten, Redakteuren, Lektoren, alten Freunden und Fremden. Über Humor, Transformationsgesellschaft, herrliche Verrückte, Tagebücher, Ziegen, Vortragsstile und und und …

Am ersten Abend ihr Glanzlicht: “Das Musée antiégoiste ist der Idee der Gemeinschaft verpflichtet, der Gemeinschaft mit Menschen, Bil­dern, Bauten und Büchern im Glauben an die Kunst”; am zweiten Abend herzhafte Lach-Performance von Kapielski in der Städelschule, am drit­ten Abend danebenbenommen gegenüber Kasper König vom Portikus. lhr Compagnon ist in Hochform. Alles in allem erfolgreich. Und das schön­ste Ergebnis: ihre Augen hatten den Glanz von innen wiedergewonnen.
Zurück in Berlin reif für Friseur, Bräunungsstudio und Fußpflege. – Im Internet-Tagebuch Goetz’ Buchmessenbericht: Merve, Kapielski und Galerie Grässlin sind per Distanz mit von der Partie. – Auf dem Heim­weg am Abend nach Postaufarbeiten und Messenachbereiten mit dem Koffer auf dem Fahrrad noch Station auf zwei Rotwein allein an der Bar zum Abspannen. Draußen radelt Justus vorbei. Zu Hause ofenheizungs­kalt. Im Dunkeln entspannt Musikhören.

Donnerstag, 15. Oktober 1998. Geburtstag von Michel Foucault, 1926. Bereits beim Aufstehen schon erschöpft. Beginnende Erkältung. Quartalsbuchhaltung, Korrekturen für den Bilanzabschluß 1997.
Abends daheim Zeitungsausschnitte lesen über Literaturdebatten in Paris, über die Warhol-Factory-Ausstellung in Wolfsburg, über den Konstruktivismus in der progressiven Pädagogik – alles mehr oder weniger belanglos. In der Wohnung über ihr spielt jemand leise Klavier, die einzelnen Töne der Melodielinie suchend. Endlich hat sie den chinesischen Steindruck auf Reispapier aufgehängt, Bambuszweige mit konfuzianischen Sinnsprüchen. Lektüre des Informationsblattes ihres Steuerberaters zur Euro-Umstellung, Lektüre eines Essays von Aurel Schmidt zur Aktualität von Montaigne im Basler Magazin

Freitag, 16. Oktober 1998. Goldener Oktober. Mittagessen mit Justus beim Inder. Justus bringt ein Heft von Johan Lorbeer Performances mit. Darin liest sie den Aufsatz “Über Prioritäten und Präferenzen: Wie könnte ein Workshop zur Kunstkritik aussehen?” von Harald Fricke und findet darin eine Kunstdebatte, die sich parallel zu der Mervepublikationsstrategie vollzieht. Hochinteressant!
Daraufhin erfragte sie bei der Galerie Hetzler die Öffnungszeiten wegen der Architekturfotos von Julius Shulman. Dem Galeristen würde sie gerne eine Baudrillard-Fotoausstellung vorschlagen. Peter macht die Abschluß­redaktion des Agamben-Buches.
Abschiedsabend mit Justus. Gemeinsamer Femsehabend im Verlag. Zwei Derrick-Krimis, die 235. Folge als letzte Sendung, und der allererste Derrick vor rund 25 Jahren. Beim gemeinsamen Zuschauen schnurren die Fernsehabende zusammen, welche Serien in welchem Alter man gesehen hatte. Irgendwann kam die Hamburger Hafen-Krimiserie von früher ins Gespräch und es schien, als würden sie einander verstehen. Dann sprachen sie über Pots­dam und andere Städte am Wasser. Justus zog die Schuhe aus und legte die Beine hoch. Sie machte es sich im Barocksessel bequem. Irgend­wann schaltete sie um auf einen alten ostdeutschen Krimi. Dabei zerre­deten sie sich. Zeit zum Aufbruch. Ein schöner Abend.

Sonntag. 18. Oktober 1998. Frühstück im Bett. Immernoch ein bißchen krank. Dabei auf 3sat-Bestenliste mit Kapielski auf Platz 5. Er lobt das noble Merve Label und macht auch sonst eine gute Figur. Der Tag ist gerettet. Spaziergang bei stürmischem Wind zum Potsdamer Platz. Das I-Max-Kino ist ausverkauft. Rückweg über die Potsdamer Straße, am Kumpelnest vorbei. Dann Frühstückssekt im Anderen Ufer. Gerhard Hoffmann kommt vorbei. Er hat das Ufer verkauft, gerade gestern, er­zählt er strahlend. Zurück im Verlag. Im Fernsehen gibt es die ewige Sofia Loren, die die Märchenprinzessin aus dem einfachen italienischen Volke spielt. Erst in Gedanken und dann real, geht sie nochmals einer Anspielung von Johannes Gachnang nach, dem Titel Eloge au sujet in Anlehnung an Marcel Broodthaers. Gachnang hatte also erkannt, daß ihre Frankfurter Rede ein medialer Trick ihrerseits war, nämlich die Sache selbst sprechen zu lassen.
Sie hatte ihre Ringe wieder umgetauscht: den Türkis-Ring am linken kleinen Finger und den Brilliant-Ring am rechten Ringfinger.
Abends ein bißchen versucht, sich auf LA einzustimmen, ob sie das Gachnang-Reiseangebot zum Schindler-Haus annehmen soll. Sie ver­glich diese eher Wiener Architektur à la Loos mit dem Kaiserpalast in Kyoto. Schon reizvoll. Ansonsten reizte sie weder der Sunset Boulevard noch Santa Monica. Peter las dazu ein bißchen aus Wolfgang Koeppen’s Amerikafahrt vor. Aber dem gedrechselten Stil, mit dem er Los Angeles als den Garten Eden für Asiaten und Mexikaner pries und auf Hawai und Bali verwies,  konnte sie nicht lange zuhören.

Sie ging an den Computer und schrieb Reinhard Voigt eine e-mail, ehemals LA, jetzt Georgia. Die Vorstellung, Gachnang durch die Gegend zu kutschieren über die endlosen Highways, wollte ihr gar nicht gefallen. Einen Chauffeur mit Wagen müßte schon sein. Aber von LA hielt sie auch die Vorstellung ab, daß da hauptsächlich über Filme gesprochen wurde. Auf dem Gebiet hatte sie ja nun wirklich überhaupt nichts zu bieten. Sie dachte daran, wie sie in Frankfurt an der langen Tafel neben Gachnang gesessen hatte und wie der Künstler Förg im angetrunkenen Zustand per Handschlag die gesamte Merve-Reihe gekauft hatte. “Yes please!” hatte am Schluß auf Gachnangs Postkarte gestanden.
Sie nahm das Heftchen der Schindler-Foundation in die Hand und begann zu lesen: Wien, Otto Wagner, LA, Frank Lloyd Wright, Wrights Asiensammlung. Aha, daher die Idee des nach innen hin geöffneten Hauses. Alles klar. Was würde sie in LA machen?
Ghetty-Stiftung
Coca-Cola Haus
Schindler-Haus
MOCA
Mondrian Hotel designed by Philip Starck
St. James, Mulholland Drive
Château Marmot
Bay Side Hotel, Santa Monica, Dream Drive

Montag, 19. Oktober 1998. Immernoch Zeit für das Nachziehen der Lebenslinien? Eigentlich nicht. Der schnelle Strom in der Bewältigung der Aufgaben hatte sie längst mitgerissen: die alljährliche Prospektaus­sendung, Peters Rentenangelegenheit, Grüße zum 50. Geburtstag an Hannes Böhringer nach Madison senden, e-mail an Dirk Baecker we­gen seines romantischen Staatsartikels in der taz, e-mail an Aurel Schmidt zum Dank für den Bücherpick-Artikel zu Montaigne, Besuch von Eva-Maria Schön, eintrudelnde Bücherpakete von der Messe und und und. Anfang Oktober ist die arbeitsreichste Zeit: noch Ernte einfahren, schon die Frühjahrssaat ansetzen. Sedlaczek schickte die erste Übersetzung für das Frühjahr. Michel Onfray Die Formen der Zeit.

Dienstag, 20. Oktober 1998. Kapielski kommt vorbei und erzählt von seinen Baden-Badener Fernseherfahrungen. Husen Ciawi kommt dazu und sie besprechen den gemeinsamen MerveSalon Wohnzimmerum am 30. Okt. 1998. Sie liest die komplette Übersetzung von Onfray’s Formen der Zeit.

Mittwoch, 21. Oktober 1998. Alltagshektik um die Dinge für das neue Jahr anzuschieben, vorzubereiten, voranzutreiben …

Donnerstag, 22. Oktober 1998. Redaktion von Sedlaczek’s Onfray-Übersetzung Formen der Zeit.

Freitag, 23. Oktober 1998. Brief an Sedlaczek, München mit der Korrekturliste; Brief an Martin Weinman, Wiesbaden wg. 2001-Projekt; Brief an Hofbauer, Berlin mit Zahlungsaufforderung; Brief an Peter Garland, Mexico mit FAZ-Rezension; Brief an Mira Köller Paris wg. Deleuze-Projekten Brief an Hannah Satz, Israel wg. tv-cremation-video,  Brief an Tom Lamberty, München wg. Kurt-Leiner-Projekt. Einkäufe, Postbank, Friseur, Buchhandlung, Thai-Essen. Abends erster Entwurf für die Vorschau Frühjahr 1999.

Samstag, 24. Oktober 1998. Besuch der Galerie Hetzler in Mitte,
Julius Shulman-Fotographien von Californischen Super-Villen. Sie ist begeistert. Abends Frauenabend bei Almuth, gemeinsame Interneterfahrungen sammeln, Tricks und Adressen austauschen, surfen, chat-rooms besuchen. Viele herzliche Lacher. Dann noch in strömendem Regen mit Cathy im Ex+Pop abhängen.

Sonntag, 25. Oktober 1998. Trübes Wetter wie am Totensonntag. Im Verlag ist nicht geheizt. Im Bett komplette Lektüre von Joseph Conrad Der Geheimagent. Justus ruft an wg. evtl. Treffen an seinem letzten Abend in Berlin. Peter lehnt ab wg. schlechtem Wetter. Sie wird gar nicht erst um ihre Meinung dazu gefragt.

Montag, 26. Oktober 1998. Einladungen für den Kapielski-Husen-Salon bei Merve per Fax rausgeschickt. Abends im Kino mit Simone Bernet Love is the Devil, ein experimenteller Film über den Maler Francis Bacon. Sehr interessant. Hernach Saufabend mit Simone rund um den Herrmannplatz.

Goetz im Internet-Tagebuch:
“Es ist kein Herbst
in dem Blätter fallen
sondern die Freude
an den vielen Farben.”
Schön!

Dienstag, 27. Oktober 1998. Lektüretag im Bett, Vorbereitungslektüren zum Thema Beschreiben – Mein Bild der Kunstakademie, ein Beitrag für das Jahrbuch der Braunschweiger Hochschule der Bildenden Künste. Erstmal sondieren, ob ihr etwas dazu einfällt und danach entscheiden, ob sie überhaupt zusagt. Keine leichte Aufgabe, aber vielleicht kann sie sich ja dadurch gut plazieren in dem Professoren-Karussell. Die große Frage war ja, wo sie ihren eigenen Platz in solcher Kunst-Institution ansiedeln würde.

Mittwoch, 28. Oktober 1998. Die diversen Copyright-Angelegenheiten in Sachen Manet weiter vorangetrieben. Versucht, die unverschämt hohen Preise der Museen zu drücken. 90 Dollar für das Ausleihen eines einzigen Ektachroms, dazu nochmal 100 Dollar pro Bild Abdruckrechte. Die amerikanischen Copyright-Tanten in den Museen, mit denen sie per e-mail verhandelte, waren ziemlich hart, aber nicht knallhart. Die allwöchentliche Gruppe 93, ihre Deleuze-Lektüre-Gruppe, war ziem­lich ausgelassen. Alle redeten durcheinander, hier wurde gefrotzelt, da in Frage gestellt, kleine Anspielungen in Richtung Fabian. Sie sollte eine Sitzung in seinem Liebes-Seminar (Roland Barthes versus Luhmann) übernehmen. Was würde er sich denn das kosten lassen?

Donnerstag, 29. Oktober 1998. Waschzettel-Text für den neuen Baudrillard-Band Das radikale Denken verfaßt. Eigentlich nur eine Übersetzung einer Baudrillard-Passage, aber bei einer solchen “Übersetzung” war jedesmal eine Neuschöpfung fällig. Und das Dreieck Den­ken-Wirklichkeit-Ereignis traf einen Kern ihres Erkenntnisinteresses. Mit dem Börsenblatt der Deutschen Buchhändlervereinigung die Merve-Preisänderungsannonce besprochen und bei Vertrieben und Vertretern angefragt, ob sie diese Preisanhebung ebenfalls vertreten würden/könnten. Indirekt gehörte diese neue Preisstrategie, die sie angeleiert hatte, zu den Euro-Vorbereitungen.
Peter war wieder einmal zu faul, sich den Mühen dieser Veränderung zu unterziehen, und ließ sie machen. Seit sie ihm in den letzten Tagen keine Aufgaben zugewiesen hatte, lümmelte er Zeitung lesend auf dem Bett herum, rauchte schon morgens nach dem Frühstück sein Pfeifchen und entwickelte im Laufe der Trägheit Unwohlseinsgefühle. Mittags verließ sie dann den Verlag, zog sich in ihre kalte Ofenheizungswohnung zurück und studierte den dicken Kolloquiums-Katalog des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medientechnologie zum Thema: “Werden die Akademien in unserer Zeit verdrängt?”
Abends ging sie dann allein ins Restaurant, sich bei einer Suppe etwas aufwärmen. Dann noch ab ins Dorfkino um die Ecke, die Sinne entleeren bei irgend­einem Polizeifilm, und als sie sich dann immernoch nicht zum Schla­fen entschließen konnte, las sie noch zwei Erzählungen von Arthur Schnitzler: Der Andere und Sterben.

Sonntag, 1. November 1998. Das Kapielski-Event war am Samstag vorbeigerauscht. Dabei hatte Mister Hu als Maître de Plaisir wunderbar durch den Abend geleitet. Und was hatten sie gelacht bei Kapielskis taz-Attacke. Sie selbst hatte zwischendrin noch die Freunde bedacht: Nana die japanischen Videos geben, Almuth den Zimmermann-Artikel über Garland aus der FAZ, Cathy mit der Bachmann-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff bekannt gemacht, Kapielski die Unterlagen für den 10.000-DM-Preis geben …
Dann im Ex+Pop kleines Tänzchen mit Almuth, einen Schlenker vorbei am gut gelaunten Schmidgen.

Dienstag, 3. November 1998. Kundenkonten der Berliner Buchhändler durchsehen. Mahnen. Abrechnungen machen. Dann 17.30 Uhr im Dunkeln bei Regennässe heimradeln in ihre kalte Junggesellenwohnung. Das komplette Tagebuch 1998 bis zum heutigen Tag durchgelesen. Die Zeit Revue passieren lassen.
Heute war in der FAZ-Literaturbeilage auf Seite 3 eine groß aufgemachte Goetz-Besprechung unter der Unterüberschrift “Wo Sprache war, soll Rhythmus sein, und wo Haß war, sieht man nur noch Schweiß.” Puh!
Sie holt aus der Aktentasche das Fax von Aurel Schmidt mit der heute erschienenen Rezension seines Merve-Buches. Na prima. Grund zur Freude.

Mittwoch, 4. November 1998. Sie war wie erschlagen. Die Arbeit hält sie aufrecht. Wie sehr sie doch ihren Beruf liebt, wird ihr erst in solchen Momenten klar, wo sie eigentlich aus der Bahn geworfen ist. Die öffentliche Nennung ihres vollen Namens in Goetz’ Internet-Tagebuch hatte sie entsetzt. Es war, als wenn jemand vor allen Leuten mit dem Finger auf sie zeigt. Hatte sie nicht mehr als 25 Jahre genossen, quasi incognito ihren Verlag machen zu können?! Sie liebte eigentlich bei der Lektüre von Goetz’ Tagebuch, daß es wie eine Flaschenpost wirkte. Man durfte sich angesprochen fühlen, wovon man wollte. Die Namensnennung verdarb dieses beziehungsreiche Spiel. Nun ja. Mancher Ernst der Sache gebot vielleicht die Faktizität.
Walter Seitter hatte ihr heute in seinem Brief einen wichtigen Hinweis auf die Ökonomie der Aufmerksamkeit gegeben. Nach den Träumen das Wachen. Simone hatte ihr heute in der Mittwochsgruppe zum Trost eine Stelle aus Sarah Kofmann vorgelesen.
Woraus bezieht man sein kreatives Potential?

Donnerstag, 5. November 1998. Morgens um zehn Uhr liefert der Drucker die drei neuen Nachdrucke: IMD 83, 165, 182. Dann rief Brandolini an, um die definitive Zusage zum Saarbrücken-Projekt zu vermelden. Noch in diesem Monat wäre die Pressekonferenz, sie solle mal Material für die Pressemappe zusammenstellen. Eva-Maria Schön kommt vorbei, um ihre eigene Performance mit der japanischen Tänzerin Junko Wada zu besprechen und Präsentationsvorschläge für Peters China-Fotoausstellung zu machen.
Zwischendrin konferierte sie mit der Managerin von Dr. Motte und korrigierte die neuen Preisilisten für den Jahresanfang. Kathia Drescher rief an, um Westbams Lesung anzukündigen. Na prima. Dann würde es ja bald wieder ein date mit den boys geben. Bei den Telefonaten wurde sie wegen ihrer dunklen Stimme häufig für einen Mann gehalten.

Freitagabend, 6. November 1998.  Sie hatte seit langem mal wieder die Madame Butterfly der Callas aufgelegt. Kurz entschlossen rief sie ihren Compagnon an, um mitzuteilen, daß sie doch gerne zu der Wolfsburger Andy-Warhol Ausstellung fahren würde. Das neue VW-Museum nutzte die neue ICE-Bahntrasse, die direkt am Mittellandkanal und an den VW-Werken vorbeiführte. Ihr bisheriges Programm: Pink Floyd, Bruce Naumann, Warhol-Factory. Ein Mittelding aus Pop, Retro-Mode und neuer Kunst.

Es war gut für Merve, daß sie mit Kapielski einen Autor im Programm hatten, der das beinahe vergessene Lachen wieder zur Geltung brachte. Dadurch würde das allzu strenge Merve-Image etwas aufgehellt.

Sie begann ein wenig in Heinrich Hertz’ Text Licht und Elektricität zu blättern, um zu prüfen, ob sie diesen Fund aus dem Archiv noch für das Saarbrücker Licht-Projekt verwenden könnte.

Ihre Kontakte waren immer so gestört, weil sie Bild und Wort, Hören und Sehen, nicht gleichzeitig wahrnehmen konnte. Wenn sie nicht hinschaute, dann konnte sie wohl zuhören, aber wenn sie sich zwang, richtig hinzuschauen, dann hörte sie nicht mehr, was gesagt wurde.

Plötzlich fiel ihr ein, daß es doch etwas zu bedeuten hätte, daß am 5. November in der FAZ das Manet-Bild Bar in den Folies-Bergère abgedruckt worden war, zusammen mit einem Artikel über die Londoner Courtauld-Stiftung. Sie hatte gerade von diesem Museum die Abdruckrechte für eben dieses Bild erworben, und zwar für den Foucault-Manet-Band. Sie mußte noch mal genau ermitteln wann und wieviel.

Samstag, 7. November 1998. Peter und sie fuhren mit der S-Bahn zu Dirk Baecker nach Pankow. Eigentlich mochte sie keine Wohnungsmeetings, das war ihr immer zu häuslich und zu eng. Aber zu Dirk hatte sie einen guten Draht. Da wurden immer in Sekundenschnelle wichtige Facts ausgetauscht, bevor die Allgemeinheit ins Labern verfiel. Diesmal saßen lauter Theaterleute um den großen Küchentisch und es wurde über Schlingensief debattiert.
Irgendwann regte sie Dirk an, in seine Daimler-Management-Seminare ein paar gescheiterte Figuren einzuladen: quasi als Kontrast-Programm zu den Karrieristen. Neben ihr saß eine junge Regisseurin, die das nun endlich bei Suhrkamp veröffentlichte Brecht-Fatzer-Fragment zur Aufführung bringen wollte. Sie riet ihr als Aufführungsort das Atrium vom american-business-center, dem Philip Johnson-Bau. Sie gab ihr auch ihre Visitenkarte, weil sie das Video vom Schlingensief-Auftritt in der Harald Schmidt-Show sehen wollte.

Sonntag, 8. November 1998. Im Magazin der Berliner Zeitung erschien eine längere Rezension über Kapielski’s Merve-Buch von Robin Detje unter der Überschrift “Wie Thomas Kapielski die Hauptstadt einmal vor der ‘Generation Berlin’ rettete.” Bildunterschrift: “Eine morsche Welt postheroischen Heldentums in Kapielskischem Milljöh”. Fazit des Artikels: “Aus diesem Buch wird man irgendwann einmal mehr über uns lernen, als aus den neuen großen Berlinromanen, die sicher schon bei Staffels oder Altenburgs in der Mache sind.”

Fax von Tom Lamberty. Das Qrt-Buchprojekt konnte über die Bühne gehen. Qrt’s Mutter hatte 50 Tsd. DM auf einem Konto bereitgestellt. Qrt, der junge Drogentote, eigentlich Konradin Leiner, von dem es in der Todesanzeige hieß:
“Mit Konradin ist der letzte männliche Namens­träger der alten Konstanzer Patrizierfamilie Leiner gestorben.”

Gachnang entschuldigte sich, daß es mit ihrer geplanten Weihnachtsreise nach LA zum Schindler-Haus vorerst mal nichts wird, er ist wegen seinem großen Weimar-Ausstellungsprojekt zeitlich blockiert. Darauf rief sie Seitter an, wann und wo er in diesem Winter auf Fuerteventura sei. Er nannte ihr gleich seinen Club und würde sich freuen, sie dort unten in der warmen Sonne zu treffen. Mal sehen, was das Reisebüro dazu sagt. Es war ja schon ziemlich spät zum Buchen.

Montag, 9. November 1998. Reichskristallnacht, Mauerfall.
Der Vorgang der kreativen Produktion, der Schöpfung:
das Nachzeichnen der Reflexe, Affekte, Denkvorgänge
die Stenographie des Augenblicks
die eigene Existenz unters Experiment stellen.

Die vergangenen Nächte war sie spät schlafen gegangen, oft wieder mittendrin aufgewacht, früh aufgestanden. Teile des Alltagsgerüstes waren eingebrochen: kein geordneter Haushalt mehr, keine festen Essenszeiten. Stattdessen Schweißausbrüche von der Arbeitshektik. Parieren, pushen …

Abends endlich eine Stunde Ruhe. Durchhören ihres Jahresmusiktagebuches. Wie fühlt es sich an? Was fehlt? Ihre diesjährige Mischung würde sie als einen musikalischen Tapetenwechsel bezeichnen, music of what was going on. Sie dachte an den Russen neulich in der U-Bahn, der vor den verschlossenen Gesichtern der abgekämpften Bevölkerung das Lied sang: “And I think to myself, what a wonderful world.” Eine starke Performance, die sie gerne belohnte.

Donnerstag, 12. November 1998. Schreiben. Die erleuchteten Fenster der gegenüberliegenden Fassaden im Blick. Sie dachte an das Foucault-Interview heute nachmittag. Leider hatte sie versäumt, an den ärztlichen Blick zu erinnern, an das Faszinosum, das davon ausging. Im Internet Goetz’ Nachruf auf Niklas Luhmann, den er als lachenden Weisen bezeichnete. Für sie war Luhmann noch nicht ganz begriffen, noch nicht ganz gelesen.
“Profis riskieren Kopf und Kragen”, hieß es in der Tagesschau.

Wilfried [Gärtner] kam noch spät abends kurz reingeschneit. Wie immer voller Vorhaben und nichts Umgesetztem. Aber er sprach das Thema “Doppelautorschaft” an. Dabei wurde sie hellhörig.
Deleuze/Guattari, Negt/Kluge, Adorno/Horkheimer. Bei Marx/Engels gingen allseits die Daumen nach unten. Die hätten nicht wirklich zusammen geschrieben. Schönes Thema. Sie freute sich, daß ihr heute beim Foucault-Interview noch die Hinweise auf “Archiv” und “Statistik” eingefallen waren, diese beinahe brachliegenden Felder.
Sie packte ihre Unterlagen für die morgige Vertretersitzung zusammen: Presseecho, Vorschauen, Leseproben, aktualisierte Listen und neue Formulare. Eigentlich sollte sie ihren Compagnon bei seinen täglich verordneten Einstunden-Spaziergängen begleiten, aber sie war so erschöpft und genoß derweil die Ruhe im Verlag.
Kein Femsehen, kein Telefon, ab und zu nochmal ein Fax. Brandolini vermeldete den neuen Pressetermin für Saarbrücken. Prima, wieder etwas Zeit gewonnen.
Dankeschön-Fax von Goetz mit dem Hinweis auf den Menschlichkeits-Kontrapunkt bei Luhmann im Merve-Archimedes-Buch.

Freitag, 13. November 1998. Fahrt nach Gießen. Vertretersitzung bei Prolit, der Merve-Auslieferung. Unterwegs rekapitulieren der Namen aus den einzelnen Arbeitsressorts: Alfred für Buchhaltung, Edgar für EDV, Monika als Verlagsansprechpartner, Jochen wg. Euroangelegenheiten, Michael für die stimmungsmäßige Gesamtschau …
Sie las nochmal im Merve-Luhmann-Band das Kapitel “Vom menschlichen Leben” über die Differenz zwischen dem “alteuropäischen Denken und den humanistischen Ideen” auf Seite 51.

Natürlich interessierten sich die Vertreter nicht für Inhalte, sondern für die Aufmachung, die Verpackung. Es sollen Bildchen her, Postkarten. Das ganze graphisch aufpeppen. Sie verstehen nicht das strenge Konzept, das Reihenkonzept. Die Buchhändler wollen unterhalten werden wie in der Peep-show. O-Ton Vertreter: “Immer wenn eine Abbildung zu sehen ist, dann verweilt der Buchhändler-Blick, und dann habe ich etwas Zeit gewonnen, um über das Buch etwas zu erzählen.”
Traurige Zustände. Zwischen den Sitzungen Rumsitzen im computerbestückten Büro mitten in der Wüste eines Industriegebiets. Warten auf das “legendäre” Abendessen mit rund 100 Buchmenschen aus der Verbreitungsbranche. Harte Zeiten für obsessive Verleger-Leser. Das penetrante Ticken der Uhr, das Surren oder Brummen der Rechner, das kalte Neonlicht. Kein Ort zum Schreiben.

Samstag, 14. November 1998. Fahrt von Gießen nach Braunschweig. Am Bahnhof standen Mutter und ihr Neffe Thomas, der gerade aus Berlin angekommen war. Sie winkte von Weitem und Thomas kam ihr entgegengerannt, strahlend, herzlich. Er war ein reifer, gutaussehender junger Mann, den sie schätzte. Seine Juristenausbildung gab ihm eine Redegewandtheit, so daß sie sich gern mit ihm unterhielt. Mutter trug Schwarz und war klein und mager wie ein kleines Vögelchen. Aber sie war streng mit sich selber und duldete sich selbst gegenüber keine Nachlässigkeit.
Das Schwerste für sie selbst: nachts in Vaters Bett schlafen. Gottseidank war die Müdigkeit schnell gnädig mit ihr.

Sonntag, 15. November 1998. Volkstrauertag. Ein alter Kriegskamarad von Vater rief morgens an, um seiner zu gedenken. Dann Kirchgang. Die Sprache der alten Gesangbücher verblüffte sie immer wieder aufs Neue und sie sang gerne mit in ihrer eingerosteten Stimme. Dann Fahrt hinaus zum Dorffriedhof. Nebel, Nieselregen, Dunkelheit. Schön wie die Felder rund um die Gräber lagen, Weite atmend.
Die Lage des Grabes paßte zum Charakter des toten Vaters. Wie oft und gerne waren sie in dieser Landschaft gewandert und umhergestreift. Besser als der an­onyme riesige Stadtfriedhof. Sogar die Form des schwarzen Grabsteins paßte in seiner Eleganz zu ihm. Es war gut so. Zeit zum Aufbruch. Tho­mas fuhr mittags mit dem Interregio und seinem 35 Mark-Ticket, sie zur selben Zeit mit dem ICE und der Bahncard.

Ankunft Bahnhof Zoo. Ein paar Ersatzhandlungen: Rotweinflasche, Fischbrötchen, Taxi. Daheim in der ofenheizungskalten Wohnung. Ein bißchen traurig jetzt so allein. Gern hätte sie ihrem Compagnon berich­tet, aber der dinierte mit seinen Thaifrauen im Verlag und wollte nicht gestört werden. Daß fremde Frauen in “ihrer” Campingküche im Verlag hantierten, störte sie sehr. Eine Gebietsüberschreitung, ein Eindringen in ihr Territorium. In Zukunft mußte solchen Übergriffen vorab Einhalt geboten werden.

Montag, 16. November 1998. Komplett erledigt. Die Heizungsluft im Verlag ist trocken und ermüdend. Stundenlange Bastelei am  Reiseauftragsformularlayout. Wie das Endloswort so die Arbeit. Finanzangelegenheiten auf der Post waren auch nicht gerade anregend. Zwischendrin Goetz’ Tagebuch der letzten Tage gelesen.
Herrlich sein Humor gegenüber seinem “Haß-Teufelchen”. Und die Erwähnung der “Zeitungsobsession eines einzelnen Menschen, in Verbindung mit der speziellen Merve-Konstellation” und ihr Einfluß auf das deutsche Geistesleben, die Intellektualität. Goetz spiegelte mit so scharfer Beobachtung seine Sichtweise der Lage, daß er sie zum Nachdenken anregte.
Sie las in Peters Zeitungsausschnitten “The Best des Tages” den Luhmann-Nachruf aus der WELT und aus Baeckers e-mail Rundbrief die neuen Artikel aus der Internet-Zeitschrift Telepolis, besonders den Hinweis auf D. Diedrichsen und Mercedes Bunz. Jeder fischte auf seine Weise aus dem Strom.

Dienstag, 17. November 1998. Endlich sind die Vertreterunterlagen vom Tisch und beim Drucker. Der neue Satz vom Agamben-Band liegt vor zum Korrekturlesen. Schwerverständlicher Brocken, überfrachtet mit Zitaten, Querverweisen und Bildung. Auch die ersten 20 Seiten Onfray-Satz trudeln ein. Da kommt Freude auf. Endlich wieder Lesen, die geliebten Lektüren!

Leonidenschwarm. Sternschnuppen. Ein Meteoritensturm, (alle 33 Jahre). Wolkenhimmel. Nichts zu sehen. Leider.

Freitag, 20. November 1998. Wintereinbruch. Herrlich, die Kinder halten die Hände auf und strecken die Zunge heraus, um einzelne Schneeflocken aufzufangen. Die überhitzten Verlagsräume sind unerträglich. Jeder Gang nach draußen ist willkommen. Endlich: Agamben-Band ist beim Drucker. Onfray’s Formen der Zeit lesen sich gut Korrektur. Eine schöne Essayform. Reklamation in Paris: die Spinoza-Nummer der Quinzaine litteraire ist nicht eingetroffen.
Neue Haarfarbe beim Friseur machen lassen. Andreas Hofbauer macht sich drei Stunden breit im Verlag wegen nichts und wieder nichts. Kopien für Goetz über Affekt und Perzept in Kunst und Literatur. Der geschenkte Mantel von Justus ist herrlich warm.

Sie hört die Tonbandaufzeichnungen von Fabian [Störmer] mit Passagen aus Opernarien zum Thema Liebe, Sentimentalität und Tod. Eine echte Liebesgabe. Sie liebt das Fremde und das Vertraute. Aber immer seltener ist ihr etwas fremd. Mangel an Neugier? Zuviel erlebt? Jeden Morgen eine Überwindung. Aber wenn sie dann den Arbeitsrhythmus aufgenommen hat, dann ist sie voll in Schwung und findet selten ein Ende. Erst die Abendnachrichten im Femsehen setzen ein Stop-Zeichen. Meist kann sie sich aber nicht richtig darauf konzentrieren, die Arbeit des Tages klingt noch zu sehr nach.
Heute hatte sie ihr Compagnon gelobt: “Du kannst aber auch ranklotzen” hatte er mit Blick auf die vergangenen drei Monate gesagt. Was blieb ihr denn auch sonst, außer ein bißchen Schwärmerei für diesen und jenen?! Was wiederum so übel und so wenig nicht war.

Immer wieder drängte sich die Frage nach dem kreativen Prozeß auf, und im Grunde war ihr Tagebuch nur ein Verzeichnen möglicher Spuren dessen. Die Frage, ob, wann und wie kreative Phasen entstehen und vergehen. Zur Zeit war sie zu sehr vom Betriebsalltag in Anspruch genommen. Die Phase der intensiven Textarbeit lag noch vor ihr. Schreibend versuchte sie auf den letzten Metern des Jahres noch Gewinn zu machen, aber mehr Welt ließ sich einer langweiligen Sprache nicht abgewinnen. Tut mir leid.

Sie war schon gespannt auf den morgigen Abend, die Lesung von Westbam. Wieso soll eigentlich ein Interview vorgelesen werden? Das geht doch gar nicht! Das kann doch nicht gehen. Trotzdem: erstmal abwarten, ob die beiden Kerle nicht doch verstanden, eine Show abzuziehen.

Sie hatte zunehmend soziale Verantwortung für ihren alternden Compagnon übernommen. Das lastete auf ihr und gab ihr mehr Strenge als ihr lieb war. Aber trotzdem lachte sie gern. Dabei fiel ihr der Hund von neulich abend ein, der zum Wadenbeißer geworden war, weil er mal getreten worden war.
Na, das war ja eine Runde gewesen, vorgestern beim homevideo-Abend im Verlag. Pam Grier! Ein echter Gender-Kult-Film für jüngere Lesben. Eigentlich nur Männer-Power mit umgekehrtem Vorbild à la Angela Davis und ein bißchen mehr Sex.
Cathy hatte eine ganze Horde junger Lesben mit angeschleppt. Irgendwann hatte sie einen kompletten Filmriß gehabt und hatte dann am nächsten Morgen zitternd am Kaffeetisch gesessen, um ihre Einzelteile wieder mühselig zusammenzusetzen. Was genau geschehen war, konnte sie nicht mehr rekonstruieren.
Heute abend tv-Spielfilm Das Jahr des Drachens, USA 1985.

Montag, 23. November 1998. Kalt. Mit Wollschal abends im Bett. Kachelofen anheizen mindestens eine Stunde. Nachhall der Westbam-Lesung:
“Wollten wir uns den Naziteller kaufen oder war das jemand anders gewesen?”
Leider hatte sie sich wieder mal betrunken, diesmal BLOSS mit Bier und merkte es erst, als sie schon schwankte. Ab, ab, Marsch, Marsch! Horrorheimweg bei Eiseskälte.

Anderntags, am Sonntag, dann mit Kater eine ganze Tagessitzung mit Martin Weinmann vom Verlag 2001 aus Wiesbaden, der extra für dieses Meeting eingeflogen kam. Erst am Nachmittag konnte sie Weinmann doch überzeugen.

Freitag, 27. November 1998. Rückendeckel-Gestaltung für Onfray-Band. Eine Wortliste zum Begriff Zeit. Dann Wohnungsbesichtigung Bayernring 19d: … triste Gegend, winziger Raum, häßlicher Altneubau, eigentlich nichts für sie. Aber hatte sie jetzt noch die freie Wahl? Nachmittags zügige Notate zum Kunstakademie-Aufsatz für das Jahrbuch der Braunschweiger Kunsthochschule. Erste Niederschrift in einem Wurf. Danach zitterte sie vor Erschöpfung, so konzentriert hatte sie gearbeitet. War ihr der Text gelungen? Sie hatte Rigorosität beim Zugriff auf die zu treffenden Aussagen walten lassen. Ihre Skepsis gegenüber der Institution blieb unverhohlen.

Samstag, 28. November 1998. Material-Sammlung zum The­ma Licht für die Pressekonferenz in Saarbrücken. Notizen. Dabei Entdeckung des Buches von Hans Sedlmayr Der Tod des Lichts. Im Femsehen schwimmende Elefanten. Phantastisch! Sie können von Natur aus schwimmen, kilometerweit. Heutiger Eintrag in Goetz’ Tagebuch: “JETZT. Gegenwart, Gegenwart. Das Licht der Zeit.” Schon wieder eine Koinzidenz.

Sonntag, 29. November 1998. Die Mehrfrauenheirat in der chinesischen Feudalgesellschaft hatte zu einem anderen Verhalten der Frauen untereinander geführt, was heute noch in Japan, Thailand, Indonesien, China zu spüren war. Sie sah mit Peter den Film Die rote Laterne (China 1991) mit der wunderschönen Schauspielerin Gong Li. Ihr gefiel, daß die Handlungen durch kluge Sitten geregelt waren.
“Spielt man gut, betrügt man andere. Spielt man schlecht oder gar nicht, betrügt man sich selbst.”

Besuch von András Monory aus Budapest. Er bringt die neue CD von Tibor Szemzö mit Relative Things. Selected soundscapes 1994-1997. Sie spricht mit Monory über die Rahmenbedingungen des Buchvorhabens Budapester Gespräche. Zwischendrin fragt er sie, wann sie zum letzten Mal in Budapest war. Sie weiß es nicht mehr, zu lange her. Er lacht und weiß natürlich um ihre alte Ungarngeschichte, damals unmittelbar nach Tschernobyl. Das alte Medium “Liebe” war immernoch der zuverlässigste Übertragungskanal mit der genauesten Wiedergabequalität. Zum Abschied drückt er ihre Hand mit beiden Händen. Zu spät fiel ihr ein, daß sie Monory nach dem ungarischen Zettel aus Justus’ antiquarisch erstandener Ausgabe von Conrad’s  Geheimagent hätte fragen können.

Abends TV, Weltspiegel. Agent Orange, eine chemische Kampfwaffe der Amerikaner aus dem Vietnamkrieg. 15 Jahre Wirkung in der freien Na­tur, wieviel Jahre Wirkung auf den menschlichen Organismus weiß noch niemand. 23 Jahre nach Kriegsende immernoch Mißgeburten durch Dioxin. Die Amerikaner verweigern wissenschaftliche Auskünfte mit der Begründung: der wissenschaftliche Beweis zwischen Krankheit und Agent Orange sei nicht erwiesen. Klartext: die Folgen waren nicht ab­zusehen und die betroffenen Vietnamesen sind Langzeitversuchstiere.

Montag, 30. November 1998. “Verloren im Faselland” hieß es heute in der FAZ zum Thema Pop-Literatur der Gegenwart. Und Goetz behielt am Ende des Artikels als Nestor dieser Schreibgeneration das letzte Wort.
Schon am frühen Nachmittag hatte sie sich in ihre Wohnung zurückgezogen. Sie wollte allein sein. Nana Suzuki hatte sich für 17 Uhr im Verlag angemeldet wg. des Nakagawa-Buchprojekts über Soundscapes. Damit mußte eben mal ihr Compagnon alleine fertigwerden. Auch wenn sie der Boss sein sollte und er nun den Seniorchef spielen wollte.
In der Wohnung über ihr wurde Klavier geübt. Nichts Störendes, eher wie ein kleines Ständchen oder Tänzchen. Zart und leicht, kleine Träumerei.
Sie hatte sich zerfasert. Die Vielfalt zersplitterte zunehmend. “It is too hard living in several worlds.”

Sie mußte endlich die Kapielski-Lesung auf der Leipziger Messe klarmachen. Vielleicht eine merve-txt-Party? Von dem Knäuel, das sie seit Tagen wälzte, ließ sich kein einzelner Faden oder Strang absondern. Sie hatte sich verheddert.

Dienstag, 1. Dezember 1998. Beim Frühstück ist die Lebkuchenzeit angebrochen. Kleines Frühstsücksgespräch mit ihrem Compagnon. Sie brachte ihm den Karasek-Artikel aus der Illu MAX nahe. Intrigengeschichten zwischen Schreibern, Journalisten, Redakteuren. Klar, daß Merve da pressemäßig außen vor blieb. Kilz hatte damals beim Spiegel den Baudrillard-Artikel abgeschmettert und Kilz blockiert auch Merve in der Süddeutschen Zeitung.
In der FAZ erschien ein sehr klarer Unseld-Artikel zu der unmittelbar bevorstehenden Teilwertabschreibungssteuerreform, die für die Buchbranche das Out darstellen würde. Sie müßte die Sache ihrer Finanzbuchhalterin vorlegen. Die Sa­che war existenzbedrohend und verzwickt.
Sie rief Hannes Böhringer an, um seine Meinung zu ihrem Braunschweiger HBK-Beitrag zu hören. Schließlich war er dort Professor und kannte den Laden. Er würde das Wort AKADEMIE durch KUNSTHOCH­SCHULE ersetzen. Sie wollte mit ihrem Statement ja bloß deutlich machen, was sie selbst in eine solche Institution einzubringen gedachte. Nach dem Telefonat schickte sie den korrigierten Text ab.

Ihr Frauenarzt rief an: die Krebsvorsorgeuntersuchung sei okay, nur ihre Raucherlunge, die würde man natürlich deutlich sehen. Zum dritten Mal im DER-Reisebüro wg. der lächerlichen Fuerteventura-Neckermann-Reise. Na, wenn solche Konfusion schon beim Buchen einer einfachen Reise entsteht, wie sieht dann wohl die Reiseorganisation selbst aus? Die nette Frau von DER wußte bereits ihr Abflugdatum aus­wendig, so oft hatte sie sich schon um die leidige Angelegenheit bemüht.

Nachmittags, wenn es früh dunkel wird, Duftkerze im Fenster. Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. LUX LUMEN LIGHT LICHT. Allmählich ging ihr ein Licht auf. Das Schivelbusch-Buch Licht, Schein und Wahn, das sie Brandolini nach Saarbrücken rübergereicht hatte, war in der ERCO-Edition erschienen. Ihr Compagnon hatte Weltschmerz. Sie kaufte ihm zum Trost Musik aus seiner Jugend: Georges Brassens.
Brief an Martin Stingelin wg. möglicher Themen, die für Merve aus seiner Feder von Interesse wären:
– Deleuze im Fernsehen und im Internet
– Konstruktivismus (Bateson/Mead, Schismogenese, v. Foerster, Maturana, Luhmann)
– das Sagbare und das Sichtbare
– die Derrida-Foucault-Kontroverse
– Schizophrenie
– Philosophisches zum Komplex Neurologie/Gehirnforschung.

Wortsammlung für das Licht-Projekt in Saarbrücken:

Abends im Bett Lektüre von Peters Zeitungsausschnittsdienst. Und was liest sie da von Lorenz Jäger, den sie gerade auf die Saarbrücker Presseliste gesetzt hat: “Neben die Formen tritt das Licht. Zusehends glitzert, blitzt, sticht es, macht einen baff mit seinen plötzlich durchdringend gewordenen Strahlen…”
Koinzidenz, Koinzidenz! Oder sollte sie lieber sagen Kontingenz, oh Kontingenz!, wo doch heute abend gerade der Drucker das neue Agambenbuch Bartleby oder die Kontingenz abgeliefert hatte.
Sie mochte Lorenz Jäger. Die letzten Male auf der Buchmesse hatte er immer gerade auf jene Merve-Bücher den Finger gelegt, die auf ihrem Mist gewachsen waren. Und das Michaux-Buch, auf das er gerade aufmerksam gemacht hatte, würde sie sich natürlich auch gerne kaufen.

Seit fünf Tagen kein Alkohol. Dementsprechend nachts ewig wach. Folglich im Bett noch kurze Cage-Übersetzung angefertigt zu seinen Stücken 103 (1991) und One 11 (1992) aus dem Buch John Cage Writer. Previously uncollected pieces (Limelight Editions, NY 1993).

Mittwoch, 2. Dezember 1998. Packorgie. Berlinauslieferung des Agamben-Buches. Versand der Vorschauen an Presse + Vertreter. Nachmittags Anruf bei Goetz mit der Bitte, in Sachen Buchpreisbindung als Autor seine Stimme zu erheben. Sein Internet wäre ein gutes Öffentlichkeitsforum. Abends in der Akademie der Künste mit Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld und Kulturminister Naumann öffentliche Diskussion zur Bedrohung der Buchbranche durch die EU.
Anschließend allein in der Bar, um Gedanken und Notizen zu sammeln für das morgige Interview im DeutschlandRadio.

Donnerstag, 3. Dezember 1998. Bei Eiseskälte frühmorgens schneller Fußmarsch zum alten RIAS-Gebäude am Volkspark, Studio 5. Interview von Guido Graf im Auftrag von Hubert Winkels für den WDR-Buchmarkt. Eine Art Mini-Merve-Porträt. Gefragt ist die Kunst der Kürze, komprimierte Statements. Ein Programm von 200 Titeln und 28 Jahre Verlagstätigkeit in 15 Minuten? Ihr Compagnon als Interview-Partner paßt nicht ins Format des Mediums, er will Geschichten erzählen. Sie selbst übt sich bei solchen Gelegenheiten in prägnanten Formulierungen und im Klang der Stimme.

Donnerstag/Freitag, 10./11. Dezember 1998. Flug von Tempelhof in einer Propellermaschine nach Saarbrücken. Dort im Haus der Zukunft Vorstellung des Merve-Projekts “Mehr Licht” vor der Presse in Anwesenheit des Oberbürgermeisters. Anschließend Budget-Besprechung mit Brandolini. Das ganze Vorhaben ein Geschenk der Stadtwerke zum 1000-jährigen Bestehen von Saarbrücken.

Samstag, 12. Dezember 1998. 6.45 Uhr Abflug Berlin-Tegel nach Fuerteventura. Peter bringt sie zum Flughafen. Vier Stunden Flug. Herrliche Sicht von oben auf Gibraltar. Anderthalb Stunden Busfahrt über die ganze Insel. Eine vegetationslose Steinwüste. Hotel Stella Canaris in Jandia, 500 Meter vom Strand entfernt. Erkundungsgang durch die Riesenanlage, halbes Stündchen Sonnenbad am Meer. Dann Schwindelgefühl vor Erschöpfung. Abends beim Buffet: Knoblauch, Hammel, Oliven, Eselswurst.

Montag, 14. Dezember 1998. Fuerteventura. Der Tagesrhythmus ist schnell gefunden. Nach dem Frühstück mit Eiern und Speck eine Stunde Strandwanderung. Der Strand ist 7-8 Kilometer lang, breit und leer, feinster Sand, keine Dosen, nicht ein Strohhalm. Das Meer ist sehr bewegt, klares Wasser, kein Schlick, keine Steine, keine Haie, keine Boote, keine Surfer, nur das große weite gewaltige Meer. 18 Grad Wassertemperatur. Eine Stunde Sonnenbaden bei 20 Grad Wärme, leichter Wind, klarer blauer Himmel. Ideales Klima. Mittagspause auf ihrer Studio-Terrasse, Zeitungslektüre die ZEIT mal von A-Z durchlesen portionsweise. Dann kleiner Mittagsschlaf. Wieder zum Strand, Wanderung in die andere Richtung. Dann zieht sie sich zurück zum Schreiben. 18 Uhr Abendbuffet. Zu 90% biedere Rentnerehepaare, Neckermann-Touristen eben. Im Buffet nebenan junge Paare mit Kleinkindern. Verdauungsspaziergang in der Abenddämmerung im Zoo der Hotelanlage mit Flamingos, Minikängurus, Papageien unter Palmen und blühendem Oleander.
Ihre spannende Bettlektüre, Cendrars’ Madame Thérèse aus dem bewegten Paris der Nachkriegsjahre mit vielen bekannten Künstlerfiguren, ist an drei Abenden schon ausgelesen. 23 Uhr Licht aus, müde von Sonne, Sand und Meer. Intensive Träume. Zigarettenkonsum eingeschränkt, kein Alkohol, kein TV und kein Gesprächspartner. Fitness-Center und Massage sind zu teuer (12,-DM pro Tag bzw. 30,- DM für 20 Minuten). Fax pro Seite, egal wohin: 6,- DM.

Mittwoch, 16. Dezember 1998. Fuerteventura. Sonne, Sand und Meer. Allmähliches Aufklaren der Augen durch helles Licht, weiten Blick und Alkoholverzicht. Beginn der Überarbeitung des Tagebuchs. Das Jahr abrunden. Lektüre William Faulkner Die Freistatt, erschienen 1931 in New York. Zitate aus dem Vorwort von André Malraux:
“Die Passion für das Schicksalhafte, wodurch fast alle großen Künstler das Wesentliche ihres Selbst ausdrücken … Der psychologische Zustand, auf dem fast die gesamte tragische Kunst beruht, ist die Faszination. Doch nicht um sich davon zu befreien, drückt der tragische Dichter aus, was ihn fasziniert, sondern um dessen Natur zu verwandeln. Die tiefste Faszination, die des Künstlers, holt ihre Kraft aus dem Umstand, daß sie gleichzeitig Schrecken ist und die Möglichkeit, ihn begreifend zu gestalten. … Die lastende Bedrückung reibt die Gestalten auf.”

Donnerstag, 17. Dezember 1998. Fuerteventura. Fax an Peter nach Thailand; Fax an Shuhei Hosokawa nach Japan, langer Brief an Almuth Carstens. Mit Freuden bei der Arbeit an ihrem Tagebuch. Dann sitzt sie schon morgens vor dem Frühstück auf ihrer Studioterrasse und korrigiert, ergänzt, streicht. Zur Ich-Form kann sie sich nicht durchringen. Vielleicht nächstes Jahr. Lapidarer Titel Wo die Zeit geblieben ist.
Abendlektüre: Georg Franck Ökonomie der Aufmerksamkeit (München/ Wien 1998). Aufmerksamkeit erregen ja, Aufmerksamkeit entziehen ja, Aufmerksamkeit schenken ja, aber Aufmerksamkeit tauschen? Prestige, Reputation, Prominenz, Renommée, Ansehen, Ruhm, Ruf. Attraktivität, Faszination, Bewunderung, Beachtung, Zuwendung. Publikumswirksamkeit, Achtungserfolge, öffentlicher Status, Taxierung, Registrierung. Irgendwie stand all dem ihre mönchische Bescheidenheit entgegen. Andererseits bemühte sie sich als Verlegerin im Interesse ihrer Autoren darum.

Samstag, 19. Dezember 1998. Fuerteventura. Leicht bedeckt, kühl. Bis auf eine Stunde Strandspaziergang sitzt sie den ganzen Tag auf ihrer Studioterasse und überarbeitet konzentriert ihre Tagebuchaufzeichnungen. Eigentlich muß sie sich gar nicht darauf konzentrieren, die Arbeit geht wie von selbst, ja sie kann sich gar nicht davon losreißen. Die Stunden, Tage, Wochen und Monate dieses Jahres ziehen noch einmal an ihr vorbei. Die wechselnden Stimmungen, Sorgen und Freuden, Reisen und Begegnungen, die Lektüren, das Alltägliche, das Außergewöhnliche. Und immer wieder versucht sie dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, wie mit den Jahreszeiten sich ein großer Bogen spannt. Und eigentlich schrieb sie ja nur Tagebuch, um der verrinnenden Zeit Gestalt zu geben. Wie sie sich dehnt und wie sie drängt die Zeit, wie sie leer verrinnt und Lücken und Löcher hinterläßt, wie sie mal stehenbleibt und dann plötzlich wieder einsetzt, längere und kürzere Phasen, Parallelverläufe. Das große Thema Zeit, die Lebenszeit, war von höherer Ordnung und tiefem Geheimnis.
Abends Fax von ihrer lieben Schwester aus Berlin. Spät nachts Anruf von Walter Seitter, der heute aus Wien nach Fuerteventura gekommen ist. Die Stille, das einwöchige Schweigen ist dadurch plötzlich zerrissen. Beinahe schade.

Sonntag, 20. Dezember 1998. Fuerteventura. Fax von Peter aus Thailand. Er fragt, ob sie nicht ein Buch schreiben will unter Pseudonym. Sie will definitiv nicht. Tagsüber Bearbeitung ihrer Tagebuchaufzeichnungen. Ein Vergnügen. Nur kurz über Mittag zwei Stunden am Strand. Wie seelig die Kleinkinder dort in ihrer ‘Riesensandkiste’ buddeln! Diese instinktive Erdennähe. Ein kleiner Junge soll das Nein-Sagen lernen. Die Mutter: “Sag’ mal nein!” Der Junge: “Ja.”
Die Kleinen begreifen nicht, wenn die Erwachsenen Nein sagen. Es sei denn, ihrem Tun wird anderes Tun entgegengesetzt. Aber dieser negative Handlungsspielraum ist begrenzt.
Abendessen mit Walter Seitter in seinem Club Aldiana, zwei Strandkilometer entfernt. Essen und Leute gehobenere Preisklasse. Seitter bezahlt für sie als Gast sage und schreibe 50,- DM für das Essen. Gespräch über Heidegger’s Ereignis, über Jullien’s Traité de l’efficacité, über die Ökonomie der Aufmerksamkeit, über Träume, Gesichte, Visionen. Seitter’s Geschichte des Träumens erscheint kommenden Februar bei Philo. Sie waren derart ins Gespräch vertieft, daß sie gar nicht bemerkten, daß ringsum schon sämtliche Stühle hochgestellt waren.

Montag, 21. Dezember 1998. Fuerteventura. Erneute Leküre des Agamben-Textes Bartleby oder die Kontingenz. Daher schmerzliche Erinnerung daran, was dieses Jahr nicht hat sein können oder nicht gewesen ist. Vielleicht auch Gott sei Dank.

Donnerstag, 24. Dezember 1998. Fuerteventura. Es gibt eigentlich nichts mehr zu sagen. Das Jahr ist um, die Arbeit ist getan, die Sorgen bleiben. Der Schreibdrang hat sich gelegt. Vielleicht sogar ganz einfach mit der Nüchternheit. Es gab nichts, was sie bereute, nichts was sie ersehnte. Alles war zur Ruhe gekommen. Mit der Stille und der Ruhe und der Erholung hatte sich ein nie gekannter Gleichmut eingestellt.
Nur die drückende, lastende Sorge der Zukunft, die konnte sie nicht abschütteln. Sie begann zu rechnen. Mit dem Geld, was sie verdiente, ein Lehrlingsgehalt, konnte sie nie und nimmer im Alter leben. Und ihr Compagnon würde trotz all ihrer Bemühungen 300,- DM Rente bekommen. Das hieß, er mußte bis an sein Lebensende aus dem Verlag finanziert werden. Und das wiederum hieß, daß kein Nachwuchs im Verlag herangezogen werden konnte. So sah es danach aus, daß sie einen alternden Compagnon zu pflegen, den Verlag alleine zu bewältigen hätte und ihn obendrein aus dem Verlag finanzieren müßte. Sie sah keinen Ausweg.

Samstag, 26. Dezember 1998. Flug von Fuerteventura nach Berlin-Tegel. Dann kurze Zwischenstation im Verlag, nach dem Rechten sehen. Dann ICE Berlin-Zoo nach Braunschweig. Nachträglicher Weihnachtsbesuch bei ihrer Mutter.

Montag, 28. Dezember 1998. Fahrt im ICE von Braunschweig nach Berlin. Im Zug Lektüre von Mutters 100 Seiten handschriftlichem Lebensbericht. Im Verlag zitternde Konfusion. Seit wann keine Spritze mehr??? Reichlich über die Zeit. Gottseidank, morgen hat die Praxis ihrer Nervenärztin geöffnet. Dann banger Anruf beim Computertechnikerdienst. Immerhin keine große Reparatur, rund 300,- DM und Anfang Januar fertig.
Besuch bei ihrer Freundin Almuth. Sie sieht verjüngt aus mit ihrer neuen Perücke und trotz Krebschemotherapie. Anruf Störungsstelle, der Fax-Anschluß ist tot. Nach ewigem Hin-und-Her-Stöpseln läuft das Gerät wieder. Eine riesige Kiste Post für den Verlag beim Nachbarn abgeholt. Im Internet-Café am Kudamm in nullkommanix 30 Seiten Goetz-Tagebuch ausgedruckt. Darin schöne Lektüre-Passagen über Kapielski’s Merve-Buch-Geschichten.

Mittwoch, 30. Dezember 1998. Den ganzen Tag Mühen mit dem neu reparierten Computer. Nach der teuren Reparatur von 250,- DM muß sie nun alle Programme neu installieren. Page-Maker und Hyper-Card und Word laufen bereits wieder. Die Druckersoftware hat sie neu installiert, auch CompuServe und Netscape-Navigator sind neu installiert, aber die Verbindung mit dem Netz klappt nicht. Mehrere Telefonate mit der CompuServe-Hotline helfen auch nicht. Sie ist ganz verzweifelt. Immerhin hat sie gleich bei der Gelegenheit die Maus gereinigt, so daß sie wieder flink über die Menüleisten flitzt. Abends drei Stunden Tagebuch-Korrekturen vom Urlaub in den Computer übertragen. Auch mühselig. Und wenn es mit dem Arbeitseinsatz so weitergeht, dann ist die Erholung bald wieder verbraucht.