Wittgenstein-Film  A. Stankowski: Farbe als Funktion  Kandinsky – Albers  J. Itten  Blau  Weiß  Newman  Rothko & Co.  Reine Farbe

Ich begrüße Sie zum Sommersemester 1997. Ich darf mich kurz vorstellen. Mein Name ist Adelheid Paris und ich wurde hier in Kassel als Gastprofessorin für Theorie und Praxis der visuellen Kommunikation eingeladen. Ich mache seit über 20 Jahren den Berliner Merve Verlag, der vornehmlich Gegenwartsphilosophie und Ästhetik verlegt.

Derek Jarman

Wir beginnen heute zur Einstimmung in das Thema etwas assoziativ. Dazu möchte ich Ihnen später die erste Seite aus Derek Jarman’s Buch Chroma. Ein Buch der Farben vorlesen.

“Chroma” heißt Farben, aber im Englischen heißt „chroma“ auch Sättigung der Farben:

Silvestrini, Narciso: IdeeFarbe, Zürich 1994, S. 182f.
“Die Sättigung (im englischen Sprachgebrauch auch als chroma bezeichnet) einer Farbe gibt das Ausmaß an, mit dem die dazugehörende Wellenlänge dominierend ist. Wird die dominierende Wellenlänge durch weißes Licht verdünnt, nimmt ihre Sättigung ab.”

Derek Jarman BIO vorlesen:
“1942 in Dover geboren, 1994 in London gestorben. Maler, Dichter, Filmemacher und Designer.”
Das Buch Chroma wurde 1993 geschrieben, also kurz vor seinem Tod, als er schon stark an der Aidskrankheit litt. Es hat folgende Kapitelüberschriften:
“Chroma
Harlekin
Einleitung
Weis(s)machen
Der Schatten ist die Königin der Farben
Über das Rotsehen
Die Romantik der Rose und der Schlaf der Farbe
Schlaue graue Zellen
Marsilio Ficino
Grüner Daumen
Alchimistische Farben
Was nu, braune Kuh
Die Gelbe Gefahr
Orangeade
Loeonardo
Ins Blaue
Isaac Newton
Purpurpracht
Schwarze Kunst
Silber und Gold
Schillerndes
Transparenz”

Ich lese aus diesem Buch jetzt die erste Seite vor, die wie ein verfaßtes Gedicht dem Buch als Motto vorangestellt ist. Es besteht aus lauter Eigenschaftswörtern und ich lese bewußt langsam, und bitte Sie, sich bei den einzelnen Eigenschaften, Farben vorzustellen:

“Leuchtend, glanzvoll, gemalt und heiter,
Lebhaft, prangend, ungestüm,
Strahlend, lodernd, grell und laut,
Schreiend, kreischend, gravitätisch,
Lieblich passend, düster, satt,
Kreidig, nüchtern, tot und matt,
Stetig, bunt, chromatisch,
Festlich und prismatisch,
Kaleidoskopisch, panaschiert,
Tätowiert, gebeizt, illuminiert,
Klecksig, schaumig, Tupfer, Tönung,
Schrille Farbe, Farbendröhnung.”

(“panaschiert” heißt buntstreifig mustern.)

Gedicht interpretieren:
– In diesem Wortgedicht nehmen die Farben Haltungen an:
sie sind gravitätisch, sie sind lebhaft, sie sind lieblich oder festlich.
– Die Farben nehmen Formen an: sie sind klecksig, kaleidoskopisch, 
kommen als Tupfer oder als Tätowierung vor. Sie haben sozusagen Umrisse.
– Die Farben sind auch wechselndem Licht ausgesetzt:
sie sind glanzvoll, leuchtend, lodernd, illuminiert, düster und grell.
– Die Farben haben auch eine Oberfläche: sie sind matt, gebeizt, kreidig.
– und die Farben kommen in ihrer Zusammenstellung, ihrer Komposition vor:
sie sind bunt, prismatisch oder eben passend.
– und die Farben haben einen Klang, wie man in der Musik von der Klangfarbe spricht: hier sind sie laut, schreiend, kreischend, schrill.

Man beachte, daß in diesem Gedicht, das aus Wortreihen besteht, zwar ab und an sich Wörter reimen, daß aber kein einziger Farbname erwähnt wird. Und ich würde Sie fragen wollen, ob Sie sich bei meinem langsamen Vorlesen tatsächlich Farben vorgestellt haben.
Ich lese das Gedicht noch einmal:____ Gedicht lesen

Hat sich jemand Farben vorstellen können? Ich würde eher sagen, es ruft Stimmungen und Eindrücke hervor, aber keine Farben.
Das Wort “Farbendröhnung” weist vielleicht darauf hin, daß unter psychedelischen Drogen die Farben besonders intensiv werden. Ein Buch, das diese FarbEindrücke unter Drogen besonders eindrücklich darstellt, ist Aldous Huxley’s Die Pforten der Wahrnehmung.
Aber allgemein würde ich sagen, das Gedicht ruft Stimmungen oder Eindrück hervor, ohne tatsächlich direkte Farben zu assoziieren.
Umgekehrt ist es wohl so, daß wenn Sie FarbNamen genannt bekommen, Sie sich unweigerlich ein Ding oder etwas vorstellen, das Träger dieser Farbe ist.



Farbliste anfertigen:

Ich nenne Ihnen Farben, und Sie sagen. was Ihnen dazu einfällt. Das kann eine Sache oder ein Ding sein wie Kirschrot oder Pfirsichfarben, das kann ein Farbname sein wie Ultramarinblau oder ein Maler wie Yves Klein, das kann eine Substanz sein  wie Zink für Grau oder ein Eindruck wie Rot für Kuß.
rot
blau
grün
weiß
violett
gelb
schwarz
orange
grau/braun

Einleitung Chroma lesen:
„Zusammengerollt in dem Topf Gold am Ende des Regenbogens, träume ich von Farbe. Vom International Blue des Malers Yves Klein. Vom Blues und entferntem Gesang. Das Auge, so weiß ich, wie es Alberti, ein Architekt des 15. Jahrhunderts schildert, ‚ist geschwinder als alles andere’. Schnelle Farbe. Flüchtige Farbe. Er schrieb diese Worte in seinem Buch Drei Bücher über Malerei, das er am Freitag, dem 26. August 1435 um 8.45 Uhr beendete. Dann nahm er sich das Wochenende frei …“

Leon Battista Alberti war italienischer Architekt und lebte zu Beginn der Renaissance. Sein Hauptwerk zum Thema Farbe heißt Della pittura von 1435. Er war, was die Farbe angeht, ein Pragmatiker, der nur ein geeignetes System für die Mischung von Malfarben gesucht hat. Seine Grundfarben waren: Gelb, Grün, Blau, Rot.
Am Ende seiner Einleitung zitiert Jarman ein Gedicht von Christina Georgina Rossetti:

Was ist rosa? Die Rose ist rosa
Wie die am Brunnenrand da.
Was ist rot? Der Mohn rot steht
in seinem Gerstenbeet
Was ist blau? Blau ist der Himmel
mit seinem Wolkengetümmel
Was ist weiß? Der Schwan ist weiß,
segelnd auf dem Eis.
Was ist gelb? Birnen sind gelb,
saftig und reif und mürb.
Was ist grün? Das Gras ist grün,
Blümchen dazwischen blühn.
Was ist lila? Wolken sind lila
am Abendhimmel im Frühjahr.
Was ist orange? Klar eine Orange.
Einfach eine Orange.”

Die Frage „Was ist rosa, was ist blau?“ appelliert an unser Vorstellungsvermögen. Was stellen wir uns vor, wenn wir die Farbe Blau sagen, also den Farbnamen aussprechen? Ich stelle mir ein Ding vor, das in der Farbe blau erscheint. Die Farbe ist also eine Erscheinung, ein Phänomen. Und ich behaupte, daß wir uns Farben in der Vorstellung nicht denken können, ohne ein Ding zu sehen, an dem diese Farbe klebt oder das aus dieser Farbe gemacht ist. Der Farbname evoziert ein Ding, das eine Erscheinung ist, eine farbige Erscheinung. Also ist die Farbe eine Erscheinung.

Farbe/Farben
Genau gesprochen spricht man von Farbe als von einem Phänomen, und man spricht von Farben als Erscheinungsformen. Man spricht in der Systematik von Farben von Farbe, wenn man die Farbtheorie von Newton z. B. meint, und man spricht von Farben, wenn man die Farbenlehre von Goethe z.B. meint.

IdeeFarbe, S. 157:
“Die zwei wichtigsten Doktrinen im Bereich der Systematik von Farbe sind sicher die Farbtheorie (Farbe) von Newton und die Farbenlehre (Farben) von Goethe. Hier zeigt sich der Zwang zur Entscheidung deutlich. Wer als Naturwissenschaftler ernst genommen werden will, wird sich für die Theorie von Newton entscheiden, weil sie als exakt gilt. Wer als Künstler ernst genommen werden will, wird sich für die Farbenlehre Goethes entscheiden, weil sie als kreativ gilt. ”

Die zweite Zeile in dem Gedicht “Was ist rosa?” evoziert jeweils die Umgebung, 
in der die Farbe erscheint.
Umgekehrt evoziert der Farbname die Dingumgebung, wenn ich von Veilchenblau, 
Kirschrot oder Pfirsichfarben spreche. Nur bei Orange kommen Farbname und Sache zur Deckung. Wir haben also zwei Seiten: die Seite, wie wir uns die Farben vorstellen im Kopf, im Gehirn, und die Seite, wie wir sie bezeichnen, darüber reden.

IdeeFarbe, S. 172f.:
“Wenn von den Farben im Gehirn die Rede ist, muß wenigstens kurz angetippt werden, wie die Farben wieder aus dem Gehirn herauskommen, das heißt über die Frage, wie wir sie bezeichnen und über sie reden. Es gibt einige Bereiche im Kopf, die für Farbbegriffe zuständig sind, denn hier gilt es ja auch ein schwieriges Problem zu lösen, nämlich einem Kontinuum an Eindrücken mit einer begrenzten Auswahl von Begriffen beizukommen.”

Wittgenstein (Notizen)

Film 1992, vorletzter Film von Derek Jarman, 75 Minuten
Biographie Wittgensteins – kein Spielfilm – künstlerischer Film
Motto: Alle Theorie ist grau
Ist nicht weiß, was die Dunkelheit aufhebt?
Nur bei schwarzem Licht erscheinen uns die vollen Farben

Die Schriftankündigung in Schwarz und Rot
die Figuren jeweils in einer anderen Farbe
Aus dem Dunkel ins Licht – schwarzer Hintergrund
Goldweiß der Familie und des Kindes
Wittgenstein in grau, weiß, beige
Bertrand Russell in roter Robe mit roter Fliege oder blauer Fliege
blauer Brief in rotem Umschlag
Kanes in fliederfarbenem Anzug mit grüner Weste und violetter Krawatte
Die Brieffreundin von Russell immer im selben Kostüm, mal rosa, 
mal rot, mal orange, mal violett.
Die Form bestimmt die Nebenfigur
So auch bei Jonny, dem schwulen jungen Freund im Trainingsanzug:
mal weiß beim Judo, mal blau im Kino, mal rot beim Motorradputzen

kleiner Wittgenstein – zwei Getränke in Grün und Violett
Als sie im Kino sitzen, im blauen Projektionslicht, sprechen sie darüber, 
ob der Film einen Plot hat. Später sieht man den kleinen Wittgenstein 
mit der rot/grünen 3-D-Brille, und dann streckt er die blaue Zunge heraus.

Die Malerleinwand ist einfarbig rötlich, mal als Russell gemalt werden soll, 
mal als eine schöne Nackte auf dem Sofa in Pose sitzt.

Die Nächte sind blauschwarz: das blau schillernde Ruderboot, 
das blaue Bettlaken, das blaue Licht in der Kriegsszene.
Die blaue Fahne: “The world is everything, that is the case”.

Rußland ist rot und feldgrau.
Zur FARBE:
– Ballszene gelb, rot, blau. Blau umkreist gelb, während rot um sich 
selbst kreist. Gelb ist die Sonne, blau der Mond.
– Mister Green und der englische rote Briefkasten:
“Woher weiß man, daß eine Farbe rot ist?“
Und er zeigt auf den roten Briefkasten.
Und er erklärt, er weiß das, weil er Grün ist.
– kalt-warm: Wittgenstein im Wintermantel mit Wollschal vor grauer Tafel; 
Russell und seine Schüler in dünnem Sportdress in orangen Liegestühlen.

Wittgenstein haßte Tageslicht, ging aber gerne ins Kino. “Alles ist sichtbar, aber wir können es nicht denken, verstehen.” Diesen Satz hatte auch Jarman in seinem Buch Chroma zitiert.

Schlußszene: Krankenbett, keine Farbe, nur hell und dunkel, 
nur noch die Gesichter beleuchtet; im Traum erscheint noch einmal die blaue Fahne 
und der Schneemann, dann geht der Himmel auf, ein Abendhimmel; 
weiße Flügel und weiße Luftballons steigen am Himmel auf, 
Mister Green ist nackt und hat ein gelbliches Licht in der Hand, 
dann sieht man noch die sinkende Abendsonne.

Kandinsky – Albers

Nachdem wir in der ersten Sitzung die Farbenwelt eines erblindeten Künstlers kennengelernt haben und in der zweiten Sitzung die gedanklichen Stolpersteine eines Philosophen angesichts der Farbenwelt mitvollzogen haben, lernten wir in der letzten Sitzung [Datei A. Stankowski fehlt] etwas über die Funktionen der Farbe in der visuellen Kommunikation.
Durch die Beschäftigung mit Anton Stankowski haben wir Farbe als Funktion, als Funktionsträger, als Funktionsbegriff behandelt. Farbe als Funktion ist z.B. die Hinweisfunktion: Schau da, sieh her, hier geht’s lang! Farbe in seiner Zeigefunktion: Achtung Rot!
Farbe als Funktion bedeutet auch Farbe rein sachlich betrachtet. Farbe als Funktion ist ein Bauhaus-Gedanke.

Heute wollen wir die Sinnenfreude eines farbenfrohen Malers kennenlernen und etwas über die Wechselwirkungen der Farben zueinander erfahren. Für den Maler Wassily Kandinsky ist die Farbe aber nicht bloß eine Sinnenfreude, sondern auch ein geistiger Akt.

Mit dem Maler Josef Albers wollen wir dann in einem zweiten Schritt Farbe als Handlung kennenlernen und die Wahrnehmung der Interaktion der Farben als Seherlebnis.
Kandinsky haben wir als Maler gewählt, nicht weil wir ihn besonders mögen oder nicht mögen, sondern weil er ein Maler ist, der über seinen Umgang mit Farben nachgedacht und seine Überlegungen und Beobachtungen schriftlich festgehalten hat.
– Biographie lesen
– Farbenzitat:
“Für langsam zusammengespartes Geld habe ich mir als 13- bis 14-jähriger Junge einen Malkasten mit Ölfarben gekauft. Die damalige Empfindung – besser gesagt: das Erlebnis der aus der Tube kommenden Farbe habe ich heute noch. Ein Druck der Finger und jauchzend, feierlich, nachdenklich, träumerisch, in sich vertieft, mit tiefem Ernst, mit sprudelnder Schalkhaftigkeit, mit dem Seufzer der Befreiung, mit dem tiefen Klang der Trauer, mit trotziger Kraft und Widerstand, mit nachgebender Weichheit und Hingebung, mit hartnäckiger Selbstbeherrschung, mit empfindlicher Unbeständigkeit des Gleichgewichts kamen eins nach dem anderen diese sonderbaren Wesen, die man Farbe nennt – an und für sich lebendig, selbständig, zum weiteren selbständigen Leben mit allen nötigen Eigenschaften begabt und jeden Augenblick bereit, sich neuen Kombinationen bereitwillig zu beugen, sich untereinander zu mischen und unendliche Reihen von neuen Welten zu schaffen.”
(Kandinsky, Rückblicke, München 1913)

An diesem Zitat kann man wohl am deutlichsten die Sinnenfreude an der Farbe ablesen. 
Sie ist Träger einer geradezu erotischen Macht.
der gelbe Klang

Mit Kandinsky können wir von dem Begriff der reinen Malerei sprechen. Die Farbe im Singular – die reine Farbe, wie man sie nannte, wurde gleichbedeutend mit reiner Malerei verstanden und benutzt. Und die Idee der reinen Farbe ist bei der Gruppe Der Blaue Reiter stark ausgeprägt. Und für Kandinsky ist die reine Farbe der Bedeutungsträger einer auf die Essenzen reduzierten Bildsprache.

Bei Kandinsky ist es die Farbe, die bewußt und außerhalb der Konventionen der Nachahmung benutzt wird; und Kandinsky bürdet es der Farbe auf, der Grundstein einer neuen Sprache zu sein,  die endlich den Namen Malerei verdienen würde.

Motto aus Über das Geistige in der Kunst:
“Die Farbe läßt sich nicht grenzenlos ausdehnen. Man kann sich das grenzenlose Rot nur denken oder geistig sehen. Wenn man das Wort Rot hört, so hat dieses Rot in unserer Vorstellung keine Grenze. Dieselbe muß mit Gewalt, wenn es nötig ist, dazu gedacht werden.”

Die erste Auflage erschien 1912 bei Piper in München. Hat dann lange in Bibliotheken geschmort, obwohl immer wieder darauf Bezug genommen worden ist. Erst 1952 kam es zu einer Neuauflage.
– im Buch lesen

Josef Albers

U3 U1 U4 U2 [Ausgabe nicht gefunden: “Homage to the Square“?]

In den Schriften und Bildern von Josef Albers liegt die Betonung auf der Wechselwirkung, 
der Interaktion komplementärer Farben und Veränderungen, 
die durch nebeneinander gestellte Farben erreicht werden.

– ZITAT ALBERS in Kunst heute, S. 71:  [Ausgabe nicht gefunden]
– Vorwort zitathaft referieren:
– Einleitung S. 20-21 lesen
– S. 22-23 lesen
– Seite 100-104 incl. Übungen

Johannes Itten: Kunst der Farbe

Als im Jahre 1960 die Farbtafeln für das große Buch Kunst der Farbe gedruckt werden sollten, bestand Johannes Itten darauf, die Andrucke selbst zu beaufsichtigen. Während zwei Wochen wurden die Druckproben laufend besprochen, die Farbmischungen geändert und verbessert. Das Buch stellt das Wissen über die Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeiten der Farben dar. Dieses Buch stellt Ittens Farbenlehre dar, und es ist die Summe der Einsichten und  Erfahrungen eines Malers und Kunsterziehers im Umgang mit den Farben. Seine  Untersuchungen über die Tiefenwirkung der Farben führten ihn zu abstrakten Kompositionen. Er entwickelte den 12-teiligen Farbstern, der 1921 zusammen mit einer Lichtstufenskala in der Publikation Utopia in Weimar veröffentlicht wurde. 1944 veranstaltete Itten im Zürcher Kunstgewerbemuseum die Ausstellung “Die Farbe”. 
Sie erlaubte ihm, in einer von Schülern ausgeführten Folge von 80 Farbtafeln die eigene Farbenlehre mit ihren sieben Kontrasten mit Farbanalysen und Beispielen subjektiver Farben darzustellen.

“Die hier entwickelte Lehre ist eine ästhetische Farbenlehre. … Für den Künstler sind die Farbwirkungen entscheidend und nicht die Farbwirklichkeiten, welche von den Physikern und Chemikern erforscht werden”,
sagt Itten in der Einleitung zu Kunst der Farbe. [alle folgenden Zitate nach der Studienausgabe des Ravensburger Buchverlags Otto Maier GmbH, 1987. Die Digitalisierung der erwähnten Abbildungen konnte nicht genehmigt werden.]

Und er sagt weiter:
“Ich weiß, daß das tiefste und wesentlichste Geheimnis der Farbwirkungen selbst dem Auge unsichtbar bleibt und nur mit dem Herzen geschaut werden kann. Die Kenntnis der Gestaltungsgesetze soll nicht ein Gefängnis sein, sondern freimachen von Unsicherheit und schwankendem Empfinden. Daß alle sogenannten Gesetzmäßigkeiten der Farben nur Teilwerte sind, ist bei der Komplexität und Irrationalität der Farbwirkungen  selbstverständlich.”

Itten: 
”Farbe ist Leben, denn eine Welt ohne Farben erscheint uns wie tot. Farben sind Ur-Ideen, Kinder des uranfänglichen farblosen Lichtes und seines Gegenpartes, der farblosen Dunkelheit.”
“Das urtümliche Wesen der Farbe ist ein traumhaftes Klingen, ist Musik gewordenes Licht. 
In dem Augenblick, da ich über Farbe nachdenke, Begriffe bilde, Sätze setze, zerfällt ihr Duft und ich halte nur ihren Körper in Händen.”

Es folgt in der Einleitung zu diesem Buch eine sehr schöne Geschichte der Farben in der Kunst, die ich Ihnen zur Lektüre empfehle. (Kopie machen und den Studenten zur Lektüre mitgeben: S. 8-12)

Da wir bereits Kandinsky besprochen haben, hier noch ein Zitat von Itten 
zu Kandinsky’s Farbverwendung:
“Kandinsky begann um 1908 gegenstandslose Bilder zu malen. Er sagte, daß jede Farbe ihren eigenen geistigen Ausdruckswert besitze und deshalb die Möglichkeit gegeben sei, auch ohne Gegenstandsbedeutung geistige Wirklichkeiten zu gestalten … Die Farben sind Strahlungskräfte, Energien, die auf uns in positiver oder negativer Art einwirken.” (S. 12)

“Die Probleme der Farben können von verschiedenen Gesichtspunkten aus studiert werden:
Der Physiker erforscht die Energie der elektromagnetischen Schwingungen …
Der Chemiker studiert die molekulare Konstitution der Farbstoffe oder Pigmente …
Der Physiologe untersucht die verschiedenen Wirkungen des Lichts und der Farben auf unseren Sehapparat …
Der Psychologe interessiert sich für die Probleme der Wirkung farbiger Strahlungen auf unsere Psyche und unseren Geist. ….
Der Farbenkünstler, welcher die Farbwirkungen von der ästhetischen Seite her kennen will, muß sowohl physiologische wie psychologische Kenntnisse besitzen.  … Die Kontrastwirkungen der Farben und ihre Ordnungen sollten die Basis des ästhetischen Farbenstudiums sein.” (S. 13)

Itten macht eine genaue Unterscheidung zwischen den Begriffen “Farbcharakter” und “Farbton”:
“Unter dem Charakter einer Farbe verstehe ich deren Stellung oder ihren Ort innerhalb des Farbkreises oder der Farbkugel. Sowohl die reinen ungetrübten Farben, wie deren mögliche Mischungen mit allen anderen Farben ergeben eindeutige Farbcharaktere. Die Farbe Grün z.B. kann gemischt werden mit Gelb, Orange, Rot, Violett, Blau, Weiß und Schwarz, und sie erhält durch diese Beimischungen einen besonderen, einmaligen Charakter. Auch jede Veränderung der Farbwirklichkeit durch simultane Beeinflussungen erzeugt spezifische Farbcharaktere.
Wenn wir den Helligkeits- oder Dunkelheitsgrad einer Farbe bestimmen wollen, so sprechen wir von ihrem Tonwert oder Valeur. Es ist also der Farbton, den wir damit bezeichnen. Den Farbton können wir auf zweierlei Arten variieren, erstens durch Mischen der Farbe mit Weiß, Schwarz oder Grau und zweitens durch Mischen von zwei unterschiedlich hellen Farben.” (S. 14)

Itten macht in seinem Buch Kunst der Farbe folgende Einteilungen, die wir anhand seiner Farbtafeln teilweise durcharbeiten wollen:
“[Inhalt]
Farben in der Physik
Farbwirklichkeit und Farbwirkung
Die Harmonie der Farben
Die subjektiven Farbklänge
Die konstruktive Farbenlehre
Der zwölfteilige Farbkreis
Die sieben Farb-Kontraste
Die Mischungen der Farben
Die Farbkugel
Farbakkordik
Form und Farbe
Räumliche Wirkung der Farben
Die impressive Farbenlehre
Die expressive Farbenlehre …

Farbwirklichkeit und Farbwirkung

Die Farbwirklichkeit bezeichnet das physikalisch-chemisch definierbare und analysierbare Pigment der Farbe, den Farbstoff.”

Die psycho-physische Wirklichkeit der Farbe bezeichnet Itten als Farbwirkung.
Z.B. “ist bekannt, daß ein weißes Quadrat auf schwarzem Grund größer wirkt als ein gleichgroßes schwarzes Quadrat auf weißem Grund. Das Weiß strahlt aus und überstrahlt die Begrenzung,  während das Schwarz zusammenzieht.  …
Abb. 58 zeigt ein gelbes Quadrat auf Schwarz und Weiß. Gelb ist dunkler als Weiß und Gelb auf Weiß wirkt als zarte, feine Wärme. Auf Schwarz bekommt Gelb stärkste Helligkeit und einen kalten, aggressiven Ausdruckscharakter. … (S. 17)

Die Harmonie der Farben

Wer von der Harmonie der Farben spricht, beurteilt damit das Zusammenwirken von zwei oder mehreren Farben. Die Erfahrungen und Versuche über subjektive Farbakkorde ergeben, daß verschiedene Personen in ihrem Urteil über Harmonie und Disharmonie verschiedener Ansicht sein können.  […]
Der Begriff der Farbenharmonie muß aus der subjektiv bedingten Gefühlslage herausgehoben werden in eine objektive Gesetzmäßigkeit. […]
Harmonie heißt Gleichgewicht, heißt Symmetrie der Kräfte.  […]

Abb. 31-36
Der Versuch besteht darin, daß wir in eine reine Farbe ein ihr gleich helles, graues Quadrat stellen. Dieses Grau erscheint auf Gelb hellviolett, auf Orange bläulichgrau, auf Rot grünlichgrau, auf Grün rötlichgrau, auf Blau orangegrau und auf Violett gelblichgrau. Zu jeder Farbe erscheint also das Grau angetönt von seiner Komplementärfarbe. […] Diese Erscheinung bezeichnet man als Simultan-Kontrast.
 Und der Simultan-Kontrast beweist, daß das Auge des Menschen nur dann befriedigt oder im Gleichgewicht oder in Harmonie ist, wenn das Komplementärgesetz erfüllt ist.  (S. 19f.)

Die konstruktive Farbenlehre

Die konstruktive Farbenlehre umfaßt die Grundgesetze der Farbenwirkungen, wie sie sich aus der Anschauung ergeben.”
Fotokopie S. 30-32 vorlesen lassen, dazu Abb. 3: Zwölfteiliger Farbkreis

“Die sieben Farbkontraste

1. Farbe-an-sich-Kontrast (Fotokopie S. 34 f. lesen lassen, dazu Abb. 4-10)
2. Hell-Dunkel-Kontrast
3. Warm-Kalt-Kontrast
4. Komplementär-Kontrast
5. Simultan-Kontrast
6. Qualitäts-Kontrast
7. Quantitäts-Kontrast”

Der Hell-Dunkel-Kontrast

Abb. 11 + 12 zeigt den Hell-Dunkel-Kontrast nur in den schwarz-weiß-grau-Tonwerten oder innerhalb der Farbe Blau.
“Von größter Wichtigkeit ist es, daß man Farben gleicher Helligkeit oder Dunkelheit genau unterscheiden kann. … Die Aufgabe besteht nun darin, zu der jeweils gegebenen Farbe gleich helle oder gleich dunkle Farben hinzuzufügen. […]
In Abb. 14 sind alle Farben gleich dunkel wie Blau in der Mitte.
Besondere Schwierigkeiten bereiten die kalten und warmen Farben. Kalte Farben wirken durchsichtig, leicht und werden meist zu hell verwendet, während die warmen Farbtöne oft wegen ihrer Undurchsichtigkeit zu dunkel gewählt werden.
Gleiche Helligkeit oder gleiche Dunkelheit macht Farben verwandt. Farben werden durch gleiche Tonwerte aneinander gebunden und zusammengefaßt. […]
Kompliziert sind die Hell-Dunkel-Probleme der bunten Farben und ihre Beziehungen zu den sogenannten unbunten Farben Schwarz, Weiß und Grau.
In der Farbkugel Abb. 51 und 52 sind sowohl die bunten Farben des 12-teiligen Farbkreises wie die unbunten Farben dargestellt. Im Gegensatz zu der lebendig vibrierenden Vielfalt der bunten Farben wirken die unbunten Farben starr, unangreifbar und abstrakt. Es ist aber möglich, die unbunten Farben durch die bunten zu farbiger Wirkung zu erwecken. Die Abb. 31-36 zeigen, wie ein unbuntes Grau von einer benachbarten Farbe so beeinflußt wird, daß es wie deren Komplementärfarbe erscheint. Wenn unbunte Farben in einer Komposition vorhanden sind und an bunte Farben gleicher Helligkeit grenzen, so verlieren sie ihren unbunten Charakter.[…]

Die Probleme des farbigen Hell-Dunkel macht die Abb. 15 deutlich. Zu den 12 gleichabständigen Graustontufen der ersten Reihe zwischen Weiß und Schwarz setzen wir die 12 reinen Farben des Farbkreises so, daß die Helligkeitswerte der Farben den Grautonstufen entsprechen. Dabei stellen wir fest, daß das reine Gelb der dritten Graustufe entspricht. Orange entspricht der fünften Stufe. Rot liegt auf der sechsten. Blau auf der achten und Violett auf der zehnten Grautonstufe. Die Tafel zeigt, daß Gelb die hellste der reinen Farben ist und Violett die dunkelste. So muß Gelb schon von der vierten Tonstufe an getrübt werden, wenn es den dunkleren Tonwerten der Grauskala entsprechen soll. Rot und Blau liegen auf einer tieferen Tonstufe, so daß wenig Stufen bis Schwarz bleiben, aber viele Aufhellungen erfolgen müssen bis zum Weiß.” (S. 40f.)

Der Kalt-Warm-Kontrast
Abb. 21 + 22
“Es mag befremden, aus dem optischen Empfindungsbereich der Farben eine Temperaturempfindung ablesen zu wollen. Versuche haben ergeben, daß in zwei Arbeitsräumen, von denen der eine blaugrün und der andere rotorange gestrichen war, die Empfindung für Kälte oder Wärme um drei bis 4 Grad differierte. In dem Blaugrünen Raum empfanden die Personen eine Innentemperatur von 15 Grad Celsius als kalt, während sie sich im rotorange Raum erst bei 11-12 Grad Celsius kalt fühlten. Das bedeutet wissenschaftlich untersucht, daß Blaugrün den Impuls der Zirkulation dämpft, während Rotorange zu deren Aktivierung anregt.
Ein zweiter Versuch mit Tieren gab ein ähnliches Resultat. Ein Stall für Rennpferde wurde in zwei Abteilungen geteilt, eine Hälfte wurde blau, eine andere rotorange gestrichen. Im blauen Raum beruhigten sich die Pferde nach dem Rennen sehr rasch, während sie im roten sehr lange erhitzt und unruhig blieben. Außerdem fand man im blauen Teil keine Fliegen, während im roten viele vorhanden waren. […]

Den Charakter der kalten und warmen Farben können wir noch auf andere Weise definieren:
kalt – warm
schattig – sonnig
durchsichtig – undurchsichtig
beruhigend – erregend
dünn – dicht
luftig – erdig
fern – nah
leicht – schwer
feucht – trocken … […]

In der Landschaft erscheinen entferntere Gegenstände wegen der dazwischen gelagerten Luftschicht immer kälter in der Farbe. Der Kalt-Warm-Kontrast enthält also Wirkungselemente, welche die Nähe und Ferne suggerieren. Er ist ein wichtiges Darstellungsmittel für perspektivische und für plastische Wirkungen.” (S. 45 f.)
Der Hell-Dunkel-Kontrast ist bei den Abb. 21-22 ausgeschaltet, d.h. es sind Farben gleicher Helligkeit oder Dunkelheit.

Der Simultan-Kontrast (Abb. 31-37)
“Mit dem Simultan-Kontrast bezeichnen wir die Erscheinung, daß unser Auge zu einer gegebenen Farbe immer gleichzeitig, also simultan, die Komplementärfarbe verlangt, daß es sie selbständig erzeugt, wenn sie nicht gegeben ist. Diese Tatsache beweist, daß das Grundgesetz farbiger Harmonie die Erfüllung des Komplementärgesetzes in sich schließt. Die simultan erzeugte Komplementärfarbe entsteht als Farbempfindung im Auge des Betrachters und ist nicht real vorhanden.” (S. 52)

Abb. 58-71
Übung: verschiedene Wirkungen in der Klasse selbst herausfinden.

Wir haben uns jetzt in den letzten drei Sitzungen mit Stankowski, Kandinsky, Albers und Itten mit den gestalterischen Möglichkeiten der Farbe beschäftigt. Wie der Betrachter der Farben aus deren Wirkungen Gesetzmäßigkeiten der Farbe ablesen kann, die er bewußt im Ausdruck einsetzen kann.

Jetzt wollen wir unseren Blick weglenken von den Wirkungen der Farben und hinlenken auf die Bedeutungen der Farben. Bedeutungen sind der wechselvollen Geschichte unterlegen, d.h. die Bedeutungen ändern sich je nach den Umständen. So auch die Bedeutungen der Farben.

Blau, das Spirituelle, das Geistige

– Symbollexikon
– Scholem
– Lapislazuli
– Anita Albus Die Kunst der Künste, 1997
– Video Hessen
– Blaufieber Video

Himmelblau
Nachtblau
Kornblumenblau
Azurblau
Preußisch Blau
Delfter Blau
Ultramarinblau
Königsblau
Pelikan Blau
Yves Klein Blau
Indigo

Rainer Maria Rilke: “Briefe über Cézanne”:
“nirgends aufliegendes Blau
Ozean von kaltem Kaum-Blau
Flimmern blonder alter Wärme
altägyptisches Schattenblau
geschlossenes Blau
horchendes Blau
gewittriges Blau
bürgerliches Baumwollblau
leicht wolkige Bläulichkeit
dicht wattiertes Blau
wachsiges Blau
nasses Dunkelblau
voller Auflehnung Blau Blau Blau”

Weiß

Ich habe heute zwei Beispiele aus Literatur und Kunstgeschichte zu der Farbe Weiß ausgewählt, um zu zeigen, welchen Bedeutungswandel eine Farbe im Laufe der Zeit ausgesetzt ist oder welchen Bedeutungswandel die Farbe Weiss erfahren hat.

Der erste Text ist aus dem Reich der Literatur, von dem amerikanischen Schriftsteller Herman Melville. Moby Dick 1851 erschienen, erzählt die abenteuerliche Geschichte eines Walfängers, der von der Jagd nach einem weißen Hai besessen ist. All sein Wahn nach der Besonderheit eben dieses einen weißen Hais mündet in der dichterischen Reflexion auf die Farbe Weiß. Und diese Stelle wollen wir jetzt lesen.

Newman

Prophet der reinen Malerei. Terror des Erhabenen

Bei Barnett Newman sieht man die Pinselspuren nicht, da der unpersönliche, immaterielle Charakter der Ausführung vermittelt werden soll.

New Yorker Künstler, die man als Farbfeldmaler oder unumwunden als Metaphysiker etikettiert hat, lehnten jeden Modell- und Repräsentationscharakter ihrer Bildideen ab und verweigerten gesellschaftliche Rollen und Botschaften.
Ihre radikale Haltung führte zur außerordentlichen Steigerung und Verdichtung der ästhetischen Essenz.
Verschmäht wurde das kollektive Publikum, gefordert war der einzelne Betrachter, den die Bilder verändern, berauschen, entrücken und über sich hinaus heben sollen. Die amerikanischen Kunstpuristen setzten alles auf eine Karte: auf die verweisungslose, aber – wie sie hofften – umso umfassendere und durchdringendere Präsenz des Bildes. Sie trieben dabei keineswegs den Formalismus auf die Spitze. Mit der Auflösung aller restlichen räumlichen Illusionen und zeitlichen Strukturen wollten sie endlich alle Spuren von Wirklichkeit und Geschichte abstreifen und die Bilder zur Offenbarung eines neuen, reinen Seins werden lassen. Durch unmittelbare Bildwirkung, den überwältigenden Augenblick, sollte dieser Zustand antizipiert werden.

Radikalster Prophet einer solchen “absoluten Malerei” war Barnett Newman (1905-1970).
Barnett Newman zeigt entgrenzte Farblandschaften, die von den berühmten vertikalen Lichtstreifen durchstrahlt und zerschnitten werden.
Es ist nicht leicht, Newman’s Willen gerecht zu werden. Er haßte die Banalisierung der Bilder zum Wanddekor, wünschte den “Terror des Erhabenen”, die jähe Konfrontation des Besuchers mit dem sich auftürmenden Bild, die Erfahrung der Grenzenlosigkeit und Unentrinnbarkeit der Farbflächen. Daß diese Lichtpanoramen Zwangsvorstellungen auslösen, das Gleichgewicht des Betrachters gefährden, Rausch und Schwindel bewirken können, ist negativ bezeugt durch zwei Attentate auf das Amsterdamer und Berliner Bild Who is afraid of red, yellow and Blue?

Die ozeanischen Gefühle und der Tiefensog, die Newman’s Bilder erzeugen, sind freilich Extremfälle. Häufig arbeitet der Künstler mit subtilen Effekten, mit steilen und zugespitzten Farbarchitekturen, mit bilddurchstoßenden Vertikalen und irritierenden Asymmetrien. Newman läßt seine “Lichtfelder” – von solchen sprach er lieber als von “Farbfeldern” – ausfransen und wuchern, gibt den senkrechten Farbbahnen, den Lichtstrahlen oder Bildrissen schneidende oder diffuse, flackernde Wirkungen, oder reduziert das Bild auf schmalste Farbstelen. Das nur scheinbar monochrom und mechanisch eingefärbte, in Wirklichkeit vielfach pulsierende Farbspektrum deckt sich mit dem Bildformat und macht so das Bild zum Farbobjekt, oder es setzt sich an den Rändern ab und behauptet damit eine schwebende Eigenexistenz.
Newman ist malender Philosoph, damit auch ein Maler der Philosophen. Gedankliches und Gemaltes vermengen sich.

Zitat Barnett Newman zu Vir Heroicus Sublimis:

Klar ersichtlich ist das große rechteckige Format; die fast unmodulierte Ausdehnung eines vollen Rot; die ungleichmäßig verteilten Vertikalen in matt fleischfarbener Farbe beziehungsweise weiß, bräunlich-purpur, fleischfarben von links nach rechts, all das ist da. Die stetige Phrasierung und die Stabilität der Teilungen, ihre Meßbarkeit, die Perfektion des Ausführung sind da, ganz offensichtlich. Sie begründen einen unpersönlichen Modus…

Es geht um eine geistige Dimension, um den Triumph des Geistes beim Anblick des Erhabenen. Barnett Newman nennt dieses Erhabene the Sublime. Eine Dimension, in der das mit den Sinnen und der Vernunft nicht mehr Faßbare optische Ereignis, das Unsichtbare, sichtbar wird. Es geht um die Erfahrung des Erhabenen, wo Geist und Gefühl im Bild sichtbar werden. Manche Interpreten Newman’s gehen sogar soweit zu behaupten, Ziel von Newman’s Schaffen sei die unmittelbare Konfrontation mit dem Göttlichen.

Der Betrachter soll sich seiner selbst bewußt werden. Diese Selbsterfahrung hat bei Newman, aber auch bei Rothko einen konkreten Bezug: die Erfahrung der amerikanischen Landschaft in ihrer Weite und scheinbaren Grenzenlosigkeit, in der der Mensch sich verliert. Ihm ging es darum, das Erhabene (Sublime) und das Unendliche ohne Vermittlung durch transzendierende Figuren, Gegenstände und Zeichen Bild werden zu lassen. “Wehe dem, der Symbole sieht”.
Sein erstes Bild, das sich diesem Erhabenen öffnete, war Onement I von 1948, ein Streifenbild, das Bild mit dem ersten, vergleichsweise pastosen Zip ohne Anfang und ohne Ende am oberen und unteren Bildrand. Ein unübersetzbarer Titel, eine eigene Wortschöpfung, ein Bild, bei dem es um die Einheit und das Ganze geht.
Der Zip ist ideell unendlich, er hat keinen Anfang und kein Ende, er macht das Bild selbst zum Kontinuum, er entrückt es jedem Bezug zur Natur, jeder Maßstäblichkeit, jeder Meßbarkeit.
Die radikale Abwendung von der Natur, entspricht der Verweigerung der Einpassung des Bildes, das zum Farbraum wird, in einen architektonischen Rahmen oder ins umgebende Ambiente. Newman will das Bild von der Wand befreien, d.h. es darf auf keinen Fall mehr Dekoration sein. Deshalb soll der Betrachter das Bild nicht aus der Ferne sehen, sondern nahe herantreten, um sich vom Farbraum umfangen zu lassen. D.h. der Betrachter soll nicht mehr das Ganze überblicken, sondern er soll sich der Erfahrung eines unbegrenzten (Bild)Raumes aussetzen.

In diesem Zusammenhang spielt auch das Format eine entscheidende Rolle. Wie beim Erlebnis der amerikanischen Landschaft, ist die Quantität, die Ausdehnung, die Weite, das Format entscheidend. Es gibt dementsprechend keinen Rahmen mehr. Der Bildraum in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, der Farbraum, steht für sich selbst, er ist die Sache selbst, das Bild allein ist die evidente Erfahrung. Das Bild vermittelt keine Realität außerhalb seiner selbst, es ist die konkrete und geistige Wirklichkeit wie die Farbe in ihrer Materialität und Spiritualität.
Für Newman geht es darum, das geistig Erfahrbare sinnlich erlebbar zu machen durch die Kraft des absoluten Gefühls, das der Maler mit seinen grenzenlosen Farbräumen im Betrachter hervorrufen will. Es gibt nur noch das Bild und die Farbe.

Rothko & Co.

Mark Rothko (1903-1970)
Monotonie und Nachglühen der Farben. Eindringlichkeit

Man beachte die dunkel leuchtenden Streifen und Rechtecke auf monochromen, sehr lichtdurchlässigen, diffusen Gründen

Verstärkt wird der Eindruck der mystisch gestimmten Unterlagerungen durch die sonderbare Ambivalenz dieser Bilder. Sie zeigen eine nie genau bestimmbare Verbindung zwischen reinster Lyrik und straffer Geometrie, zwischen Traum und bewußter Ordnung, zwischen Transzendenz und schön-gestalteter Materialität, zwischen dem Magischen und dem Rationalen, zwischen dem Mystischen und dem Ästhetischen. Ein nicht-definierbares Zwischenreich.

das Atmende und Bewegte, das Endliche überschreitender Raum oder der im dunklen Licht bewegte, atmende Raum. Die Frage der Beleuchtung bei der Präsentation der Bilder war für Rothko immer sehr wichtig.

das Kontemplative des Raums.
Ein Kontemplationsprodukt und ein Meditationsobjekt.
Es sind farbige Tafeln, mit suggestiver, hypnotischer Kraft.
Es geht Rothko nicht um das Bild als ästhetisches Ding, sondern um den Bezug, der sich in ihm und in dem ihn umgebenden Raum herstellt.

dunkelnde Licht-Wände. Es ist kein gerichtetes Licht und hat nichts Perspektivisches. Ohne Schatten und ohne Glanzlicht, leuchtet es aus dem farbigen Grund als ein stilles, reines Bild-Innenlicht.
Es sind fließende Farbformen mit sakralem Charakter, “Transcendental experiences”.

Rothko’s immer größer werdende Formate waren nur ein Ausdruck des Wunsches nach einer größeren Dehnung des Raumes, die den Betrachter – als “Figur davor” – ganz einbeziehen sollte.
Etwas Feierliches, wie eine Kapelle, ein vorgestelltes Raumkontinuum, das über den Bildrand hinausgeht.
Bei der Betrachtung mehrerer Bilder kann man beobachten, wie in der kontrastlosen, seriellen Führung der Farbe über die Farbnachbarschaften hin jener schwebende, immaterielle Generalton entsteht.

Rothko war der jüdischen Religiosität verhaftet, wo es um den verborgenen Gott geht, der verboten hatte, sich ein Bild von ihm zu machen. Er durchtränkte seine Leinwände derart mit Farbe, daß sie ihren materiellen Charakter verloren und als fluoreszierender Grund erschienen. Dann zog er diese durchtränkten Gründe um die Bildkanten und über die Seitenflächen seiner ziemlich dicken Keilrahmen herum. Durch diese farbige Zwischenzone löst sich das Bild optisch von der Wand und hält sich dem Betrachter entgegen.

Die Bildfiguren sind Streifen und Rechtecke, die keine Schwerkraft zu haben, sondern reine Lichterscheinungen zu sein scheinen. Das kommt zustande durch die Farborchestrierung, die Kontraste vermeidet.
Es werden eher die auf dem Farbkreis benachbarten Farben instrumentiert. Rothko lenkt die Farbentwicklung z.B. von Rot zu Braun zu Violett oder von Rot zu Orange oder von Blau zu Grün.

Zitat S. XI

Rothko wählte gegen Ende seines Lebens den Weg nach innen. Er nannte es mythische Handlung. Zu seinen Malerfreunden zählten u.a. Barnett Newman und Ad Reinhardt. Er nahm sich im Alter von 67 Jahren das Leben. Seine Lieblingsfarbe bezeichnete er mit “pflaumenfarbig”.

Barbara Rose hat die “Washington School” – also Bilder von Barnett Newman, Ad Reinhardt und Mark Rothko – in einem Aufsatz von 1964 als “The Primacy of Color” bezeichnet, also das Primat der Farbe. Das ist die amerikanische Sichtweise Rothko’s.
Der Japaner Kenzo Okada berichtet demgegenüber, wie er im Studio Rothko’s neue Bilder sah und zu ihm sagte: “keine Farben”. Worauf Rothko zustimmte.
Das Primat der Farbe kennen wir seit den Impressionisten.

In den  Schriften und Bildern von Josef Albers liegt die Betonung auf der Wechselwirkung (interaction) komplementärer Farben und Veränderungen, die durch nebeneinander gestellte Farben erreicht werden.
ZITAT J. ALBERS in Kunst heute, S. 71 Interaction of Colors:
…..
Delaunay: “Farbe um der Farbe willen”; “eine Architektur aus Farben errichten”

Man kann aber nicht von der Identität von Farbe und Form sprechen, wenn man mal an den Kubismus denkt. Apollinaire spricht in diesem Zusammenhang von “formeller Farbe” und meint damit Stoff und Dimension.

Das Energiefeld der Farbe findet sich bei Max Bill.
Bei diesem werden die bildnerischen Primärdaten: Farbe, Linie, Oberfläche benutzt, um die malerischen Mittel konkret darzustellen.
“Malerei ist ein Mittel, um auf optische Weise den Gedanken zu verwirklichen: “jedes Bild ist ein Farbgedanke.”
Hier finden wir den Funktionsbegriff der konkreten Malerei. Ein Bauhaus-Gedanke, dem auch Anton Stankowski zuzurechnen ist.
Bei Max Bill geht es auch um die Farbe als konstante Energie:
Zitat aus Kunst heute von Jürgen Claus:
“Der Rhythmus in der Anordnung der farb-formalen Elemente geht in manchen Bildern in vibrierende Farbfelder über, wie in dem Bild Integration von 4 Systemen (1958-60), das aus einer Summe horizontal und vertikal geordneter, gleichförmiger Quadrate besteht, deren Farbe an einigen Stellen so anschwillt, daß kreisartige Konfigurationen gebildet werden, die in ein vibrierendes Spiel mit dem Bildquadrat treten. Farbe schafft hier wie in anderen Bildern Energiefelder, ‘konstante Energie'”.
Es ist eigentlich eine plakative Farbigkeit mit starken Kontrasten.

Ein anderes Beispiel dafür ist Kenneth Noland.
Ein weiteres sind Ad Reinhardt’s schwarze Quadrate
Schwarz ist für ihn der Gegensatz zu allem Bunten. Schwarz ist die Nicht-Farbe par excellence.
Ad Reinhardt: “Farben sind barbarisch, körperhaft, unstabil, suggerieren Leben”.
“Keine Farben” ist für Ad Reinhardt die Forderung an das reine Bild.

Malewitsch (ca. 1916) in seinem Buch Der Suprematismus über das Farbige, das schwarze und das weiße System. Berühmt von ihm das Schwarze Quadrat auf weißem Grund + Weißes Kreuz auf weißem Grund.
Für  Malewitsch gibt es auch den Dynamischen Farbraum. Für ihn gibt es rote, grüne, blaue Farbmassen. Und er sagt:
“Der Dynamismus ist nichts anderes als dieser Aufstand der Massen. Der Farbraum entsteht durch diese dynamischen Massen.”

Heinz Mack (geb. 1931, Düsseldorfer Kunstakademie, Mitglied der Gruppe 53, kennt die Farbe in Vibration:
Zitat Claus S.85/86:…..

– Der Triumph der Farbe
– Die Farbe als Technik und Poesie
– Farbe als Lichtwert (Beleuchtungswert, Energiewert, Bewegungswert)
– Energiewert ist die Kraft der Farbe

Farbe als Erscheinung
Klaus Jürgen Fischer “Komplexe Farbe” (Ausstellung 1962, Insel, Hamburg)
“Die gezeigten Bilder durchdringen die Fläche und den Raum aus der Farbe heraus”
“Farbe nicht als Pigment, sondern entstofflicht – Farbe als Erscheinung, als das ungreifbare Medium, das die Geistigkeit der Malerei verbürgt. Denn Farbe ist nicht das, was an ihr meßbar ist: Frequenz des Lichts. Farbe ist für den Künstler erst interessant, wenn sie in Relation steht, in Relation zu Fläche und Raum, in Relation zur Nachbarfarbe und schließlich in Relation zum Menschen und seiner unterschiedlichen psychischen Wahrnehmungsfähigkeit.”

Gotthard Graubner (geb. 1930) hat diffuse, nuancierte Farbräume.
Franz Mon schreibt dazu: “Hier erscheint ein Subjekt, das seine Identität bewahrt, indem es sie ständig desavouiert – das Licht, das sich in Farbe individualisiert und seine Ausdehnung hervorbringt. Graubners Bilder, die auf den ersten Blick fast monochrom erscheinen, sind für Momente eines unaufhörlichen Wandlungsprozesses, Stabilisierungsschübe im nicht charakterisierbaren
Geschehen von Farb-Licht.”

Ausstellungen:
Schwarz und Weiß, Robert Motherwell, New York1950
Rot und Schwarz, Jürgen Claus, Hans Grosse, München 1964
Das rote Bild, Piene und Mack, Düsseldorf 1958
Absolute Farbe- Avantgarde 63, Städtisches Museum Trier

Farbe als Ready Made. Reine Farbe

Thierry de Duve Kant nach Duchamp
Das Ready-made und die Farbtube

Reduktion auf die Essenz: auf ein schwarzes Quadrat reduziert, das so mechanisch wie möglich gemalt wurde und von einem weißen Rand eingefaßt war, der es zentrierte.
von Monet zu Turner (von Manet zu Velazquez)
Das Auftauchen des Ausdrucks “reine Malerei”
Die Farbe im Singular – die reine Farbe, wie man sie nannte, wurde so zur Metonymie der reinen Malerei.

Bei Kandinsky ist es die Farbe, die bewußt und außerhalb der Konventionen der Nachahmung benutzt wird, und der Kandinsky es aufbürdet, der Grundstein einer neuen Sprache zu sein, die endlich ihren Namen Malerei verdienen würde.

Kandinsky:
“Die Farbe läßt sich nicht grenzenlos ausdehnen. Man kann sich das grenzenlose Rot nur denken oder geistig sehen. Wenn man das Wort Rot hört, so hat dieses Rot in unserer Vorstellung keine Grenze. Dieselbe muß mit Gewalt, wenn es nötig ist, dazu gedacht werden. […]
Wenn aber dieses Rot in materieller Form gegeben werden muß (wie in der Malerei), so muß es
1. einen bestimmten Ton haben aus der unendlichen Reihe der verschiedenen Rot gewählt, also sozusagen subjektiv charakterisiert werden und
2. muß es auf der Fläche abgegrenzt werden, von anderen Farben abgegrenzt, die unbedingt da sind, die man in keinem Falle vermeiden kann und wodurch (durch Abgrenzung und Nachbarschaft) die subjektive Charakteristik verändert wird (eine objektive Hülse erhält): hier spricht der objektive Beiklang mit.”
(Über das Geistige in der Kunst)

Die Idee der reinen Farbe ist bei der Gruppe Der Blaue Reiter stark ausgeprägt. Für Duchamp hingegen ist die Farbe aus der Farbtube bloß ein Ready-made, das auf die Wahlmöglichkeiten des Künstlers verweist.

Trotzdem: Für den einen wie für den anderen verweist die Farbtube auf die reine Farbe. Doch für Kandinsky ist sie der elementare Bedeutungsträger einer auf die Essenz reduzierten Bildsprache, für Duchamp ist sie lediglich die unvermischte Farbe, deren Reinheit der Hersteller, nicht der Künstler bestimmt. Für den einen wie für den anderen ist die Farbe Träger einer erotischen Macht. Doch während Kandinsky sie aus der Tube kommen, sich ausbreiten und die Leinwand befruchten sieht, zeigt Duchamp sie der Kastration unterzogen. Die Farbtube ist Bedeutungsträger des pikturalen Nominalismus.

Die diametrale Opposition zwischen Kandinsky und Duchamp wird nirgendwo besser sichtbar als in ihren Beschreibungen der reinen Farbe: Was für ersteren dieses sonderbare Wesen offenbart, das man Farbe nennt, ist für letzteren bloß ein industriell hergestellter Artikel, der das Etikett Farbe trägt.

Datei 1997