In der Mitte zwischen Kunst und Philosophie

Was ich vorzutragen habe, ist kurz und gedrängt. Es ist nur eine Skizze eines Betätigungsfeldes, die gerne einmal ausgeführt werden will, wenn sich mir Zeit und Gelegenheit dazu bieten. Und wenn ich sage Betätigungsfeld, dann sollte ich vielleicht hinzufügen, daß ich Verlegerin bin und aus Berlin komme, wo ich seit 20 Jahren Gegenwartsautoren publiziere im Bereich zwischen Kunst und Philosophie. Folglich lautet mein Vortrag auch nicht einfach „Kunstvermittlung”, sondern “In der Mitte zwischen Kunst und Philosophie”.

In der Reihe Internationaler Merve Diskurs sind Texte und Autoren der Gegenwart publiziert, die im weitesten Sinne zwischen Kunst und Philosophie angesiedelt sind. Die Betonung liegt auf dem zwischen, auf jener undefinierbaren Mitte, die den Bogen schlägt zwischen dem, was sich so nahe liegt und doch nicht unmittelbar berühren kann. Und das geschriebene und gedruckte Wort bildet als Zeichenträger diese Brücke zwischen Kunst UND Philosophie, zwischen Vorstellung UND Darstellung. Da es weder die eine Philosophie noch die eine Kunst gibt, gibt es die verschiedensten Vorstellungen UND die verschiedensten Darstellungen beider. Zur Veranschaulichung der diversen Verschränkungen im Dialog zwischen Kunst und Philosophie, sei hier einmal die Palette dessen aufgefächert, was Merve dazu publiziert hat – und zwar unter der Fragestellung:

Wer schreibt worüber?

– ein Austellungsmacher über seine Visionen eines imaginären Museums

– eine Künstlergruppe, die eine bestimmte Stilrichtung prägt

– ein Philosoph, der eine affirmative Ästhetik entwickelt

– ein Schriftsteller, dessen Hauptgenre die Bildbeschreibung ist

– ein Dichter, der Aphorismen zu anderen Künsten und Künstlern schreibt

– ein Kunstkritiker, der eine neue Kunstrichtung kreiert

– ein Semiologe über seinen Lieblingsmaler

– ein Journalist im Interview mit Künstlern

– ein Soziologe über die Weit als Museum

– ein Architekt über die Wahrnehmung von Geschwindigkeit

– ein Museumsbesucher über das Schicksal der Bilder

– ein Kybernetiker über den Status des Beobachters

1) Die erste Phase dieser Publikationsreihe kreist um den Anteil der Triebenergie am schöpferischen Akt, um die Intensitäten und Intentionen, um den Exzeß, das Obsessive, das Ereignis, das Begehren, das Imaginäre und Visionäre.

2) Die zweite Phase dieser Publikationsreihe kreist um die Präsentation und Repräsentation, um die Vorstellung und Darstellung und das Undarstellbare, um Bild, Erscheinung, Täuschung, um Trugbild und Simulakrum, Bilddenken und Begriffsdenken, Sprache und Zeichen, das Reale und Symbolische.

3) Die dritte Phase dieser Publikationsreihe kreist um die Ästhetik, das Auffassungsvermögen, die verschiedenen Perspektiven der Wahrnehmung, die Aufmerksamkeit des Betrachters, das Verschwinden des Sichtbaren, das Funktionieren des Wahrnehmungsapparates,den Status des Beobachters.

4) Und die vierte Phase dieser Publikationsreihe kreist um die Erweiterung des Kunstbegriffs, angefangen bei dem Gesamtkunstwerk, über die Lebenskunst, ars erotica, ars theoretica, ars politica, die Figur des Philosophen-Künstlers, die Kunst des Handelns, die Erweiterung der ars um techné, Philosophien der neuen Technologien.

Zusammenfassend könnte man diese vier Phasen folgendermaßen klassifizieren:

In der ersten Phase geht es um den Anteil der Triebenergie am Herstellungs- bzw. Produktionsprozeß,
in der zweiten Phase um die Gestalt des Produkts beziehungsweise des Werks,
in der dritten Phase um die Konsumtion bzw. Rezeption des Produkts und
in der vierten Phase um eine Überschreitung dieses ganzen Systems, das hier allgemein “Kunstbetrieb” genannt werden kann.

[Verlagspräsentation im Foyer der Kunst Halle St. Gallen 1995
in: fön Nr. 16, St. Gallen 1995,
Schluss gekürzt für Symposium Quantum Dämon, Graz 29.4.1995,
erweitert als Bewerbung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig:]

Von der Form zum Diskurs

Dies ist nur EIN Blickwinkel, unter dem mein Betätigungsfeld betrachtet werden kann. Wenn ich zum harten Kern des bisher nur allgemein Vorgetragenen vorstoßen will, müßte ich sagen, es geht um Ansätze strukturalistischer Zeichentheorie beziehungsweise um eine semiotische Lesart der Künste. Dazu folgende Ausführungen:

So wie sich das Geld von seiner Referenz oder seinem Bezug auf den Gebrauchswert gelöst hat, also vom materiellen Träger Gold über Papier bis hin zum elektronischen Zeichen bzw. Impuls am Bildschirm, so hat sich auch die Kunst erst von ihrer Abbildfunktion gelöst, dann hat sich die Darstellung vom Bildträger gelöst und ist reines Zeichen geworden, dessen letztgültiger Wert vielleicht noch die Signatur darstellt. Und hinzugefügt werden muß, daß der Entwicklungsprozeß des Geldes ebenso wie der Entwicklungsprozeß in der Kunst, an der Sprache nicht spurlos vorbeigegangen ist. Auch sie hat sich von ihrer Abbildfunktion gelöst und ist zum schöpferischen Umgang mit Begriffen übergegangen, zu einem Radikalen Konstruktivismus.

Anhand des Aufsatzes von SYLVÈRE LOTRINGER, einem französischen Nomaden, der seit 20 Jahren an der Columbia University von New York lehrt und die Kunstszene dort bestens kennt, anhand seines Aufsatzes über die Entwicklung der New Yorker Kunstszene in den 80er Jahren ließe sich zeigen, wie vom ästhetisch politischen Kultmilieu über die Einflüsse der Neuen Wilden bis hin zu den Simulationisten, es eine Entwicklung zu einer “Kunst in den Zeiten der Theorie” gegeben hat, einer Theorie, die wiederum von den französischen Denkern der 70er und 80er Jahre geprägt worden ist.

Allen voran der französische Philosoph MICHEL FOUCAULT (1926-1984), der in seinem Aufsatz über René Magritte zeigt, daß es in dem Verhältnis von Wort und Bild nicht mehr um die Repräsentation einer Sache durch ein Bild bzw. Wort geht, sondern um das Beziehungsgeflecht von Zeichen, die sich in einen unendlichen Verweisungszusammenhang verstrickt haben, so daß er den Schluß daraus zieht und sagt: Malen ist behaupten. Übrigens enthält der Foucault-Band Dies ist keine Pfeife eine herrliche Antwort von Magritte selber, der ein interessierter Leser der Foucault’schen Werke war.

In den beiden Aufsätzen des französischen Semiologen ROLAND BARTHES (1915-1980) über den amerikanischen Maler Cy Twombly, die mehr als nur Beschreibungen der Bilder Cy Twombly’s sind, wird dieser Gedanke am Verhältnis von Wort und Bild aufgegriffen und dahingehend akzentuiert, daß es allein der Malgestus ist, auf den es ankommt, also kurz: Malen ist ein Faktum (pragma), ein Zufall (tyche). ein Ausgang (telos), eine Überraschung (apodeston) und – darauf wollte ich hinaus: eine Handlung.

Der französische Kulturtheoretiker JEAN BAUDRILLARD (geb. 1929), der in unserer zeitgenössischen Medien- und Werbungswelt eine Anarchie der Zeichen sieht und für den das Zeitalter der Transästhetik angebrochen ist, bescheinigt in seinem Aufsatz Die Präzession der Simulakra der Kunst und den Medien eine “göttliche Referenzlosigkeit der Bilder”.
Das heißt, die unendlich vielen Bilder, die tagtäglich auf uns einströmen, beziehen sich nicht wirklich auf etwas, sie bezeichnen in dem Sinne buchstäblich NICHTS mehr, sie sind willkürlich flottierende Zeichen wie auch das Geld und letztendlich vorgetäuschte Zeichen, Simulationen, Simukakra, Trugbilder.

Und der französische Philosoph JEAN-FRANÇOIS LYOTARD (geb. 1924) beschäftigt sich in seinen ästhetischen Betrachtungen, namentlich seiner Affirmativen Ästhetik, seiner Kunst und Philosophie im Zeitalter des Experimentierens und seiner lmmaterialität, so drei deutsche Buchtitel von ihm, er beschäftigt sich nicht nur mit dem Wechsel von Vorstellung und Darstellung, sondern mit dem Undarstellbaren. In seinem Aufsatz über Barnett Newman ist das Undarstellbare, das aufscheint, jener winzige Augenblick BEVOR man das Bild gesehen hat und NACHDEM man das Bild gesehen hat. Und mit diesem Bruchteil eines zeitlichen Moments nähern wir uns der ganzen Palette des Immateriellen, das in der bildenden Kunst, in den neuen Medien, in den Geldtheorien wie in der Sprache seine gegenwärtige Form besitzt.

Was ich mit dieser skizzierten Liste der wechselseitigen Beeinflussungen zwischen Kunst und Theorie sagen will, ist ein Wechsel des Systems der Repräsentation durch Ähnlichkeit zum System der Referenz durch Zeichen und darüber hinaus. Es ist parallel mit der Entwicklung der Kunst auch ein Wechsel von der Form zum Diskurs.

Nachdem ich im ersten Teil meiner Ausführungen allgemein etwas gesagt habe zum Verlagsprogramm, das ich publiziere, und im zweiten Teil den inneren theoretischen Strang skizziert habe, den ich verfolge, und aus dem sich leicht ein Seminarprogramm mit begleitendem intensiver Lektürezirkeln machen ließe, will ich mich nun stürzen aus den Höhen dieser Denkbewegungen in die Praxis, in die Pragmatik meines Tuns. Es folgt ein willkürlicher Querschnitt durch das 1995. Die Aktivitäten, die hier genannt werden, haben keine logischen Verknüpfungen, sind aber Bestandteil meines Werdens, wo Leben und Denken und Handeln miteinander verwoben sind.

Anfang des Jahres gab es in den Räumen des Verlages, das ist eine alte Fabriketage im Stile der New Yorker Lofts, eine Ausstellung von Reinhard Voigt, einem deutschen Künstler aus LA, der meines Wissens hier in Braunschweig auch gelehrt hat. Es wurden drei Beispiele seiner Wortmalerei gezeigt, die digitale Computerpixel in analoge Malerei auflöst.

• Im Februar habe ich in der Neuen Galerie Graz eine Verlagsinstallation gezeigt, verbunden mit einem Vortrag im Rahmen eines internationalen Symposiums zum Thema Kunstkritik, das von Peter Weibel organisiert wurde.

• Im März habe ich zum 25jährigen Bestehen des Verlags eine Audio-CD produziert zusammen Hans Peter Kuhn, dem Tonmann des Theaterregisseurs Bob Wilson, und dem Schauspieler Hanns Zischler. Die CD, die aus Stimmen und Zitaten der Verlagsautoren besteht, untermalt mit Geräuschkulissen von fahrenden Zügen, Caféhausgeklapper usw., habe ich in ein Buchobjekt verpackt unter dem Titel You Can’t Judge a Book by it’s Cover.

• Im Frühjahr habe ich als Abschluß meiner Tätigkeit als Jurorin für Design an der Akademie Schloß Solitude in Stuttgart ein Symposion veranstaltet zum Thema “Handlungsstrategien”. Als Vortragende waren eingeladen Johannes Gachnang in seiner Eigenschaft als internationaler Ausstellungsmacher, Kurt Weidemann in seiner Eigenschaft als Managementberater, ein Systemtheoretiker des Geldes, ein Philosoph und einige Künstler, die diesem 3tägigen Rencontre einen Festcharakter verliehen haben. Mich interessierte daran das handlungsbezogene Erfahrungswissen von Machern in verschiedenen gehobenen Stellungen abzurufen.

• Sie werden mich vielleicht fragen, was hat Design mit meiner Verlagstätigkeit oder mit Kunstvermittlung zu tun? Die Designer haben mir in den 80er Jahren entscheidende Impulse geben, die 3. Dimension wieder ins Denken zu integrieren und ihr popartmäßiges Aufgreifen der Readymade Idee von Duchamp hat mir viel gegeben. So gesehen hat es mich auch gefreut, daß einer der damals von mir ausgestellten Designer, der Londoner Jasper Morrison, nun einen großen Sprung nach oben gemacht und die gesamte lnnenaustattung des großen Potsdamer Art’otels gestaltet hat und die künftigen hannoverschen Straßenbahnen entwerfen wird.

• Im April habe ich in den Verlagsräumen ein Konzert mit dem Komponisten Walter Zimmermann veranstaltet mit einem Flötentrio aus Holland und mit Werken von John Cage.

• Im Juni habe ich in den Verlagsräumen eine Ausstellung der japanischen Künstlerin Nanae Suzuki ausgerichtet. Es handelte sich dabei um Aquarelle alter italienischer Stadtkerne aus der Vogelperspektive. Die Werkschau bildete einen Abschnitt verschiedenster Studien der japanischen Künstlerin zur unterschiedlichen Entwicklung von Parallel- und Zentralperspektive in Asien und Europa. Dazu muß man wissen, daß in Asien der Einzelne nicht eine so zentrale Rolle spielt wie in Europa und besonders in Amerika.

• Im Sommer war ich einen Monat lang als künstlerische Beraterin tätig für den Wettbewerbsbeitrag einer Berliner Landschaftsgestalterin für einen großen Park am Potsdamer Platz in Berlin Mitte. Ich war dabei für die “Philosophie der Wege” zuständig und für die Laufrichtung der Tal- und Seenlandschaft. Die Funktionsbestimmung des Parks für Büroangestellte im Jahre 2009 war dabei genauso wichtig wie die Rückbesinnung auf die Berliner Urstromtal-Landschaft und die Achsen der Laufwege im Lageplan des städtischen Gefüges.

• Im Rahmen des diesjährigen Theaterfestivals habe ich im Oktober in München 4 verschiedene Abende zum Thema “Theatrum philosophicum” inszeniert. Dazu habe ich einen Performer, einen Underground-Poeten, einen Komponisten, einen Philosophen, einen Schauspieler, eine Bühnenbildnerin und eine Soloviolonistin gewinnen können, die im Duo jeweils einen philosophischen Text szenisch interpretiert haben. Die Gestaltung dieser sehr unterschiedlichen Abende – als Studiovorführung, als arabischer Märchenabend, als Dichtung im Bar-Ambiente oder als wandelndes Text-Stakkato – war für mich ein Experiment mit der Textgestaltung im Klangraumambiente.

• Und heute am 5. Dezember 1995 stehe ich vor Ihnen und beende meinen soeben gehaltenen Vortrag mit einem Dankeschön für Ihre Aufmerksamkeit.

Hochschule für Bildende Künste Braunschweig

gekürzt für Quantum Dämon Graz:

Bei allen publizistischen Unternehmungen ging es nie darum, die Philosophie mit Kunst zu versorgen, noch darum, eine erschöpfte Kunst durch einen reflektierenden Diskurs aufzuwerten. Die Vereinnahmung der Theorie zwecks Werbung, Selbstlegitimation und Einschüchterung seitens der Kunst hat uns nie interessiert. So wie beispielsweise die Kunstkritik zum Teil nur ein Parasit der französischen Theorie war und die Kunstzeitschriften in Amerika nur ein Anhängsel der akademischen Institutionen. Allerdings sollte es umgekehrt Künstlern immer erlaubt sein, Theorie kreativ zu mißdeuten.

In den 50er Jahren kam der Spruch auf: moderne Kunst ist erklärunqsbedürftiq. Mal abqesehen davon, daß mit diesem Spruch der Kunst eine gestalterische Schwäche, ein Mangel an Veranschaulichungskraft unterstellt wird, sagt dieser Spruch auch, welch instrumentelles Verhältnis man damals zur Sprache hatte. Aber das Verhältnis von Perzept und Konzept, Wahrnehmung und Wahrgebung, Auffassen und Aufnehmen hat sich grundlegend gewandelt. Natürlich kann man immernoch sagen, daß die Vollendung eines Werkes durch seine Betrachtung vonstatten geht. Aber das Verhältnis zur Sprache ist nun eines, das nicht restlos auf Begriffen beruht, sondern selber experimentelle Herstellung von etwas Unbekanntem. So daß man nun nicht mehr nur von der Veränderung des Werkes durch seine Beschreibung sprechen kann, sondern von der Ersetzung der Kunst durch Theorie, nachdem die Kunst selber als Zeichen‑Ware gedient hatte.

Übersetzt man das eben gesagte auf Quantum Dämon, dann ist es eben nicht nur so, daß der Beobachter das Experiment verändert, sondern ersetzt. Dies ist der letzte Dreh in der Objekttheorie des Kybernetikers Ranulph Glanville, daß wir selber das Glas sind, das vor uns steht. Für “die Kunst in den Zeiten der Theorie”, wie Sylvère Lotringer dies für die 80er Jahre diagnostizierte, mag das zutreffen. Inzwischen hat sich die sogenannte Kontext‑Kunst diese Rolle insoweit wieder angeeignet, daß sie ihre eigene Funktion und Definition reflektiert. Aber trotz allem will es mir so scheinen, als handle es sich dabei um einen Binnenkontext, der über das geschlossene System des Kunstbetriebs mit seinen dazugehörigen Verwaltungsinstitutionen nicht hinauskommt, während man in der Wirtschaft und Technik hauptsächlich mit offenen Systemen arbeitet, in einem offenen Außenfeld, wo der Kontext nicht mehr steuerbar ist, sondern vom Zufall regiert wird.

Was ich abschließend damit sagen will, ist folgendes: Der Kunst begegnet man nur außerhalb des Feldes der Kunst und der Philosophie begegnet man nur außerhalb der Philosophie.

Ab- und Zufälle III von Ellen Mund, Berlin 1995, S. 7-16 u. 28-32 (Privatbindung);
auf die Publikation in fön Nr. 16 wies mich freundlicherweise Jochen Stankowski hin