2. Januar 1999. Mein Tagebuch von 1998 Wo die Zeit geblieben ist beim Buchbinder.

Sonntag, 10. Januar 1999. Ende von Rainald Goetz’ Internet-Tagebuch ABFALL FÜR ALLE. Er bezeichnet die Form als Roman eines Jahres.

Donnerstag, 14. Januar 1999. Rückkehr von Sir Peter aus Laos.

Freitag, 15. Januar 1999. Eintreffen des fertigen Merve-Manuskripts von Qrt Leiner Schlachtfelder der elektronischen Wüste.

Samstag, 16. Januar 1999. Umzug. Nach zehn Jahren Junggesellenwohnung in Schöneberg mit Ofenheizung und Innentoilette Umzug nach Lichterfelde mit Zentralheizung, Bad und Balkon. Letzter Akt: den Teppich hinaustragen.

Sonntag, 17. Januar 1999. Sonntagmorgen in der neuen Wohnung. Ein Eichhörnchen sitzt seelenruhig vor dem Fenster und knabbert an einer Nuß.

Montag, 18. Januar 1999. Montagmorgen. Die Verlagsarbeit beginnt. „Unsere Arbeitsproduktivität beeinflußt unser Zeitempfinden. Den Alltag ohne Zeitvergeudung durchorganisieren – auch die Mußestunden.“ (Dirk Schümer Von der Sehnsucht, die Uhr zu besiegen, FAZ, 2. Januar 1999)

Mittwoch, 19. Januar 1999.  Gruppe 93 tagt im Verlag. Henning Schmidgen erscheint mit einer Plastiktüte mit der Aufschrift „Stell’ Dir vor es geht, und keiner kriegt’s hin“. Zu fortgeschrittener Stunde sage ich zu Henning: „Krieg’ die Freude wieder in die Augen, dann kriegst Du auch die Mundwinkel wieder hoch“. Henning schaute mir in die Augen und versuchte meinen lachenden Blick zu imitieren. Da saß er, die Augen leuchteten froh, und dann hoben sich seine Mundwinkel  im Moment des Erkennens. Seine Ironie hatte im selben Moment die Freude berührt.

Donnerstag, 20. Januar 1999. Berlin-Auslieferung von zwei neuen Merve-Titeln:
Kapielski Danach war schon und Michel Onfray Die Formen der Zeit.
Abends in der neuen Wohnung erste Telefonate unter der 8-stelligen Rufnummer. Vom Kassettenrekorder singt Cher „Sooner or later we all sleep alone.“

Was will ich diesem Jahr abgewinnen? Anfangs der Gedanke, dieses Jahr überhaupt nicht zu schreiben. Dann Ablehnung der Tagebuchform. Auf der Suche nach Formen des Schreibens.
Sir Peter legt mir die Lektüre von Ingeborg Bachmann nahe. Auch empfiehlt er die Lektüre von Autobiographien. Er stellte sogar die Frage in den Raum, ob ich nicht ein Merve-Buch schreiben wolle unter Pseudonym.
Vor dem Abfahrtssignal wünschte der S-Bahn-Ansager auf der Yorckstraßen-Station der heimkehrenden arbeitenden Bevölkerung einen schönen Abend.

Freitag, 22. Januar 1998. Zur Problematik vom Sagbaren und Sichtbarem.
– Blanchot: Parler, ce n’est pas voir
– Foucault: Ce que nous voyons ne se loge pas dans ce que nous disons.“
– Deleuze: Das Sehen vollzieht sich im Denken. Und das Auge denkt mehr noch, als daß es hört.

In dem Blanchot-Aufsatz Sprechen ist nicht sehen finde ich alte Anstreichungen von mir:
– Der Irrtum ist ohne Weg.
– Das heißt wahrscheinlich irren: sich der Begegnung entziehen.
– Durch eine Leidenschaft zu irren, die kein Maß kennt.

Sir Peter legt mir noch den Blanchot-Text über die zwei Versionen des Imaginären aus dem documenta-Katalog heraus.

Samstag, 23. Januar 1998. Fertigstellung meines Musiktagebuches 1998 HEIDI-MIX: Thanks for the Memory. Das vorbestellte Buch von Rainald Goetz Celebration ist beim Buchhändler eingetroffen. 90s. Nacht. Pop. Texte und Bilder zur Nacht. Celebrating a decade of achievement. Das Merve-Westbam-Buchcover war darin groß abgebildet und auch das Buchpremierenfoto vom Mittwoch im Suicide. Blätternd suche ich der Gliederung des Buches zu folgen, das die Jahre 1995-98 bildlich und publizistisch belegt.
Ich überprüfe die Quellenangaben, vergleiche die zwei Westbam-Textversionen (die Streichungen finde ich gut) und lese das Oehlen-Gespräch kursorisch. Es sind echte Pop-Fotos im Stile Andy Warhols. Was hatte das Bild seiner Mutter auf Seite 70 darin zu suchen? Schön die drei alten Gemälde. Bei der Aufstellung seines mehrteiligen fünften Buches fällt mir auf, daß ich Teil 5.4.2.1 WORD II. liegen. geht noch nicht kenne.
Celebration
sollte ein Buch sein, das man eigentlich nicht mehr lesen muß, worin man nur so blättert und das herumliegt und einen anweht, empfiehlt der Autor.
[Variante als Fax]

Henning Schmidgen schickt das Eno-Buch [A year with swollen appendices. Tagebucheinträge und Aufsätze, Faber and Faber, 1996]. Der Junge bleibt am Ball.

Orson Welles The Stranger Videoaufzeichnung angeschaut.
Abends Lektüre von Blaise Cendrars Wind der Welt. Abenteuer eines Lebens. Autobiographische Erzählungen. Schreiben im engen Verhältnis von Leben und Werk.

Sonntag, 24. Januar 1999. Liegengebliebenes wegarbeiten. Dem WORD II-Hinweis von Goetz nachgehen: unter der Verzeichnisnummer 5.4.1. VII 3.6  23.20 Uhr vom 12.12.1998 finde ich den Eintrag: „Mit Klaus und Max an WORD II. Liegen.“

Elia Kazan The Last Taikun Videoaufzeichnung angeschaut.
Abends im Bett Nachsinnen über den großen Bogen und die Aufsplitterung der Zeit, über Zeitzerfälle in Parallelzustände.

Montag, 25. Januar 1999. Mit Kapielski Sauternes-Weinprobe im Verlag.

Donnerstag, 28. Januar 1999. Goetz-Brief aus Hamburg vom 22. Januar eingetroffen, dem letzten Spieltag von Krieg im Schauspielhaus. Der Zufall wollte es so. In meinem Antwortbrief rege ich eine Goetz-Ausstellung bei Merve an.

Freitag, 29. Januar 1999. Beginn der Übersetzer-Redaktion an Michel Foucault’s Manet-Buch. Foucault zeigt mir, daß ich das Offensichtlichste übersehe. Und die Arbeit erinnert mich daran, daß ich schnellstens in die neue Gemäldegalerie gehen muß, einige Gemälde recherchieren.

City of Hope von Sayles (USA 1991) in einer Videoaufzeichnung angeschaut. Der Film hat Tempo, eine Komposition aus vielen Parallelgeschichten, Verwicklungen, die Sprüche, die Sprachen des Milieus. Sehr gut.

Abends Lektüre von Blaise Cendrars Rum. Roman aus dem Jahre 1930 über den Rum-Millionär und Abgeordneten von Guayana Jean Galmot, der 1928 vergiftet wurde und den der Autor 1919 persönlich kennengelernt hatte.
„Der Mann mit den Kinderaugen – ein bißchen Angeberei war dabei. Ist Angeberei mit Realismus vereinbar? Auf einer gewissen Stufe wird sie zum Heroismus, zu einer Überlegenheit des Handelns.“

Samstag, 30. Januar 1999. Merve Buchpremiere von Onfray Formen der Zeit. Eine Theorie des Sauternes in der Weinhandlung VIVI-Culture. Lesung durch Hanns Zischler mit Weinprobe.

Abends Westbam-Konzert Electric Kingdom in der Columbiahalle. Großartig! In der VIP-Lounge erfährt sie von William Röttger, daß WORD II noch nicht erschienen ist.

Sonntag, 31. Januar 1999. Joszef Tillmann kommt aus Budapest zu Besuch. Er bringt ein antiquarisches Buch aus den 20er/30er Jahren über Bali mit. (Robert Genin Die ferne Insel. Aufzeichnungen von meiner Fahrt nach Bali in Wort und Bild. Wegweiser-Verlag, Berlin). Sie sprechen über Reisen und Reiselektüren. Nachmittags nachträgliches Weihnachtsgansessen bei meiner Schwester.

Montag, 1. Febraur 1999. Übersetzungs-Redaktion Foucault-Manet. Das Bild von 1871 Port de Bordeaux aus Züricher Privatbesitz kann sie nicht auftreiben.  Abends Geisha-Roman-Lektüre.

Dienstag, 2. Februar 1999. Qrt Schlachtfelder der elektronischen Wüste druckfertig gemacht.
Um 14 Uhr bringt Hannes Böhringer sein neues Manuskript, seine Vorlesungen aus USA.
Sechs Konzepte zur modernen Kunst.:
– Nothing Special über George Brecht
– Almost Nothing über Matta-Clark
– Vortex über den Erfinder  (Literatur)
– Wit über Thomas Kapielski
– Sentiment über Andy Warhol
– Simplicity über Eva-Maria Schön.

Freitag, 5. Februar 1999. Lektüre Arthur Golden Die Geisha. Roman (München 1997). „Ich begriff die große Gefahr, die darin liegt, wenn man sich nur auf etwas konzentriert, was nicht da ist.“

Sonntag, 7. Februar 1999. Buchpremiere Kapielski Danach war schon. Lesung mit Kreuzberger Nasenflötenorchester in der Prater-Gaststätte. Himmel und Menschen. Hanns Zischler zeichnet auf Video auf.

Dienstag, 9. Februar 1999. Lektüre von Peggy Guggenheim Ich habe alles gelebt.

Mittwoch, 10. Februar 1999. Auf dem Cover des Berliner Stadtmagazins ist zu den Filmfestspielen Kapielski abgebildet, mit einem Hinweis auf das neue Merve-Buch.

Samstag, 13. Februar 1999. Verlegerpräsentation Johannes Gachnang Bern bei Barbara Wien, Berlin-Mitte. Ich spiele die Fotografin und lichte alle Gäste ab.

Dienstag, 16. Februar 1999. Verlagssitzung beim Steuerberater wg. Gesellschafteranteil von 8% von Anna Lowien und wg. evtl. Kapitalaufstockung und wg. evtl. Umwandlung der GmbH in eine Stiftung und wg. Lagerbewertung.

Mittwoch, 17. Februar 1999. Drinnen erblühter Kirschzweig in der Vase, draußen Schnee auf den Ästen vor dem Fenster.