Im Garten

Und es gibt keinen Trost, Heidi Paris ist aus der Welt gefallen, hat den Kampf aufgegeben, hat sich das Leben genommen. In Verzweiflung und in Angst vor der Zukunft.
Zusammen mit Peter Gente machte Heidi Paris den Berliner Merve-Verlag, der seit Anfang/Mitte der siebziger Jahre nicht nur Bücher der französischen Poststrukturalisten Jean Baudrillard, Paul Virilio, Michel Foucault und Felix Guattari (und Jean-Francois Lyotard und Gilles Deleuze) verlegt und damit deren Rezeption in Deutschland wesentlich mitgeprägt und angestoßen hat, Daneben gab und gibt es immer auch eher “literarische” Bücher und Bücher von Künstlern. Merve verlegte Bücher von Rainald Goetz, Thomas Kapielski, Walter Seitter, Peter Weibel und Heiner Müller genauso wie von DJ Westbam oder von der Performancegruppe Minus Delta t.
Sie brachten ein Fotobuch von Martin Kippenberger genauso heraus wie Bücher von Cy Twombly, Jean-Luc Godard und Derek Jarman oder das Buch Geniale Dilletanten von Wolfgang Müller – ein Patchwork-Verlagsprogramm ständiger rastloser Neugier und ‘Suche im Rhizom Welt, alles den Lesern präsentiert in diesen kleinen schmucklosen Bändchen mit der farbigen Raute auf dem Titel. Letztes Jahr erst bekam der seit 30 Jahren bestehende Merve-Verlag auf der Leipziger Buchmesse den mit 50000 Mark dotierten Kurt-Wolff-Preis für unabhängige Verlage” überreicht, eine eigentlich längst fällige Ehrung (und Geldspritze) für die idealistischen Verleger. Heidi Paris ist tot. Was bleibt, ist Trauer, sind Erinnerungen.
Erinnerungen an die alte Berliner Merve-Wohnung mit dem vergessenenen Koffer von Paul Virilio im Flur (und mit dem Mitbewohner Thomas Kapielski), Erinnerungen an Heidi/Merves experimentell gestaltetes und kurzlebiges Magazin Schlau sein – dabei sein. Anfang der achtziger, Erinnerungen an Buchmessen, zu denen Heidi Paris und Peter Gente in meinem Atelier im Frankfurter Bahnhofsviertel übernachteten, weil das billiger als ein Hotel war … Wir kannten uns seit Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre. Es war keine enge Freundschaft, es war eine gute Bekanntschaft, der es zur Not genügte, sich einmal im Jahr zu sehen.
Ich habe Heidi Paris im Gegensatz zu dem eher stoisch-ruhigen Peter Gente stets als lebendig und rastlos erlebt, oft auch erschöpft natürlich vom Verlag, von der Arbeit. Ich glaube, sie war gerne lebendig. Und sie liebe Gärten, sagte sie einmal: “Es ist die Pflanze, die den Menschen über das Zyklische seines Schicksals ahnungsvoll in Kenntnis setzt”. Heidi Paris ist nicht mehr. Es ist ein Verlust für uns alle und ein großer Schmerz. Und es hat wie alle Tode keinen Sinn”.
Das ist der Schmerz, Und weil wir nicht einmal hoffen können, dass sie jetzt in einem großen, schönen Garten wäre. Für immer.

Walter E Baumann, Frankfurter Rundschau, 20.9.2002

Schwester Merve

Bücher aus dem Merve-Verlag, ob sie von der Semiotik des Krieges oder dem Jahrzehnt der schönen Frauen handeln, ob ihre Verfasser Foucault oder Goetz, Kapielski oder Lotringer heißen, eben nicht in Regalen, sondern auf Plattenkoffern, in Mänteln, auf Autorücksitzen und neben Betten, die oft bloß große Matratzen am Boden sind.
Als Heidi Paris Mitte der siebziger Jahre zu Peter Gente stieß, der dem Herausgeberkollektiv einer Reihe namens “Internationale Marxistische Diskussion entstammte, schuf sie mit ihm das Merve-Format, Texte aus einer eklektischen Welt  der Debatten, die sich zwischen publizistischer Intervention öffentlicher Intellektueller und Nebenwerken anerkannter Star-Akademiker bewegten, bekamen durch die einfarbigen Rauten auf dem Cover ein Gesicht. Eine Weile sah es so aus, als hätten Gente und Paris einen gültigeren Anspruch darauf, sich das Wort “Diskurs” urheberrechtlich schützen zu lassen, als Michael Jackson auf die von ihm ersteigerten Beatlesrechte. An Anerkennung dafür, vom Journalistenlob bis zum Kurt-Wolff-Preis 2001, hat es nicht gefehlt. Die zweite Säule des höheren deutschsprachigen Studentenlebens neben Suhrkamp mit Gente zu stützen, war eine Titanenarbeit, die Heidi Paris jetzt nicht mehr fortsetzen wird. Am Sonntag ist sie in Berlin gestorben.

Dietmar Dath, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.9.2002

Ihr Blick

Jedes Mal, wenn ich die Ehre hatte, in Deutschland vor Publikum zu sprechen, wurde ich vom Blick und dem Antlitz einer schönen blonden Berlinerin unterstützt und getragen, einer Freundin von Foucault und mir seit dreißig Jahren.
Dank ihr oder vielmehr wegen ihrer angeblichen Ähnlichkeit mit einer Frau der Baader-Meinhof-Gruppe, konnte Foucault für einige Stunden Bekanntschaft mit einem Berliner Gefängnis machen.
Ihr zustimmendes Lächeln oder ihre Kritik ausdrückende Mimik brachten mich dazu, meine Rede zu ändern, als wäre sie meine Dirigentin gewesen.

Heute werde ich vergeblich unter Ihnen dieses geliebte Gesicht von Heidi Paris suchen. Ich stehe einem schwarzen Loch gegenüber, und doch spreche ich heimlich für sie, denn das, was ich nun sagen werde, habe ich mir als etwas vorgestellt, das getragen vom Versprechen des Dialogs mit ihrem Blick sich entwickeln wird.

Daniel Defert, 19. 9. 2002, “Foucault und die Künste”, zkm Karlsruhe
Libération

… In bestimmten Naturellen wurden diese Grellheitszustände der gegenwärtigen Jetztzeit als Verschattung, als Verdüsterung der Seele, als die Düsternis der Nullerjahre erlebt. Dadurch musste ich wieder an Heidi Paris denken, die das Hinunter, das 2001 angefangen hatte, nicht überlebt und sich im Spätsommer 2002 das Leben genommen hatte. Der Zeitsturm der späten 80er Jahre hatte ihr den Wahn zugetragen, sie hat sich davon aber, was selten gelingt, nicht völlig in Besitz nehmen lassen, hat weiter Bücher mit Peter Gente für Merve gemacht, hat der geistigen Spezialbedingung der Schizophrenie, über die sie, wenn es ihr richtig erschien, erschreckend direkt geredet hat, der besonders schutzlosen Offenheit nach innen, dem eigenen Denken, und nach außen, der Weltwahrnehmung gegenüber, die darin eingespeicherte philosophische Dimension mit dem Willen zur Energie, zum Leben und zur Texte produzierenden und erleuchtenden, produktiv illuminierenden Wahrheit wirklich abgerungen, maximal sachlich, trocken und ironisch dabei, und war dann, als es dunkel wurde, zu erschöpft, um dem noch einmal frisch entgegenzutreten.

Sie war der einzige Mensch, von dem ich mich in bestimmten Hysteriehysterien die Zeiten betreffend verstanden glaubte, sie war sehr streng mit den neuen Sachen, die sie allzu ungeduldig, waren sie erst mal da, auf ihre eigenen Erwartungen hin überprüfen wollte, sie erwartete vom jeweils Neuen immer wieder alles und das Tollste, und war dann oft enttäuscht vom Weg, den jemand genommen oder gewählt hatte, wir trafen uns nicht so oft, sie war ein fordernder Mensch, sie neigte zum schnellen, scharfen Impulsurteil, das fand ich natürlich wunderbar, obwohl klar ist, dass man damit nicht immer richtig liegt und oft daneben haut, aber sie war ja andererseits bestimmt von der ruhig über lange Distanzen mitgehenden Versenkungsbereitschaft in Texte, die das Leben der Lesenden, die sie die meiste Zeit ihres Lebens tatsächlich war, im Grund der Ruhe und in der Erregung des Geistes zugleich ausmacht.

Wir waren hier auf der Wiese Eichendorff Ecke Invalide gesessen, sie hatte per Post um ein Gespräch gebeten, es ging um Selbstmord, wir redeten über eine Deckperson, für die sie angeblich Erkundigungen einziehen sollte, es war ein herrlicher Sommernachmittag und ein sehr sachliches Gespräch, sofort war quasi eine Psychiatermaschine in mir angesprungen, die Suizidabwehr als Instantreaktion, aber auch die fundamentalere Ärztlichkeit der Lebenssicht, der hippokratische Eid, der Glaube ans Leben in Basalitäten, die unserem Bewusstsein nicht in ganzer Weite zugänglich sind, und die davon bedingte Demut, das Lassen und als einzige Entschiedenheit die zur Tatenlosigkeit in diesen letzten Dingen. Fand Heidi Paris nicht gut, aber sie wusste auch, dass ihre Bitte, mich an dem Mord, den sie plante, zu beteiligen, eine Ungeheuerlichkeit war, und so war das Gespräch eigentlich vielleicht dazu da, mich in ihren Lebensentschluss zum sogenannten Freitod einzubeziehen und so meine geistige Begleitung, auch über den Tod hinaus, dadurch zu bewirken.

Und so geschah es. Und so kamen kurz darauf die Freunde, Hannes Böhringer hat es beschrieben, an ihr Krankenbett, sie hatte es also gemacht, es war so gelaufen, dass sie nicht sofort ganz tot gewesen war, sie lebte noch, bewusstlos, der Körper lebte noch, gab uns so Gelegenheit, von ihr, die schon mal vorgegangen war zu den Toten, Abschied noch nehmen zu können. Für die Arbeit hatte sie mir Mut gemacht und Geduld aufgetragen, wenn es so weit wäre, könnte es vielleicht doch sein, dass ein Werk auch aus diesen Jahren mir zuwachsen würde. Sie wollte, selbst so angeschlagen, aufs großzügigste, dass den Menschen ihr Leben gelingt. Ich stand auf und brachte einen Toast aus auf die wunderbare Heidi Paris. Totenhütte, Sonnenschutz.

Rainald Goetz, loslabern, Suhrkamp 2009, S. 166 f.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

zwischen Kunst u. Philosophie

Heidi Paris hat Blixa Bargeld und den Maler Martin Kippenberger dazu gebracht, heftig eigenartige Bücher zu schreiben, Rainald Goetz und Westbam machten sich für sie an die Arbeit, eine Poetik der DJ-Kunst zu verfassen, und Niklas Luhmann tauchte dank ihr plötzlich in Berliner Subkulturkontexten auf. Es wäre unangemessen, Heidi Paris nur eine bedeutende Verlegerin zu nennen, obwohl sie auch das war:
Eine große, unverwechselbare Verlegerin, die gemeinsam mit ihrem Lebens- und  Arbeitspartner Peter Gente über gut 25 Jahre das eigensinnige Profil des Merve Verlags geprägt hat.
Vor allem war sie eine faszinierende, immer neu von Kunst und Philosophie faszinierte Entdeckerin – bei der man lernen konnte, wie avancierte Theorie, Avantgarde und Lebenskunst einander berühren.
Heidi Paris ist tot. Sie wurde 52 Jahre alt. Wer Bücher und die Grenzgänge zwischen philosophischem Denken und neuer Kunst liebt, wird sie noch lange vermissen.

Peter Laudenbach, tip: 26.09.2002

Tod einer Buchmacherin
Der Merve Verlag und seine Leser haben Heidi Paris verloren

Zu den wunderbaren und eigentlich unerklärlichen Phänomenen, die das Ereignis namens “68” hinterlassen hat, gehört der Berliner Merve Verlag. Kaum dass Merve die Eierschalen des Marxismus abgestreift hatte und aus dem Nest der Bewegung gefallen war, fand der junge Verlag auch schon sein kleines Format und seine großen Autoren. Kleines Format, das hieß Bücher von 17 mal 12 cm, eine Art Reclam der Postmoderne oder Duodez der Anarchie, billiges Papier und primitiver Satz, Minimalismus der Buchästhetik, und als einziger Schmuck die farbige Raute auf dem Titel.
Große Autoren, das waren die Heroen des Poststrukturalismus: Foucault, Deleuze, Lyotard, Virilio und Baudrillard, vermehrt um ihre deutschen Wahlverwandten Kittler, Seitter, Kippenberger, Weibel, Goetz und Kapielski. Das waren in der Tat nicht wenige: Soeben geht bei Merve der Band mit der Nummer 250 in Satz, und die Backlist weist mehr als 150 lieferbare Titel aus.

Seit jener selben Zeit, seit mehr als 25 Jahren, hatte Merve ein Doppelgesicht, bestehend aus den eigenwilligen Köpfen von Heidi Paris und Peter Gente. Gemeinsam machten sie die kleinen Bücher mit der großen Wirkung, gemeinsam erfanden sie Ereignisse zwischen theoretischer Literatur und Avantgardekunst, gemeinsam produzierten sie, nein: produzierten wir eine Zeitlang Zeitschriften wie “Tumult”. In Zukunft wird Peter Gente allein der Merve Verlag sein müssen: Am vergangenen Sonntag starb Heidi Paris in Berlin den Tod einer stoischen Philosophin.

Ulrich Raulff, Süddeutsche Zeitung 19.9.2002