Heidi Paris. 15. September 2002. Betrübnis und Schmach, wenn einer nicht mehr kann und selbst ein Ende setzt.
Was wissen und verstehen wir schon vom Anderen? Was er durchsteht, bleibt ewig dunkel und lößt sich nur in eigener Seelennot erahnen. Und was können wir schon tun? Trost sprechen, beistehen, die Hand halten? Natürlich, ja! Aber mein Gott, was wiegt das schon? Dort das ganz entlegene, zugreifende Unheil und hier ein ohnmächtiges Mitleid.
Kraftlos war sie nicht. Geradlinig, eigenwillig, manchmal spröde, immer auch rätselhaft. Dann wieder geläutert, licht und heiter. Sie hatte Anmut. Eine helle Seite.
Drängende Neugier um diese verwunderliche Existenz, die uns alle fatal umfängt und die wir doch so einsam erleben, und ein Anhauch auch von Schwermut, und daß wir hienieden klarkommen müssen, das macht uns vermutlich zu Gläubigen oder Philosophen. Glaube: längst zerronnen. Die Philosophie: mehr Schönheit als Trost. Es hat am Ende nicht gelangt.

Und da war die tiefe, dunkle Seite: In späten Jahren wurde ihr die Welt zunehmend unheimlich, bisweilen überkam sie eine uferlose Trostlosigkeit. Banalstes Weltenunglück setzte ihr zu. Sie versuchte sich zu rüsten, arbeitsam, ordnend, bedenkend. Als wir uns vor zwei Wochen das letzte Mal sahen, berichtete sie, dass man nun, angesichts der Fluten, der elften September und überhaupt anfangen müsse, Überlebensmaßnahmen zu treffen.
Ich sagte ihr: “Heidi, bleib gelassen, wir sind mit fünfzig aus dem Gröbsten raus und brauchen bloß noch zu gucken, der Rest ergibt sich. Und euer Laden läuft doch!”
Sie sah mich entsetzt an: “Kapielski! Wir werden einsam und verraten in schäbigen Altenheimen dahinsiechen.”

Es war ihr ernst damit, aber sie machte kein Aufhebens darum. In einer einsamen Nach wendete sie sich soeben rabiat gegen Leib und Leben. Erbarmen erhoffend durch Erbarmungslosigkeit? Sie überließ kein Wort.
Diesen Schleier muss jeder selbst heben.

Aus: Weltgunst, Merve 2003, S. 54-56

http://www.zeit.de/2002/40/NACHRUF/komplettansicht :
Der Schriftsteller Thomas Kapielski zum Tod der Verlegerin des Merve Verlags, Berlin: Heidi Paris. Geboren in Braunschweig, 1950. Eilig fort nach Berlin. Studium, Freie Universität. Aber das bremste schon damals alle, die ihr Leben nicht auf eine Promotion mit vierzig anlegten. Nein, Beschleunigung! Die Siebziger.

Theorie. Merve Verlag. Peter Gente. Liebe. Bücher. Die Achtziger fegten vorüber, Musik, Kunst, neue Denkwelten. Das waren schnelle drei Jahrzehnte.

Jetzt lebt sie nicht mehr. Das ist undenkbar! Betrübnis und Schmach. Heidi.

Sie lacht! Das werde ich nicht vergessen. Die dunkle, schnoddrige Stimme, geradlinig, spöttisch das traf manch einen, da es immer trefflich war.

Heidi. Sehr eigenwillig, manchmal spröde, immer auch rätselhaft, bisweilen jedoch geläutert, licht und heiter, höchst entspannt und fröhlich. Sie hatte Anmut, tänzerische Leichtigkeit. Eine helle Seite. Und eine tiefe: Herzlichkeit und Liebe. Und Glück all denen, die sie so sorgsam und freigebig mit Freundschaft beschenkte. Heidi Paris und Peter Gente. Eine mehr als fünfundzwanzig Jahre währende Liebe. So eigenartig, tiefgründig wie beide selbst. Und beide waren dieser Verlag. Dass da einer fehlt! Es ist unfassbar.

Ein Fluch in die Welt! Heidi Paris’ Skizzenbücher, Hefte, Entwürfe, wenigen nur zugeeignet, verborgen, beachtlich. Ihre drängende Neugier um diese verwunderliche Existenz. Die uns alle fatal umfängt, die wir aber auch so einsam erleben. Warum sonst Philosophie? Weil es Schönheit hat und weil wir hienieden klarkommen müssen. Und da war auch eine tiefe, dunkle Seite. In späten Jahren wurde ihr die Welt zunehmend unheimlich, bisweilen überkam sie eine uferlose Trostlosigkeit. Banalstes Weltenunglück setzte ihr zu. Sie versuchte sich zu rüsten, arbeitsam, ordnend, bedenkend. Als wir uns das letzte Mal sahen, berichtete sie, dass man nun, angesichts der Fluten, des elften September und überhaupt anfangen müsse, Überlebensmaßnahmen zu treffen. Ich sagte ihr: “Heidi, bleib gelassen, wir sind mit fünfzig aus dem Gröbsten raus und brauchen bloß noch zu gucken, der Rest ergibt sich. Und euer Laden läuft!” Sie sah mich entsetzt an: “Kapielski! Wir werden einsam und verraten in schäbigen Altenheimen dahinsiechen.” Es war ihr ernst damit, aber sie machte kein Aufhebens darum. Welche Verzweiflung ihr innewohnte, ahnten die wenigsten, Vertrautesten. Und dann aber lachten wir wieder – einen, nun weiß ich’s, letzten Abend lang.