Dia-Vortrag Darmstadt im Deutschen Werkbund e.V.  auf Einladung von Michael Andritzky 1983

Begleittext 1

Was kann ich sagen zu dem, was ich tat. Ich kann sagen, wie ich es tat.  Während eines Monats habe ich Fenster fotografiert. Die Wahl des Bildsujets, das Fenster, ist ein Ergebnis veränderter Wohnverhältnisse, sodaß Fensterfront und Himmelsehen zum täglichen Erfahrungshorizont wurden.

Diesem Umstand verdankt sich die erste Diaserie, die nur Aufnahmen von den Fenstern des Ortes zeigt, wo ich wohne. Die 2. Diaserie zeigt Fenster aus der Stadt, in der ich lebe.
Die eine Serie kennt das Konstanzprinzip, die Innenschau, die von dem Außen träumt, also eine mehr weibliche Sicht, wie sie die Maler der Delfter Schule zeigen.
Die andere Serie sucht die Variation im Außen und kann nur Funktionen, Stile und Kuriositäten / Skurrilitäten konstatieren: eine Sicht, wie sie vielleicht Architekten, Historiker oder berufsmäßige Fensterputzer teilen. Die Variation ergibt sich aus der Mischung der Berufe und Bereiche.

Welche Sicht der Welt eingenommen wird, zeigt sich am Fenster. Da beide Fensterserien nur Bilder von Fenstern zeigen und nicht selber Fenster sind, schien mir der Diaprojektor mit seinen lichtwerfenden Rähmchen ein adäquates Medium für das Sujet.
Sitzen wir nicht vor dem Wandbild wie der Träumer am Fenster ?!
Es wäre schön, wenn dies meine Fensterserien bei der Vorführung erzeugen könnten. Mehr kann ich nicht sagen zu dem, was ich tat. Bitte sehen Sie mehr darin, als ich sagen kann, und seien Sie gewiss: Die Sprache der Bilder hat ihre Vorteile gegenüber der Sprache der Worte.

Begleittext 2

Fenster machen etwas sichtbar, sie lassen Durchblicke zu, Einblicke oder Ausblicke.
Seit meinem Einzug in die alte Schöneberger Fabriketage mit der großen Fensterfront ließ ich täglich den Blick über das Schauspiel des Himmels schweifen, den Wechsel des Lichts, das Ziehen der Wolken. Das Haus trägt die alte Reclame-Aufsschrift: Optische Anstalt, Optische Industrie-Gesellschaft.
Mein tägliches Schauen hatte damit einen Titel bekommen. Ich verlängerte mein Auge durch die Fotokamera, ist sie doch dem menschlichen Wahrnehmungsapparat nachgebildet. Das Fenster, dieser Rahmen, der das Bild absteckt, diese Lichtquelle, die ihre Schatten wirft, hat es nicht eine technische Entsprechung im Diaprojektor, dem Bildwerfer gefunden? Dort, wo die Lampe leuchtet, strahlt sonst die Sonne; wo das Diarähmchen sitzt, ist unser Fensterrahmen; und dort, wo das Lichtbild die Projektionsleinwand trifft, da sitzen wir davor wie der Träumer am Fenster. Soweit zum Anlaß der Fensterserien.

Nun galt es, das Sichtbare sichtbar zu machen, ein Denken in Bildern zu entwickeln, eine technische Aufarbeitung der verschiedenen Gesichtspunkte meines Gegenstands, des Fensters, vorzunehmen. Die Unternehmung “Fenster-Dia-Serie” wurde begleitet von dem Grundsatz des John Cage: Form und Material variabel, Struktur und Methode konstant. Soweit mein allgemeiner Arbeitsgrundsatz.

Die 2 mal 80 Dias sind eine Serie. Das Prinzip der Serie ist noch nicht sehr alt, immerhin schon gut 20 Jahre in Musik und Fotografie als Kompositionsprinzip geläufig. Meine Beschäftigung mit dem Gesetz der Serie setzt später ein, eben erst, als ich mit einer Dia-Fenster-Serie schon befaßt war. Meine Forschungen gingen dafür umso weiter zurück.
Die Frage lautet: Wie komme ich von der zwei zur drei? Grundfragen, wie sie Schulkinder stellen, aber auch Mathematiker, Logiker (z.B. Gotthard  Günther). Die Frage Wie komme ich von der zwei zur drei? ist die Grundfrage, weg von der Dialektik – hin zu einem mehrwertigen System, das letztlich danach strebt, von 1 nach x-beliebig und direkt zu gelangen, ohne die schematisch sich entfaltenden Herkunfts- und Richtungswege zu gehen. Die Serie ist das Strukturprinzip meiner Arbeit.

Mir ging es in meiner Arbeit nicht darum, einen Gegenstand wie das Fenster entwicklungsgeschichtlich aufzunehmen und diese Bestandsaufnahme auf den neuesten Stand zu bringen. (Diese Fleißarbeit hätte weder mein Interesse erregt noch mich aus meiner Faulheit gerissen.) Mir ging es um die Darstellung eines Gegenstandes durch die Herstellung seiner Effekte. Anders als bei der bloßem Reihung oder Häufung kann man die Effekte nicht numerisch erfassen, man kann sie nur inszenieren, denn die zählbaren Merkmale sind eben nicht die speziellen Merkmale.
In unserem Fall: die Pattern, die eine Serie ausmachen, haben mit dem Gegenstand Fenster zu tun, bleiben aber nicht darauf beschränkt und können wie folgt nur unvollständig wiedergegeben werden:
innen – außen
Licht – Schatten
Glas – Rahmen,
samt allen Sicht- und Handlungsweisen, die diesen 3 Konstanten als Varianten abgerungen werden konnten. Die Unvollständigkeit liegt dabei in der Sache selbst. Ich mußte also eine Serie erstellen, die offen ist und endlos. Offenheit erzeugt man dadurch, daß man innerhalb einer Serie weitere Subserien aufmacht. Um zum Ausdruck zu bringen, daß eine Serie endlos ist (also daß es mir nicht um die Geschichte des Fensters ging, sondern um dessen Struktur, nicht um eine Bestandsaufnahme, sondern um eine Inszenierung), um das darzustellen, war mir das Dia-Karoussell ein geeignetes Vorführinstrument, denn das läuft ja rund: Stunden, wenn es sein  muß.

Um aber das Nacheinander der gesteckten Dias auch aus ihrer Erstarrung der Anordnung zu lösen, setzte ich ein zweites Karoussell ein, das zeitlich asynchron zum ersten Projektor läuft. Dadurch ist zwar noch keine Unendlichkeit der Kombination erreicht, wohl aber eine Erhöhung um mindestens 80 mal 80 x (x= Zeiteinheitendifferenz zwischen Projektor 1 und Projektor 2). Die offene, potentiell endlose Serie ist ein Ergebnis meiner Fotoarbeit, technisch umgesetzt im Dia-Karoussell. Soweit zu Methode und Struktur meiner Arbeit.
Die Erstellung des Materials, der Form, ist ausgehend davon dann beliebig und kann mehr oder weniger poetischen Geistern überlassen werden. Ich lade Sie bei der Vorführung also ein zu einer kleinen poetischen Träumerei am Fenster.

Wenn das Licht erloschen, der Raum verdunkelt ist, erscheint uns das Fenster als Loch in der Wand. Mögen wir darauf starren, aus dem Dunkelsten unseres Inneren heraus: Die fernen Toten werden uns an diesen Fenstern nicht mehr erscheinen. Mag auch der Himmel sich im Fenster spiegeln, was wir sehen, ist nicht der Vogel, der den Himmel teilt; wir sehen Abbilder, den schwachen Glanz der Dinge.
Von innen betrachtet: das Fenster ein Grab, in dem wartende Sehnsucht schmerzt;
von außen betrachtet: Heimweh aus der Fremde kommend.

Das Fensterkreuz, ein Zeichen des Todes
Das Fenstergitter, das der Gefangenschaft
Die Frau am Fenster, erwartungsvoll
Die Fensterbank, halb Lehne, halb Stuhl
Das Blumenfenster, eine Zierde
Das Schaufenster zeigt, was es zu zeigen hat
Das Zugfenster, der erste Film
Das Kellerfenster, einfache Lüftung
Das Turmfenster, ein Panorama uns.

Wir schauen, wir blicken, wir betrachten, spähen, beobachten, wir sehen.
“Fenster” etymologisch betrachtet, stammt zum einen von wind-auge, woraus Englisch window wurde; der andere Wortstamm, das Altgermanische, heißt aug a tora, Augentor. Auch heute noch wird der Zugang zum anderen Menschen durch den Blick in dessen Augen gesucht. Das Auge gilt metaphorisch immer noch als Fenster der Seele, auch wenn ein Brillenhersteller für sich mit dem Satz wirbt: “Optik ist unser Fenster zum Geist.”
Seele und Geist haben etwas gemeinsam.

Zwei Dinge zum Abschluß:
Die Aufnahmen wurden fast ausnahmslos mit einer billigen Klick-Kamera (Kodak Instamatik) gemacht, die mir vor 9 Jahren meine Großmutter schenkte. Das Filmpositivmaterial wurde im Zustand seines Verfalls, nach Ablauf des Garantie-Datums, das die Hersteller ansetzen, zu Schleuderpreisen erworben. Diesen beiden Umständen verdankt meine arme Kunst sehr viel.

Material

– Gaston Bachelard, Epistemologie (Frankfurt/Berlin/Wien 1974)
– George Kubier, Die Form der Zeit (Fankfurt 1952)
– Marcel Broodthaers’ Arbeit “Buffalo Bill. Projection de diapositives” 1974,
abgebildet in dem Ausstellungskatalog von Isy Brachot,
Marcel Broodthaers 1924-1987 (Paris, Nov. 82 – Jan. 83)
– Theo Kneubühler, “Der Raum im Bild und der Blick hinaus”,
in: Basler Magazin, Nummer 39, 29. September 1979
– Kalender der Deutschen Bank v. 1981 “Blicke aus dem Fenster”
– Paul Virilio, “La troisième Fenêtre”,
in: Cahiers du Cinéma, Nr. 322, April 1981

Lieber Michael Andritzky,

da Sie mich schreibend gezwungen haben, mehr zu tun, als ich vorhatte, müssen Sie nun auch in Kauf nehmen, daß ich diese kleine Briefsendung dazu mißbrauche, mir selbstreflexiv darüber Klarheit zu verschaffen, was ich zu tun im Begriff war und bin. Die Dia-Fenster-Serie hat eine Fortsetzung, die das Medium Fotografie verläßt und infolgedessen hier nicht zu sehen ist. So will ich sie denn zum Abschluß schreibend erzählen:

Geschichte 1: eine Schaufensteraktion. Beschreibung:
Zwei Personen sitzen lesend im leeren Schaufenster einer Kunstbuchhandlung (im Bahnhof Zoo, Berlin 4.6.83).
Am Schaufenster sind zwei Schilder angebracht. Auf dem einen Schild steht “Lektor und Lektorin”. Auf dem anderen Schild steht “Unsere Aussichten – Ihre Einsichten”. Bei den beiden Personen handelt es sich um einen Verleger und eine Verlegerin.

Geschichte 2: eine Rauminstallation. Beschreibung:
In der Schöneberger Fabriketage, wo auch die Fenster-Dias entstanden, hängt heute gegenüber der  Fensterfront eine 4 mal 2 Meter große Leinwand, darauf ein Himmel gemalt ist. Das Gemälde ist eine Leihgabe des Künstlers Geoffrey Hendricks. Vor dem Himmelsgemälde stehen zwei Stühle. Der eine Stuhl schaut in Richtung auf das Gemälde und trägt ein Messingschild mit der Aufschrift “In den Himmel zu blicken”. Der andere Stuhl schaut in Richtung auf die Fensterfront und trägt ein Messingschild mit der Aufschrift “Stuhl zum Nachdenken”. Darüber nachdenkend, stellt sich mir die Frage:
Ja können denn Stühle schauen?

Meine nächste Arbeit wird möglicherweise eine Rauminstallation mit Stühlen sein.

Einladung 1982 (Fotokopie)

5 DIN A4-Seiten, Durchschlag v. Schreibmaschine