Tuschzeichnung o.D., ausgewählt von Peter Gente, in: Für Heidi, 2003

Mitte Februar. Vorbereitung auf die Shanghai-Reise. Lektüre von Henri Michaux Ein Barbar in China:

  • Ein Augenblick, in dem das Flüchtige und das Zeitlose sich kreuzen.
  • Wunder von Ferne oder Traum?
  • Begegnung des Imaginären mit dem Realen.
  • Eine zweimalige Einmaligkeit.

Lektüre des chinesischen Buches der Riten, Sitten und Bräuche, des Li Gi,
in der Übersetzung von Richard Wilhelm:
– Die Opferung ist eine Meditation, bei der man etwas Abwesendes sich
vergegenwärtigt und sich etwas Fernem nähert.
– Leben zeigt sich im Erleben.
– Wenn man sein Ziel kennt, so hat man Festigkeit; hat man Festigkeit, so bekommt
man Ruhe; hat man Ruhe, so bekommt man Sicherheit; hat man Sicherheit,
so kann man nachdenken; durch Nachdenken erreicht man das Ziel.
– Erkenntnis besteht darin, daß die Wirklichkeit beeinflußt wird.
– Der Edle achtet stets darauf, was er für sich allein hat
– Was man wahrhaft mit dem Herzen sucht, das kann man vielleicht nicht treffen,
aber man kommt nicht weit davon ab.
– Das Empfangende steht an erster Stelle, das Schöpferische an zweiter.
– Die Gefühle der Menschen: Freude, Zorn, Trauer, Furcht, Liebe, Haß.
– Wenn man Sitte und Pflicht zum Werkzeug nimmt, so kommt jede Arbeit und jede
Handlung zu einem guten Ende.
– Wenn das Herz von Heiterkeit bewegt wird, so wird der Laut langsam und weich;
wenn das Herz von Freude bewegt wird, so wird der Laut stark und zerstreut sich;
wenn das Herz von Ehrfurcht bewegt wird, so wird der Laut gerade und bescheiden;
wenn das Herz von Liebe bewegt wird, so wird der Laut milde und zart.
– Die Absicht der Sitten ist, Zu- und Abneigungen zu mäßigen.
– Der Mensch ist von Natur still, das ist seine himmlische Seele. Wenn er durch die
Außendinge beeinflußt, sich bewegt, das sind die Triebe der Seele.
Durch das Herannahen der Außendinge entsteht das Bewußtsein (Herz).
Infolge des Bewußtseins gestalten sich Zuneigung und Abneigung.
Wenn Zuneigung und Abneigung keinen Rhythmus im Innern haben, so verführt
das Bewußtsein ins Äußere, und der Mensch findet nicht mehr zu seiner eigenen
Persönlichkeit zurück, so daß die himmlische Ordnung erlischt.
– Sitten und Musik, um das Menschenleben rhythmisch zu gliedern.
– Höchste Musik ist stets leicht und höchste Sitte ist stets einfach.
– Der Frühling schafft, der Sommer läßt wachsen: das ist die Liebe.
Der Herbst sammelt, der Winter birgt in den Scheunen: das ist die Gerechtigkeit.
– Wenn es schwere Fälle gab, die Sitte war da, um die Trauer zu regeln, und wenn es
großes Glück gab, die Sitte war da, um die Freude zu regeln. So war der Grad der
Trauer und der Freude durch die Sitte beschränkt.
– Und wenn ein Mensch von weitherziger Art ist, so werden seine Wünsche zuchtlos,
und wenn er engherzig ist, so werden seine Gedanken gierig.
– Darum ist die Vollendung des Lebens das Obere und die Vollendung der Kunst das
Untere, die Vollendung des Wandels das Frühere und die Vollendung der Werke das
Spätere.
– Wer über die Menschen herrscht, muß über seine Zu- und Abneigungen wachen.
– Man soll am Schluß sich nicht der Lustigkeit überlassen und man soll am Schluß
sich nicht in Müdigkeit gehen lassen.
– Der Weg der Tatsachen führt dazu, daß man seine Stellung nicht verliert.
– Ein Fehler: rohe Ehrlichkeit ohne Form.
– Der Edle lobt den Menschen nicht nur mit dem Munde: deshalb werden die Leute
gewissenhaft.
– Milde ist die Wurzel der Güte.
– Beim Hören von Worten kommt es vor allem darauf an, daß man die
entsprechenden Taten sieht.
– Die Sitte löst von Irrwegen.
– Es gibt Sitten, bei denen die Fülle das Wertvolle ist: wenn nämlich der Sinn sich auf
das Äußere richtet, es gibt Sitten, bei denen die Sparsamkeit das Wertvolle ist:
wenn nämlich der Sinn sich auf das Innere richtet.
– Die Heiligen des Altertums betrachteten das Innere als verehrungswürdig und
das Äußere als heiter.
– Grundlegende Sitten gibt es dreihundert; Einzelsitten dreitausend; aber ihr Ziel ist
dasselbe: Es ist noch nie jemand ins Zimmer eingetreten außer durch die Tür.
– Die Trauer soll drei Jahre nicht überschreiten.
– Der Herbst ist das Gefühl der Wehmut, der Frühling ist das Gefühl der Sehnsucht,
als ob man seine Abgeschiedenen wiedersehen könnte.
– Was man aus allen Kräften liebt, das bleibt erhalten, was man aus allen Kräften
verehrt, das offenbart sich.
– Opfern bedeutet sich nahen.
– Das geruchartig Wirkende, das Scheu Erweckende ist die Samenessenz aller
Lebewesen, ist die Offenbarung des Geistigen.
– Die Sitte dient dazu, die Abstufungen von Näheren und Fernen festzusetzen.
– Die Sitte überschreitet nie die Schranken, macht keine Übergriffe, wünscht keine
plumpe Vertraulichkeit.
– Die Sitte dient dazu, die Handlungen zu bilden, die Gewohnheiten zu ordnen.
– Der Edle ist achtungsvoll und sorgfältig, eifrig und gemessen, zurückhaltend und
entgegenkommend.
– Dem anderen entgegenzukommen, ohne daß man verständnisvolle Erwiderung
findet, entspricht nicht der Sitte.
– Der Verkehr mit den Lebenden bezieht sich auf die Zukunft, der mit den Toten
gehört der Vergangenheit an.

5. – 13. März 1998. Reise nach China: Peking und Shanghai.

Erste Eindrücke: Peking, der Platz des himmlischen Friedens mit dem Mao-Bildnis erinnert in seiner Weitflächigkeit an das Ostblock-Moskau. Der Kaiserpalast ist eine geometrische Stadtfestungsanlage mit mächtigen Mauern und einem Wassergraben. Der Film Der letzte Kaiser von China belebt seine Ansicht imposant. Rund dagegen ist der Himmelspalast, Säulenstümpfe auf einer Kreisfläche, deren Mittelpunkt ein Echo ergibt, ohne Dach nach oben hin offen zum hellblauen Himmelsrund. Sehr leicht und fein der Eindruck.

Die Fahrt hinaus aus der Stadt über 6-spurige Highways vorbei an gigantischen Hochhauskulissen, hinaus über das flache Land, wo überall mit Mühen und bloßen Händen gebaut und geschleppt, geschoben und gehoben wird, ärmlich aber nicht bedrückend, weil die Menschen in ihrem Schaffensdrang nicht unzufrieden aussehen. Sie schauen unter ihren blauen und grünen Cappies ausgeglichen drein, offen ihre Umgebung aufmerksam betrachtend. Von weitem schon sieht man auf der vorausliegenden wildzerklüfteten Schlucht Reste der chinesischen Mauer.

Am Hauptabschnitt angekommen Tausende von Touristen, 80% Chinesen. Der Anstieg ist so steil, daß die Menschenmassen wie eine einzige riesige Maschine sich Schritt um Schritt am Geländer hinauf und hinunter ziehen. Die Schräglage in hoher Luft verursacht heftige Schwindelanfälle. Kein Gedanke an Gefühle für das Erhabene, nur ein erhaschter Blick auf den aufsteigenden Nebeldunst zwischen den Klüften wie sie überall auf den Rollbildern in schwarzer Tusche dargestellt sind. Eine sehr ferne Erinnerung an etwas sehr früh Geschautes.

Auf der stummen, weil sehr ermüdeten Heimfahrt dann im Autokassettenrecorder die zärtlich einschmeichelnde chinesische Weise auf einem geigenartigen Instrument namens Erhu, die versöhnlich stimmt und sie immer wieder daran erinnert, daß sie nun das ferne Ziel ihrer Träume wirklich erreicht hat. Sie kann es fast nicht glauben. Alles ist so anders. Obwohl sie sich mitten unter den vielen Chinesen bewegt, die sie alle offen anschauen, ohne durch ihre Mienen zu verraten, was sie da sehen. Selten sieht man die Menschen lächeln, aber dafür reden sie viel und lachen gern. Sie sind sehr pragmatisch, rational, mit Sinn für Zahlen und Systeme. Sie lesen der Anzahl einzelner Elemente Rangstufen und Symbole ab. Und die schützenden Mauern gegen böse Geister sind nur deshalb wirksam, weil die bösen Geister keine Umwege machen können, sondern immer nur geradeaus gehen können. Auch eine Logik! Europäisch würde man sagen: eine Rationalisierung ihres äußerst feinen Sinns für Geometrie, die in den “Mäandern” der hölzernen Fenstergitter am klarsten zum Ausdruck kommt.

Bei eigenen Spaziergängen war der Orientierungssinn für die Himmelsrichtungen stets seitenverkehrt zu der tatsächlichen Lage. Lag das an dem langen Flug oder der Tatsache, daß das Hotel jeweils mit einer rotierenden Scheibe auf dem Dach versehen war, die einen schon morgens beim Frühstück die Richtung verlieren ließ? Jedenfalls war sie am anderen Ende der Welt und blickte von hieraus zurück auf das kleine, gar nicht so alte Europa. Gerne dachte sie an den Gang auf dem Heiligen Weg, der gesäumt war mit Fabeltieren, Elefanten, Kamelen und Kriegern, je 4 Stück an der Zahl. Der Heilige Weg war flach und breit. Dagegen die Kaisergräber mit ihren Konkubinen dumpf und öd, 30 Meter unter der Erde unter einem runden Gewölbe flache in den Boden eingelassene Quadrate mit einem Opfertisch davor für Weihrauch, Obst, Wein und andere Gaben für die Toten.

Der Ahnenkult wurde nur lebendig zelebriert in dem buddhistischen Lamatempel mit seinen riesigen Buddhastatuen, dick und fett lachend die einen oder indisch zart lächelnd die anderen. Die Mönche im Konfuziustempel hatten als einzige die Musikkultur und Schriftzeichenkultur lebendig erhalten. Hier sah und kaufte sie einen alten Steinabdruck mit Bambusdarstellung und einen alten chinesischen Weisheitsspruch, der Glück, Harmonie und ein langes Leben versprach. Der alte Mann, dem sie dieses Kleinod abkaufte, war die Inkarnation seiner Weisheit: gebeugt, sauber gekleidet, ein Schmunzeln um die schmalen Augenränder, und nichts buckelndes oder aufdringliches. Es schien ihr für einen Bruchteil einer Sekunde als wenn sie glücklich waren, sich begegnet zu sein, sie und der alte Chinese.

Und jetzt, da sie wieder nach Berlin zurückgekehrt war, merkte sie erst in welchem weiten fernen Land sie gewesen war, in China. In Shanghai war alles wieder ganz anders. Sie wohnte am Rande des französischen Viertels, aber doch mitten in einem pulsierenden Stadtteil. Ein kurzer Gang ums Eck und man fühlte sich wie im “Paris des Ostens”. Handel im kleinsten Laden, konsumorientierte junge Leute, Wirrwarr im Verkehr, lautes Hupen und Fahrradklingeln, Leckereien am Wegesrand, alles was das Herz begehrt. Am BUND dann, der Uferpromenade vor dem regen Schiffsverkehr, ein Gefühl für die Nähe zum chinesischen Meer mit den düsteren Geschichten von Piratendschunken, und ein Hauch von der Nähe zum großen Jang Tse Kiang-Fluß, dem berühmten. Kaffeeetrinken im Peace-Hotel, dem ehemaligen Cathy-Hotel, ein bißchen Flair der 30ger-Jahre schnuppern. Die Lady von Shanghai von Orson Welles. Heidi in Shanghai.
Sie war angekommen. Sie lächelte den vorübergehenden Menschen mitten ins Gesicht. Dann schauten die Chinesen etwas verdutzt, aber im zweiten Moment kam dann doch meist ein kleines Schmunzeln zurück.
Jeder Gang ins Restaurant ein Erlebnis, abwechslungsreich und voller Überraschungen, ob Feuertopf, Haifischflossen oder Pekingente. Die Pekingoper war übrigens nicht nach ihrem Geschmack, die Akrobatendarbietungen dagegen höchst erstaunlich mit goldigen Kindernummern. Was diese geschmeidigen kleinen Purzel alles für Kunststücke zu Wege brachten!

Sie hatte sich mit Freuden einen chinesischen Tuschkasten mit Pinseln, Tuschstein und Rötelnäpfchen gekauft, außerdem zwei Porzellanschalen, Blumenseidenmalerei und eine Kalligraphie. Aber die chinesischen Künste waren von den Japanern so verfeinert worden, daß ihr hier die Rollbilder alle grobschlächtig aussahen. Das heutige China, das China nach der Kulturrevolution und im Aufbruch ins 21. Jahrhundert, war ganz anders, als sie sich erträumt hatte, aber die chinesische Musik hatte alles bewahrt.

Wo die Zeit geblieben ist, Berlin 1998