[Nomaden]
Wahrheiten? Ort für den Unterschied?

Schreiben, was in mir spricht, zu mir spricht, Befehle erteilt: schreib! Hilflos wendet sie sich um, traut kaum zu fragen, was sie denn eigentlich schreiben soll, erstickt sich fragend selbst, antwortet ohne die Frage: schreibend! Wissentlich den Gegenstand vermeidend, den sie ohnehin nicht wußte, bemüht sie sich, den Strom ohne Stockungen fließen zu lassen. Ziellos jeder Wendung folgend, sich selbst verführend, ohne zu wissen wohin. Niemand hat sich wohl je gefragt, wohin er schreiben soll, in welche Richtung. Sicher, der Sinn gäbe die Richtung an, aber welcher Sinn? Der Schreibsinn liebt die Leere, wird angezogen von einer Ahnung, die zum Befehl wird: schreib!

Sie hatte sich manchmal klein gefühlt, jetzt dagegen lag ein ein wendendes “doch …” auf ihrer Stimme, die hoch flüsternd die Luft einsog. Die Klischees aller Redewendungen zogen an ihr vorbei, kein unberührtes Fleckchen, “doch” tönte es wieder, das unberührte Fleckchen liegt in der Kombination! Tausend Ebenen, Ablagerungen, tibetanische Ebenen, ebene Erden und eben jetzt gerade, mathematische Ebenen, Bildebenen und Denkebenen bieten sich zum Wechselspiel.

Sie war wieder ödipal zurückgekehrt, suchte vergebens Anschluß an den Fortgang der Gedanken, rannte ihnen nach und merkte nicht, wie sie dabei immer rückwärts zum Ausgangspunkt zurückflog. Vorwärts, dem Sehen zugewandt, nicht rückwärts, den Knoten. Sie hatte die Richtung verloren, ohne ihre Richtung zu kennen. Sie hatte die Richtung verloren, ohne ihre Richtung zu kennen, sprach das Echo mit dem Gestus der Besserwisserei. Sie tastete also mühsam angestrengt im Dunkel, viel zu konzentriert, um irgendetwas wahrzunehmen. Nur die Stimmen, Befehle der Besserwisser, hallten in ihrem Ohr. Sie hatte keine Gedanken, weil die Ohren schon voll waren. Voll von den Echos, die sie nun gleichfalls leise flüsternd auch denken konnte. Sie drehte sich im Kreis, konnte es denken und nicht aussteigen, zog eine neue Schlaufe und erreich dieselbe Ebene, die inzwischen höher und höher in Kreisen aufstieg. Leere überfiel sie, dünne Luft, langsam des Suchens müde, wo doch kein Weg war. Eine unendliche Linie zeichnete sich ab, sie galt der Zeit und nicht der Richtung.

Nun begriff sie, daß das Ziellose nicht zeitlos war, sondernd gerade ihr gewidmet. Das Ziel hingegen setzte die Zeit außer Kraft, vergißt die Zeit. Mit diesem Gedanken wettete sich jede Sekunde zu Jahren, viele ungewöhnliche Schritte taten sich auf, ungeahnte Räume könnten erfunden werden, wie der einer richtungslosen Zeit.

Nicht mehr nur vorwärts, eher seitwärts, schräg, in die 4. Dimension vorstoßen, von der so viele träumen. Warum diese Räume zählen, warum sie nicht einfach eröffnen? Ihr Kopf, die Kiste, erschrak bei dem Wort “eröffnen”, wollte sie doch mit aller Kraft geschlossen bleiben, nicht weil sie eine Leere barg, wohl eher weil sie den Zerfall ihrer Schutzwände fürchtete. Die Poren krampften sich zusammen, der Angriff kam von außen, und die Kiste hatte nichts als ihr Außen zu verteidigen. Denkräume eröffnen muß etwas anderes sein, als Kisten öffnen, denn das sind ja die alten Orte des Denkens. Sie merkte, wie sie schon von jenseits der Grenzen des Denkens aus dachte. Sie war Beobachter ihres Denkens geworden und beschrieb schon lange ihr altes Denken. Wo war sie also, wenn nicht in ihren Gedanken? Und wer dachte dann dort?

Sie durchschaute die alten Gedankengänge, diese leeren Stollen und Röhren und dachte doch an nichts anderes als an ihre schützenden Wände. Sie dachte die Begrenzung ihres Denkens, tastete es ab nach Verlauf und Beschaffenheit, fand nichts besonderes, nur das ihr schon bekannte und wußte doch, daß in der bloßen Beschreibung die Entdeckung lag. bei dieser Erkenntnis schrieb sie umso munterer los, glücklich, die Frage nach dem Gegenstand ihres Schreibens, dem “WAS”, vergessen zu haben. In Wirklichkeit bannte sie eigentlich nur diese Frage, indem sie behauptete, sie vergessen zu haben. In Wirklichkeit deckte sie schreibend diese Frage zu, maskierte sie unter allen möglichen Vorwänden, suchte nach allen möglichen Umwegen und fand auch tatsächlich nichts anderes als diesen Weg.

Deleuze und Guattari begegneten ihr, Foucault als das Labyrinth von Borges, Postkarten aus der tibetanischen Hochebene grüßten sie, sie lachte und war glücklich aus dem Kreislauf ausgebrochen, in die Bilder eingetaucht, nur durfte sie nicht rasten, sich nicht ausruhen, sie mußte mit der Geschwindigkeit ihrer Gedanken mithalten. Wenn sie zurückblieb, kehrte sie zum Ausgangspunkt zurück, stellte sich etwas abseits auf und wartete auf den nächsten Zug, auf den sie aufspringen konnte. Nur ihre Besserwisserei hielt sie dann und wann noch zurück, angeblich käme noch ein besserer Zug, ein ihr adäquaterer Zug, der ihr ähnlicher sei. Aber gerade das Gegenteil, schon das Geringste oder gerade das Geringste erwies sich meistens als besserer Anknüpfungspunkt, Trittbrett, Einstieg. Sie hatte Lust, in ihr eigenes Lenken einzusteigen, nicht in die alten ausgelatschten Bahnen, eher wohl in die uferlosen Ströme, deren Subjekt sie nicht war, das unbeherrscht sich jedem Zugriff erfolgreich entzog und jeden mit Leere schlug, der sie besitzen wollte. Auch Beobachter blieben bilderlos zurück.

Jetzt hatte sie tatsächlich zu lange bei dem Beobachter verweilt, ihn zu genau beobachtet und dabei wieder den Zug verpaßt. Sie starrte ins Leere und hoffte nur, daß sie niemand ansprechen und danach fragen würde, auf “WAS” sie denn wartete. Sie konnte schlecht antworten, daß sie auf den nächsten Gedankenzug wartete, und außerdem wußte sie, daß sie möglichst so tun mußte, als wartete sie nicht darauf, jedenfalls nicht auf einen bestimmten. Sie war sicher, daß sich, je mehr es ihr gelang, auf nichts bestimmtes zu warten, umso eher die Gelegenheit böte, sich wieder hinterrücks mit den Bilderströmen vereinigen zu können.
Wichtig war dabei, nicht klar und scharf geradeaus sehen zu wollen, sie mußte eher aus den äußeren Augenwinkeln in entgegengesetzte Richtungen schauen, unbestimmt auf zwei Punkte, die schräg, fast hinter ihr lagen. Meist kamen die Bildreihen von links, und erst wenn sie rechts fast vorbei waren, wurde sie gewahr, was sie gesehen hatte.
Nun half es ihr aber gar nicht, wieder nach links zu schauen und auf den nächsten Schub zu warten, dennoch war sie des öfteren dazu gezwungen wegen der unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Bildern und Schreiblinien. Manchmal ärgerte sie sich über den Erfindungsmangel, den Mangel an adäquaten Aufzeichnungsmitteln, dann aber, bei dem Gedanken an Tonbänder, erschrak sie über das laute Echo ihrer im Kopf vorgestellten Stimme und zog das hohe Flüstern ihrer Besserwisserei vor. Wenn sie ihre Besserwisserei genauer betrachtete, so war es eher eine befremdliche Art von Ratschlägen, die sie keinesfalls befolgen mußte, es war freigestellt. Meistens hatte sie sich gegen diese Besserwisserei zu stark aufgelehnt und so verkannt, daß sie ja auch als jemand betrachtet werden konnte, der auch nur so dahin redet. Also konnte sie der Besserwisserei ruhig folgen, hatte sie doch ihren Charakter verloren und erwies sich überdies als viel produktiver als die viel zu selten vorbeikommenden Züge, Bildreihen, Schübe.

Inzwischen zogen diese Gedankengänge viele Beiwagen mit sich und gern hätte sei einige von ihnen abgekoppelt, um wieder an Fahrt zu gewinnen, loszureißen, abzureisen, andere Gedankenverbindungen eingehen zu können. Allerlei Grabsteine mit Kurzworten der letzten Jahrhunderte tauchten auf: dazumal, mancherlei und überdies. Stumm boten sie ihre Oberfläche an, allein der Klang blieb erhalten: voll und tief, mit kurzen leichten Glucksern. Sie mochte den Klang dieser alten Wörter, hätte gerne noch viele genannt, allein der Klangteppich war ihr präsent.
Auch hier wieder erwies sich die Methode des unscharfen Hinsehens oder besser wohl des daneben Hörens als richtig.
Alle Sinne schienen wohl die merkwürdige Eigenschaft zu besitzen, sozusagen nicht bei Volleinsatz ihrer Kräfte, also eher unkonzentriert, am meisten zu leisten: sei es nun sehen, hören oder andere Sinnestätigkeiten. Der Sinn für unentdeckte Sinne schien dabei am schlechtesten ausgebildet zu sein, jedenfalls jagte er immer der alten Vorstellung von dem Sinn nach und vergaß dabei seine Funktionen, fast hätte sie gesagt: “seinen eigentlichen Sinn”.

Bildreihen und Stimmen schienen sich in ihrem Denken zu trennen. Sobald sie sah, verstummte ihre Stimme, sobald sie sprach, verschwanden die Bilder oder nur Reste blieben stehen. Doch diese Erkenntnis änderte nichts, uns je öfter sie sie auf die Probe stellte, umso platter, intensitätsloser wurde die Erkenntnis. Platonische Erkenntnisse ödeten sie an, jedenfalls lohnte es nicht, bei ihnen zu verweilen. Es waren unfruchtbare Erkenntnisse, nichts knüpfte daran an, nichts wucherte von dort aus fort. Sterile Erkenntnisse, leblos. Mögen sie verstauben in einer unbedachten Ecke, im leeren Winkel ihres Denkens. Dort in den verstiegenen Ecken fand sich noch nie ein guter Gedanke. Höchstens nostalgische Dinge, Firlefanz, reine Zierde, verdoppelnde Rahmen,die nicht mehr nötig waren, um aus den eingefahrenen Bahnen auszubrechen. Immer schon anderswo, sah sie die Grenzen nur noch vom Jenseits ihrer selbst aus. Endlich entfiel damit auch das harmonische Denken, das von zwei sich ergänzenden Hälften ausging, die selbst abgeschlossene Teile bildeten. Kein offener Horizont für sie, wie ihn das anderswo eröffnet. Müde sinkt sie zurück, die Weite genießend.

Das Nichts, das die Leere ist, beunruhigt und schickt auf die Suche, findet, reduziert auf nichts, jeden beliebigen Anknüpfungspunkt. Diese Oberfläche, die klar ist und ohne Mangel, nichts dahinter, abperlend glänzend und kein Schauspiel!
Nichts suchend, findet sich alles. Suchend bleibt nur die leere Abwesenheit. Anwesend und doch immer anderswo arbeitet das Unbewußte an der Oberfläche und nicht in der Tiefe, wo wir vergebens forschen. Bilder anschauen, kombinieren, Geschichten erzählen, Bilder entwerfen, die alles in sich aufnehmen und es doch entstellen. Bilder finden, die aus Gewohnten Bahnen werfen, anders funktionieren. Z. B. die Zeitvorstellung die auf mir lastet, als müßte ich sie unermüdlich füllen, wegarbeiten, vergessen. Die Vorstellung von der reinen Zeit, wie kam sie bloß in meinen Kopf? Wodurch bemerke ich sie und wodurch bemerke ich sie nicht? Es ist unbequem, sie zu merken, sie fordert ihre Anschaffung, ihre Veränderung. Sie ist an Warten Gebunden oder an Nichts-Tun, was auch Warten ist, nur unbestimmter, quälender. Zielgerade schießt sie auf das “Was” zu, “Was tun?” Unruhe steigt auf, und warum sollte nicht alle Unruhe aus dem Nichts-Tun entstehen, aus der leeren Zeit? Die Arbeitslosen, die Streiks, die grundlose Unruhe, die zu so vielem fähig ist!? Wozu eigentlich, wenn nicht zur Unruhe selbst: Panik im Leerlauf ohne äußeren Anlaß.

Sie bewegen sich, setzten sich in Bewegung, die alten eingefahrenen Gewohnheiten, verlassen Häuser des Denkens und bevölkern die Sinne, verlassen Häuser des Bleibens und füllen die bewegten Straßen der Unrast. Nomaden ohne Rast, Arbeit ohne Reproduktion, alles verknüpfend, fortspinnend, die unendliche Linie. Ich liebe die Endlichkeit, den Bruch, das Ja zum Tod, worin ich die Vergänglichkeit der Dinge akzeptiere und nicht die Abstraktheit einer Idee. Fixe Ideen führen zu nichts, und doch liebe ich dieses Unruhe stiftende Nichts, diese Leere, die Implosion.
Dazu ist es nötig, viele Bilder zu haben, die dieser Unruhe eine Wende geben, damit sie nicht so schnell in den gewohnten Bahnen Schutz suchen, den allzu bekannten Meetings, Demos, Kongressen, Reden usw. Ein Tun, das Wirklichkeit schafft und nicht ein Schauspiel, das das Tun verdoppelt. Auch Verweigerung hilft da nicht aus der Klemme.

[Nomaden]

“… außerhalb des Nichts in seinem Innern nirgends Zuflucht suchen… “(Cioran),
das ist das Geheimnis ortloser Menschen, die nicht das Nichts verbergen, sondern reine klare Oberfläche sind. Eben dort sind, wo kein festes Denken sie sucht, im reinen Tun, Wirken, Werden, “ohne Substrat, denn der ‘Täter’ ist zum Tun bloß hinzugedichtet.” (Nietzsche).
Ort der Handlung ist also die Handlung selbst, verwoben in seinen hundert Ebenen, immer Oberfläche bleibend, ohne Grund und ohne Boden. Grund- und bodenlos existieren diese unbegreifbaren, unfaßbaren Nomaden, fröhlich dreist als reiner Überfluß, ein Dorn im Auge derer, die sie nicht begreifen, nicht fassen und festsetzen können.

Die Frechheit, mit der sie todesmutig ihr Überflüssig-Sein konstatieren, mit der sie sich losgerissen, nun tollwütig ins Treiben stürzen, berührt die anderen unangenehm an ihren Gittern, Kisten und Wurzeln, an ihren eigenen Wänden, von denen sie fürchten, daß sie eingerissen werden, von denen sie hoffen, daß sie zerfallen. So siechen sie bange dahin, mit dem Zerfall der Mauern selbst verfallend, bis das Rieseln vom Winde verweht zur Wüste wird. Das sehnsüchtige Hoffen hat sie sanft ins Jenseits befördert, und nun verlangen sie Liebe selbst vom Nichts. Erbärmliche Öde, wo doch “Funken wie Weizenkörner” (Vallejo) sprühen könnten.

Die ortlosen Menschen stehen allein in dieser Wüste, gegen die unsichtbare Gefahr ankämpfend, bissig zu werden. Sich selbst immer zuviel, bereichern sie die seltenen Ströme, setzen den Zeichen der Zeit Lichter auf und sind dabei doch so bescheiden. Sie treibt allein der Überfluß, nicht aber die magere Sucht, sie sind die Blumen aus dem Abfalleimer, herb und schön. Könnte je eine Hand sie streicheln? Sie würden vergehen. Und abermals würden sie sich stürzen ins Nichts, die leere Abwesenheit, die Unruhe ist. Bodenlos ist ihr Verlangen nach Nichts, richtungslos aber nicht spurlos verschwindend für den allzu scharfen Beobachter.

Weiter reichen die Enden der Fäden und Spuren, als der Gang je folgen könnte. Immer aufbrechend, losreißend, wissend, daß nur Fetzen folgen. Müde manchmal vor dem neuen Anfang, festsitzend und klebend, die Langeweile nur schwer ertragend, bis sie wächst, erdrückend ausweicht, nicht in Freiheiten, Freiräume, wohl eher flüchtet in permanente Unruhe, das verkehrend, was so fest gedacht. Und dann hin und wieder doch eben müde, weil das Wirken noch zu aktiv gedacht sich zu Anstrengung verkrampft.
Und Nietzsche ist da und kennt seine Leser, ehe sie ihn bedacht. Ihn fälschend, mutwillig, grob, in Stücke zerfetzend, doch nie auflösend, was ihn zerreißt. Leise nur folgend, dessen Faden verloren, wartend vergessen, was neu beginnt, häuft sich das Elend des Sagenwollens, nie wissend, was es sagen will.

Und so spinnt sich der Faden zu unendlicher Dichte, alles vergessend, was lauter tönt, der Stimme lauschend, die nebendran sich erwähnt. Die Plattheit liebend, sucht ihre Nähe die Leere, die sonst nur gähnend, fast schläfrig schon. Sie ist die andere, so platt wie’s dasteht, nicht flüchtend, nur nie präsent. Immer anderswo, auf dem Sprung zum Verrat, liebt sie das andere, das nicht parat. Menschen, die lieben, sind niemals da, denn sie lieben die Unruhe, ohne Rast ohne Tat. Leerlauf in Panik ohne äußeren Anlaß, unerreichbar für andere, und sei’s auch der Haß.
Plätschert verlangsamt der Reiz seinen Wert, plappernd verkehrt sich, was einstmals zehrt. Und so klingt nur der Klang, nachdem der Rhythmus verebbt, die Worte verlassen den Raum ihrer Stärke, der Wille bleibt übrig, lächerlich übrig, scheppernd hallt sein Echo nach.

Die Wissenschaft saugt zwar vampirhaft am Toten, sanftmütig geziert mit Verletzlichkeit umgarnt. Saftlos kann sie die Zartheit nie spüren, gestelzt nur kann sie bewußt konstruieren. Der Wille ist willig, sich Leben Zu leihen, in der Hoffnung auf Leben im Nachhinein. Genug der Dichtung, genug des Reims, die Wörter werden mir nie verzeihn. Müde reibt sie die brennenden Augen, stumm lauschend, was folgt. Die Schminke verreibt sie, die Spiegel verächtend, lächelnd stirbt, was nie gelebt.
Und so klingt nur der Klang nach, der Nachtigall gleich, die im Porzellan ihr Bild erheischt. Alte Worte, tiefer Klang, junge Frau mit Vogelsang. Bitterer Satz, noch unbesetzt, schwebend, leicht verletzt.

Gibt es Wahrheiten, die gleichgültig gegenüber Zustimmung oder Ablehnung sind?

Die Langsamkeit des Denkens gegenüber der Schnelligkeit des Tuns hat uns dazu gebracht, die Menge des Denkens zu erhöhen durch Übung und Fleiß, um so der Schubkraft beweglichen Tuns etwas entgegen setzten zu können. So sitzen wir denn nachdenklich grübelnd, was uns abhält vom Tun. Oft ist es die unklare Unentscheidbarkeit, ob das, was ich tun will, auch das ist, was ich tun will. Unentscheidbar zwischen dem Ob und dem Was, unentscheidbar zwischen der Möglichkeit und dem Gegenstand der Möglichkeit, hänge ich denkend dem Gewirr von möglichen und unmöglichen Gegenständen meines Tuns nach, damit ich nichts tun muß, in der Hoffnung die Zeit soweit zu dehnen, bis es zu spät ist. Bis die Möglichkeit gerade dieses Handelns denkend vertan ist und ich mich so ohne mein Zutun in einer neuen Situation befinde, die mich von neuem vor diese Frage stellt. Oder bis die Gewalt des Tuns ins Denken einbricht, die wartende Geduld zerreißt, die Entscheidung fällt. Eine autoritäre Entscheidung, die das Denken unmündig zurückläßt oder beiseite schiebt, verdrängt.

Die Tat verdrängt das Denken, auch wenn sie von Gedanken begleitet wird. Schön wär’s, wenn das Denken die Tat durchdränge, statt beziehungslos nebenher zu laufen. Wenn man dem Denken den Vorzug gibt, so könnte man sagen, schön wär’s, wenn das Denken zur Tat sich dränge, in Taten sich verwandele, damit die verkörperten Ideen zum Ruhm der hinter der Bühne triumphierenden Gedankengänge auftreten. Wie die Frau als verkörperte Idee des Mannes nur das mimt, was der männliche Schöpfer als leblosen Stoff zur Gestaltung ihr anbietet. Er, der metaphysisch sterile Hervorbringer platonischer Ideen, den die Frau belebend nährt mit ihrem untilgbaren Rest, der in ihrer Bewegung des Mimens unangetastet bleibt. So nähern sich wechselseitig verkörpernde Ideen den vervollkommneten Gestalten an. Wechselseitig ist wohl zu viel gesagt, eher sind es ihre sinnlichen Zeichen, die auf die Imagination zurückverweisen und auf den Anfang der Kunst hinführen und so sich der Vervollkommnung seiner Gedanken annähern.

Kratz die Reste zusammen
frisch Gefühle auf
damit nicht vergeht
was schon lange gegangen

Verbote umgehen, die das Sprechen und Schreiben einengen, kann doch nur heißen, jenseits ihrer Grenzen das unendliche Sprechen wuchern zu lassen und den Finger dorthin zu legen, wo die Stimme stockt, sich wiederholt, bis sie diesseits der Verbotsmauer das ausspricht, was dann der Anschauung als Gedankenaufgabe vorliegt. Nun soll begriffen werden, was schon lange sprach, verborgener Sinn gelesen werden, wo nichts als Oberfläche ist, denn wie sollte der Gedanke in die Worte gekommen sein, wenn sie gedankenlos dahingesprochen waren!

So lenkt das Diesseits der Gedankenwelt vom Jenseits unablässigen Sprechens ab, um das zum Objekt seines Denkens zu machen, was ohne Anschauung im Kopf immer schon tätig war. Diese Wende, worin sich der Mensch selbst anschaut, ist sein Tod. Denn schon im Leben sein eigener Geschichtsschreiber sein zu wollen, setzt die Dichtung des Lebens herab. Ausgehend davon, kann der Versuch, heute die alte Geschichte zu lesen, also nichts anderes sein, als der Lebendigkeit des Jetzt ungestörten Raum zu lassen. Und dieses kann wiederum sein, die Geschichtsschreibung im Prozeß der Veränderung beiseite zu lassen.

Dort, wo Bewegungen verebben, taucht dann immer der Sammler, Archivar und Geschichtsschreiber auf, um zu vollenden, was schon lange verebbt ist, um zu verdoppeln, was als Ereignis ihm noch als Schock in den Gliedern steckt. Kehrt er zurück zum Ort der Handlung, kratzt die Reste zusammen, frischt Gefühle auf …
Sofern der Mensch sich als überflüssig erfährt, kann er seine sonst mühselig erworbene Existenzberechtigung sich unbegründet zufallen lassen. Gelegentlich wird er sich sogar spielerisch mit ihr beschäftigen, selten kann er sich an ihrem eigenen Überflüssigsein berauschen.
In diesen seltenen Momenten dann, meist ohne Anlaß bauschen, türmen, wuchern überflüssige Immensitäten, die alles Maß willentlich erstrebter Erwartungen übertreffen. Ein Schauer trifft ihn beim Blick in die bodenlosen Tiefen seiner Ungeheuerlichkeiten, hat er doch nur die unendliche Sysiphus-Arbeit des Lebens erwartet. Und in diesem Rausch verlängert sich dann die kürzeste Lebenszeile, das kleinste Zeichen in labyrinthische Unendlichkeit.

Erschrocken wird der Knopf zum Abstellen gesucht, “ach, hätte ich mich doch nie aufdieses unbekannte Terrain begeben, diese schnurrende Gedanken-Maschine, die nur nutzlos Strom verschwendet, dieses verdammte Überfluß-Produkt!”
Einmal in Gang, stößt dieses gigantisch monströse Gerät an, schreckt ab, aus Angst vor mangelnder Widerstandskraft, aus Wissen um die eigene Schwäche. Alle fliehen diese einsamen Monster, weil sie nun allein sind und dem schwachen Herdenmenschen Alleinsein Angst macht. Angst vorm Alleinsein, das mit Stärke verwechselt wird. Angst vor dem Nichts und der Stärke im Nichts.
Sobald man aber allein sein kann, wird alles erfüllt mit dem eigenen Überfluß, manchmal allerdings auch dem eigenen Überdruß. Die Subjekte sind zuviel, die erträgt niemand, auch nicht das eigene Ich. Wohin mit dem Zuviel fragst du? Auf den Müll der Geschichte? Nein, vergessen wir’s, lassen wir die Subjekte belanglos neben uns schleifen wie Puppen, nur ab und zu sich ihnen zuwendend, dann wenn der Rausch verebbt. Wenn kurzatmig lustlos der Gedanke springt, sprüht und vergeht und im dösend stochernden Suchen beiläufig sich ein neuer Gedanke spinnt. Und während die Augen noch das Suchen verfolgen, ist das Bild dieses Tuns schon längst bedacht.

Gibt es überhaupt einen Ort für den Unterschied?

Wo Unterscheidung nur als schmerzlich voneinander getrennte Orte lebt, wird die Frage als Hoffnung formuliert, daß es für sie einen fröhlicheren Ort gäbe. Damit dies nun nicht mißverstanden werde, es geht hier nicht um die Tilgung von Schmerz zwecks Entfaltung von Heiterkeit, wohl eher um die erweiterte Wirkungskraft des Unterschieds, gleichgültig ob die Heiterkeit sich als Trübsinn erweist oder der Unterschied als belanglos. Nur die Metapher von den zu überbrückenden Unterschieden, den unüberwindlichen Gräben ist untragbar, unbrauchbar geworden. Trägt sie doch nicht der Metamorphose Rechnung, die der Unterschied selbst durchgemacht hat.

Nehmen wir beispielsweise den Geschlechtsunterschied. Die Geschlechter mußten sich erst weit voneinander entfernen, um erkennen zu können, daß Brücken da auch nicht helfen, wo bei einem unentwirrbaren Geflecht von Armen und Beinen klare Zuordnungen lächerlich werden. So erwachte der Traum von der Transsexualität, der weit davon entfernt, Unterschiede zu nivellieren, deren irreduzible Vervielfältigung ersehnt. Hier werden nicht die zahllosen albernen Maskeraden eines letztendlich zweireigigen Geschlechts von Mann und Frau erträumt, sondern der Versuch gestartet, den Unterschied anders zu sehen, als nur den zwischen zweien. Und damit trifft es das paarweise Denken, das so gerne das Andere als sein Gegenüber sähe und das die Gleichzeitigkeit vieler anwesender Anderer nicht erträgt. Das paarweise Denken spaltet die gleichzeitige Vielheit auf in eine nachzeitige Reihe voll jeweils zweien. Und hier wäre zu untersuchen, wie Gleichzeitigkeit wirkt und welchen Gebrauch wir von ihr machen können.

Die Fülle der Leere ist undenkbar, wenn die Leere immernoch umkreist wird auf der Suche nach etwas. Und dieses Etwas sich bedauerlicherweise immer wieder als Nichts, als Abwesenheit von etwas Unfaßbarem herausstellt. Als Wort ist dieses Nichts ein stummes Zeichen, das auf nichts verweist und gerade deshalb immer wieder anreizt, seine ihm zugehörige Abwesenheit aufzusuchen. Jede Annäherung an diese Abwesenheit, von der vermutet wird, sie berge etwas Unbestimmtes, ist die Bewegung des permanenten Ankommens an leeren Orten, aus denen scheinbar die Abwesenheit gerade eben entflüchtet ist. So füllt die uns ausweichende Abwesenheit alle Orte unseres Suchens mit Leere. Mit dieser Leere, die den Eindruck macht, jetzt gerade eben durch das Entschwinden von etwas entstanden zu sein. Jungfräuliche Leere also, die uns auserwählt, die uns zur Schändung verführen will.
Nun gilt aber das Begehren der entflüchtenden Abwesenheit, und die zurückgebliebene Leere enttäuscht jeden Liebhaber, hält er doch nur das unbewohnte Kleid, die Hülle in Händen, verärgert langsam über die lästige Maskerade. Wie nun aber, wenn gerade dies das Wesen der Abwesenheit wäre, nämlich nichts zu verbergen, nichts zu enthüllen, sondern unablässige Häutungen, unverzehrbar?
Auch dann aber beharrt das Verlangen und strebt jenem untilgbaren Rest zu, dessen unerwartete Fülle nun kalte Wut entfacht. Vernichtungswütig schlägt zerrt, schneidet das Verlangen am unzerstörbaren Kern tiefer Innerlichkeit. Letztlich selbst geschlagen mit der Fülle leerer Abwesenheit verbirgt sich das verlangende Ich. Im Halbdunkel bedeckt es sanft seine Wunden, still weinend verläßt es sich selbst und vergeht. Zurück bleibt dem Betrachter die schützende Hülle, aus dem das Ich soeben entschwunden. Nachsichtig lächelnd schenkt er den abwesend Liebenden einen Moment, kehrt dann einsam zurück an den Ort seiner Betrachtung, aus dem er selbstvergessen herausgetreten war.

Das Denken denkt das Denken. Es denkt also, daß es denkt, aber es denkt nur das Denken, um es wegzudenken. Schweinekram mit Hexenhacksen. Sie ärgert sich über leere Gedanken, Geschmiere, das Belanglose. Die Wörter fliegen ohne Gedanke dahin, verausgaben sich um zu verletzen, aus Überdruß. Selbst die Hand bricht aus der Schreiblinie aus … und kann doch nicht ihr eigenes Gefängnis lassen, abzubrechen, auszukotzen, was schon lange nicht mehr spricht und denkt.
Ruhe ist aber nicht da, es implodiert die Leere gewaltsam in Sinnlosigkeit, und ohne Zwang entsteht nicht einmal Leben daraus. Matte. Leere, die so schwer sich von der Stelle bewegt, leidet unendlich am zeitlosen Ballst. Raus, weg, aber alles bleibt hocken, lastet drückend, und sie sehnt sich nach dem Zwang, der noch ein Motor war. Gegen den sie kämpfen konnte und der die Illusion aufrechterhielt, Lebendigkeit freizuboxen, wo doch nur Zombies vegetierten.

Wer zwingt denn zu schreiben, wenn nur zeitlose Masse davon gequält wird? Wer kann denn nicht lassen, was seine Sache nicht ist? Wörter sind kein Schreiben, Wortsammler sind Lexikologen, Wortdenker sind zunächst mal Wortleser. Und was sollte am Denken so kompliziert sein, wenn nichts zu denken gibt? Wirr wühlt sie im Nichts, unmütig verdrossen, daß sie in gläsernen Irrgarten keinen Ausweg findet. Was soll dieser Jahrmarkt, dieser Ausverkauf, lächerlich billig mit Überdruß? Nicht mal ein Fetzen kitschiger Sehnsucht läßt sich blicken. zur das grausame Heer interessanter Apathie wälzt sich durch die Straßen. Wo kein Rest bleibt, könnte alles sein. Vielleicht auch ist ein ungedachtes Denken da, was nicht sprechen kann und erst gedacht werden muß, um Sprache zu finden.

Gibt es aber ein Denken außerhalb von Sprache? Traum, Tat, Symbol – sicher. Und wenn dieses ungedachte Denken auch nicht in dieser Sprache spricht. Was ist es dann, das nach Ausdruck sucht? Immer noch Denken? Verschwommen durch die Mitte finden Annäherungen statt, die aufrühren. mutig sticht schneidend scharf die genaue Betrachtung, die sich von nichts blenden läßt, und die von den eigenen Untiefen beseelt ist. Abgrundtiefes Gähnen verschlingt alles Umfeld, stülpt sich zum ragenden Krater, der Entsetzen speit. Lächerlich auch, dieses Krokodil aus dem Trickfilm, diese animalische Gruselgestalt , über die die Kinder lachen, damit der Bauch hält, was so tief fällt.

Typoskript, 23 Seiten, durchgängig paginiert

Privatbindung 1992: Ellen Mund, Verschwommen durch die Mitte