Von Raum zu Raum. Versuch über das Reisen

Kapitelüberschriften:
Einleitung
1. Anfang und Aufbruch
2. Die Veränderungen des Raums
3. Realisierte Utopie
4. Niemandsland
5. Beschleunigung und Stillstand
6. Digitale Urbanität
7. Raum als Information und Prozeß
8. Das Dasein als Informationsmasse

Namen und Bücher:
– Immanuel Kant, der als Pantoffelreisender zu Hause blieb
– Goethe’s Italienreise, Römische Elegien
– Homer Odyssee
– Marco Polo’s Reisen 1271 und 1295
– Das Reisebuch des Ritters John Mandeville
– Das Bordbuch des Christoph Columbus
– Das klassische Zeitalter der Entdeckungs- und Eroberungsreisen 1750-1800
– Gestalten des französischen Seefahrers Louis Antoine de Bougainville 1729-1811
– Reisen des Engländers James Cook 1728-1779
– Georg Forster
– Alexander von Humboldt 1799-1804 Süd-, Zentral- und Nordamerika
– Charles Darwin’s Reise um die Welt 1821-1836
– Lawrence Sterne Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien
– Hermann Graf Keyserling Reisetagebuch eines Philosophen (Indien+China)
– Karl Philipp Moritz Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782
– Gustav Flaubert’s Reisen nach Ägypten 1849-51
– Malinowski’s legendäre Afrika-Forschungsreise 1931-33
– Amundsen, Scott, Nansen- Melville, Stevenson, Conrad, Segalen
– Lévi-Strauss, Michel Leiris
– Bowles, Theroux, Chatwin
– Marc Augé Pariser Metro
– Mark Davis City of Quartz. Über Los Angeles

Zitate:
– Der Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen System

– Es geht also darum, zu versuchen zu verstehen, was sich heute ereignet.
Ausgehend von einigen Grundannahmen, die feststehen, stellt sich die Frage,
wohin ich gelange, wenn ich den ersten und danach den zweiten und dann den
nächsten Schritt unternehme. Das ist die pragmatische Seite, bei der der Ausgang
völlig ungewiß ist. Die andere, theoretische Seite besteht darin, den Überblick zu
behalten, den in den Zeiten der neuen Unübersichtlichkeit niemand hat und
niemand haben kann, es wäre denn nichts anderes als Vermessenheit.
So sieht das Dilemma aus, mit dem wir es heute zu tun haben.
Vieles mag Fiktion sein, aus der Luft gegriffen ist nichts.

– Der nächste Satz, der nächste Schritt, das genügt.
Das ist der Text, das ist die Reise.
– Das geht unter Umständen bis zu den neuen Nomaden, die mit ihrem Laptop
überall dort zu Hause sind, wo sie einen Anschluss haben.
– …daß jede Reise mit einer Krise verbunden ist
– …daß in jeder großen Trennung “ein Keim von Wahnsinn” liege. Reisen um die
Melancholie zu kurieren.
– Ich bin aus dem Etui meiner Gewohnheiten gefallen …
– ein weiter Blick für alles, worauf es ankommt …
Vielleicht ist es die Aussicht auf einen Garten, der kultiviert werden muss.

– Keine Veränderung, vergebliche Reise. Warum also fortreisen? Wenn es zu Hause
viel schöner, weniger gefährlich und erst noch billiger ist? Keine Bettler, keine
Taschendiebe, keine korrupten Ordnungshüter. Kein Risiko, durch fremdes,
ungewohntes Essen den Magen zu verderben. Außerdem kann ich am Fernsehen
das Wildleben der Tiere in der Serengeti aus viel größerer Nähe und viel genauer
beobachten als in Wirklichkeit, wo mir nie die Fotos gelingen, die ich im Fernsehen
und in Büchern sehe. Mit der CD-Rom und im Cyberspace kann ich fremde Räume
betreten, zum Beispiel den Louvre, oder mit dem Motorrad über die Straßen fegen,
ohne daß im Fall eines Unfalls Tote auf der Straße liegen bleiben. Das alles ist
möglich, ohne aufstehen und einen einzigen Schritt tun zu müssen, zu Hause,
auf dem Sofa, in bequemer, halbliegender Haltung.
Der “joy stick” hat den Wanderstab ersetzt.

– Bis zum Ende des Jahrhunderts wird, nach glaubwürdigen Prognosen, der
Tourismus als Wirtschaftszweig die Bedeutung der Erdölindustrie überflügelt haben
und vielleicht nur noch mit dem Massengeschäft der Musikindustrie konkurrieren.
Rap und Rock oder Reise, das ist die Frage.

– Von den Ressorts und Ferienkomplexen zu den unvermeidlichen sogenannten
Sehenswürdigkeiten, die im Programm vorgesehen sind, fährt der klimatisierte
Reisebus durch das Niemandsland der Eingeborenen.
– Das Paradies entlarvt sich als Prostitution.
– Die Migrationsströme zeigen die moderne Völkerwanderung,
die die Erde von heute erlebt.
– Innerhalb seiner geografischen Gegebenheiten und räumlichen Grenzen allerdings
werden verschiedene neue Subräume für neue Zwecke und Bedürfnisse
eingerichtet: Handelsräume, Phantasieräume, Sehnsuchts- und Projektionsräume,
Erfahrungsräume, Empfindungsräume, Bühnenräume usw.
– Die Menschen haben sich einst von der beweglichen, nomadischen zur seßhaften,
ackerbäuerlichen Lebensweise entwickelt. Heute kann die Beobachtung gemacht
werden, dass die in Zukunft zu erwartende Entwicklung zu einer weltweiten
Mobilität zurückführt. Die Menschen sind pausenlos unterwegs.

– keine Arbeit, keine Reise, keine Perspektive

– Mit dem Handy läßt sich das mittlerweile sogar in der afrikanischen Savanne
bewerkstelligen. Ich kann also, wenn ich es richtig anstelle, die Börsenkurse
studieren und dabei von der Lodge aus zuschauen, wie die Löweneltern mit ihrem
drolligen Jungen spielen und sich zum Warten auf Beute an einen idyllischen
Seeufer niederlassen und ausstrecken, während ich mir einen Whisky nachschenke
und nach reiflicher Überlegung die Order “buy” oder “sell” nach London oder
Chicago maile. Wenn das nicht weltläufig und traumhaft ist – alptraumhaft.

– Äquatorumfang von 40.007 Kilometern und 510,1 Millionen Quadratkilometer der
Erdoberfläche
– multikultureller Globalismus
– Besetzung des Raums durch Automobilisten, durch Musik, z. B. in Boutiquen und
Einkaufspassagen, optische Besetzung durch Werbung im öffentlichen Raum.
– In den Städten des sogenannten Nordens entstehen Armen- und Fremdenghettos
und werden Asylheime gebaut, und in den Ländern des Südens, aus denen die
Asylsuchenden kommen, entstehen luxuriöse Feriensiedlungen mit
Ghettocharakter für die angereisten Wohlstandsbürger.

– Berlin ist im Begriff eine türkische Stadt zu werden, Paris eine afrikanische.
– Der moderne Kapitalismus ist staatenlos oder, wie man heute sagt,
transnational und global.
– Der Souverän wird in Zukunft der Konsument sein.
– Das Produktions- bzw. Zirkulationskapital ist durch das imaginär sich vermehrende
Börsenkapital ersetzt worden … Wenn die Börse ein virtueller Raum ist, dann unter
anderem deshalb, weil sie ein Zeitraum ist.

– die Concorde pfeilt mit Überschallgeschwindigkeit, das heißt mit 3000 Kilometern in
der Stunde durch die Luft.
– Hochgeschwindigkeitskameras sind für Bewegungsanalysen erhältlich, die in der
Lage sind, bis zu 3000 Aufnahmen pro Sekunde herzustellen.

– Licht breitet sich bei 300.000 Kilometern in der Sekunde sofort überall aus. Das ist
die Geschwindigkeit der Übertragung von Daten von hier nach dort … Bei einer
höheren Geschwindigkeit als der Lichtgeschwindigkeit beginnt die Materie sich
aufzulösen, und im Teilchenbeschleuniger verfolgen die Wissenschaftler die
Bewegungen der Atome … So tritt Energie an die Stelle von Materie.
– Im Fernsehen werden je Sekunde 13 Millionen Pixel aktiviert und abserviert.
– Der Broker als Jogger während der Mittagspause
– Dafür ergibt die Aneinanderreihung von bestimmten Orten vom Labor als Arbeitsort
und Warenhaus oder Supermarkt über das Bodybuilding-Studio und die Disco einen
Baukasten oder ein Ensemble von Ereignisorten.
Die Stadt ist diese Selektion und Abfolge.
– Die Abhängigkeit von Speicherkapazitäten, Leitungen, Anschlüssen kostet Geld und
bleibt auf lange Sicht ein Privileg.

– Es sind Orte ohne definierten Status, eigentlich Schnittpunkte und Schleusen
undefinierbarer Art, geklonte Agglomerationen, die sich je nach der zugedachten
multifunktionalen Bedeutung ändern: Einkaufszentren, die das Land wie mit einem
Teppich zudecken, Billigwarenhäuser, Fabrikareale, wo nichts mehr produziert wird
und die stillgelegt werden, Lagerplätze, Freizeitparks, Disneyländer,
Autobahnanschlüsse, Verkehrsorte wie Bahnhöfe, Flughäfen und Bushaltestellen,
ausgestattet mit Geschäften, Bäckereien, Kiosk, Souvenir, Shops, Restaurants,
Dienstleistungsangeboten, und so weiter, wo im Unterschied zur City niemand
hingehen will, sondern alle sich auf und davon machen.

– Außerdem gehören dazu: Tiefgaragen und Deponien im Niemandsland, wo in den
Fernsehkrimis der show down, die Schlußschießerei und finale Abrechnung,
stattfindet und die Verbrechen an ihr Ende gelangen und aufgeklärt werden,
virtuelle Landschaften, Kinolandschaften im besten Sinn, die die Imagination
mehr  mobilisieren, als daß sie noch eine reale Funktion ausübten – oder es sind im
Gegenteil die einzigen Orte, wo Ereignisse noch stattfinden.
– “Cancel” oder “Delete”, das sind die Gedächtniskommandos.
– Jeder Handybesitzer kann jederzeit von einer zentralen Stelle aus geortet, seine
Bewegungen verfolgt und ein Profil von ihm erstellt werden.
– Die Höhle von einst ist heute manchmal ein Auto oder eine Disco, die Urwälder sind
in einen Tennis Court verwandelt worden.
– Das neue Paradigma lautet Gleichzeitigkeit, Dissemination (Verteilung,
Ausbreitung) und Ubiquität (Allgegenwart) und es findet seine Realisierung in der
Möglichkeit, jederzeit sofort überall zu sein.
– Neuerdings werden Gerichtsurteile sogar zuerst im Internet veröffentlicht.
– Bis vor kurzem galt als gesichert, daß es für die Reise eines empirischen Raums
bedarf. Diese Annahme ist seit dem digitalen multiplen Raum widerlegt. Was
danach bleibt, war die Zeit, aber die ist dabei, irreversibel auszulaufen. Schließlich
bildete der Körper die letzte Gewissheit und das letzte verbliebene  Territorium für
die Reise, weil nach dem Wegfall des Raums die Reise nur noch dort  stattfindet, wo
der Körper ist. Diese Auffassung konnte nur solange aufrechterhalten werden, wie
die Reise einen physischen Akt bildete, bei dem der analoge Körper durch den Raum
bewegt wurde. Heute müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß es auch damit vorbei
ist und die  nächste Reise nicht nur ohne Raum auskommen wird, sondern ohne
menschlichen  Körper erfolgen wird, außerhalb des Denkens und des Bewußtseins.
Was von der  Reise geblieben ist, wird eine Rechenoperation sein.

– Lange war es möglich, die Maschine als Erweiterung der Fähigkeiten des Menschen
zu betrachten. Das ist die Ansicht, die Marshall McLuhan vertreten hat. Aber diese
mehr naive als optimistische Auffassung ist längst nicht mehr haltbar. Eher ist der
Mensch eine Erweiterung der Maschine.
– Zuletzt ist es nur noch das Begehren, das den Menschen von der Maschine
unterscheidet.
– Auto, Personal Computer, Handy, aber auch durch Küchengeräte usw.
– ‘objets nomades’, wie Jacques Attali sie nennt, die aus dem Menschen weniger
einen Nomaden machen als einen Behinderten.
– Das ist es, was heute in der Genetik geschieht. Einzelne Gene werden
ausgewechselt und in eine neue Reihe eingeordnet. Auf diese Weise entstehen
neue Organismen. Von dieser Entwicklung ist gegenwärtig das Erbgut betroffen,
das kartografiert und in Datenbanken gespeichert wird, wie es das Genom-Projekt
vorsieht. Die nächsten Schritte werden das Klonen und die Patentierung von
Körpern, Körperteilen und Genen sein. Das Oberste Gericht der Vereinigten
Staaten  hat entschieden, daß Leben patentierbar sei.
– Früher stand das Leiden im Zeichen der Götter und stellte eine Form von
Besessenheit dar, deren sich der Heiler und Magier annimmt. Heute wird das
Leiden  durch Auswechseln von defekten Teilen behoben. Die Krankheit fällt in den
Zuständigkeitsbereich des Ingenieurs.
– Wir werden zu spät erfahren, was wir nicht gewollt haben.
– High-Tech-Porno. Das Post-Gender-Zeitalter ist angebrochen. Das Geschlecht ist
keines mehr.
– Ein neues Feld für Technoschamanen ist die Verbindung von Computer, Chaos,
Mathematik, Drogen und Kreativität.
– Die Unterhaltungsindustrie ist das geniale Experimentierfeld der virtuellen Realität.
– Seitdem der Weg einmal eingeschlagen ist, stellt sich heraus,  daß alles nur eine
Frage der Zeit ist.