11.04.1983

Gezähmtes Leben

“Das Theater ist die tätige Reflexion des Menschen über sich selbst” (Novalis)

Warum bin ich Schauspielerin geworden?

Eigentlich wollte ich Clown werden. Die Vorstellung, die Reaktion eines befreienden Lachens hervorrufen zu können, war etwas Großartiges für mich. Befreiend. Freiheit war Ziel. Freiheit, aber nicht gedankliche Freiheit, sondern Freiheit der Emotion, denn Lachen ist doch ein starker Gefühlsausdruck – ungehemmt – hemmungslos. Hemmung als Einschränkung der persönlichen Freiheit.
Also dann war das Ziel: die Befreiung von Gefühlshemmungen.

Was hat Schauspielerei für mich mit Freiheit zu tun?

Der Clown ist vielleicht die freieste Figur, weil sie auf Sinnzusammenhänge pfeift, während in einem Theaterstück durch jede Figur etwas ausgesagt werden soll.
In meiner Ausbildung an der Ecole Jacques Leqoc in Paris, in der der ‚Clown’ nur ein Thema unter vielen anderen (neutrale Maske, Tragödie, Melodrama etc.) ist, wurde ich sehr hart mit meinen Hemmungen konfrontiert. Drei Monate lang hatte ich nur selten den Mut, zu  einer Improvisation aufzustehen. Stattdessen saß ich immer auf der Bank und beobachtete genau, was andere spielten und wie sie dann kritisiert wurden. Darüber bin ich sensibler geworden und habe daran sehr viel gelernt. Die Arbeit am Körper steht in der Ausbildung bei Leqoc im Mittelpunkt –
leider tritt die Arbeit an Text, Sprache und Stimme vollkommen in den Hintergrund. Ich war/ bin körperlich sehr gehemmt, ohne es s zu spüren, oder sagen wir einfacher: mein Kopf war sehr getrennt von meinem Körper. In meiner Vorstellung machte ich die tollsten Improvisationen, vollkommen frei und von höchster Intensität; stand ich vor den anderen, war alles ganz anders.

Gequält von panischen Ängsten, etwas falsch zu machen, was die anderen sofort bemerken würden, bewegte ich mich verlangsamt und zögernd. Immer in dem Bedürfnis zu kontrollieren, was nicht zu kontrollieren war, forcierte ich in meinen lmprovisationen alles auf die Idee eines von mir vorgestellten Ausdrucks hin, den Rat eines mir sehr lieb gewordenen Lehrers Philip Gaulier, immer wieder
ignorierend: Laissez venir les choses, ne forcez pas!

Die Kritiken meiner Improvisationen waren niederschmetternd: ‘Sie sind vollkommen blockiert in Ihrem Becken. Ihre Bewegungen sind paralysiert. Ihre
Schultern sind tot. Sie verstecken Ihren SolarplexusWarum wackeln Sie immer mit dem kleinen Zeh? Sie verweigern damit das Spiel!! Sie sind nicht offen, wenn Sie Ihren Solarplexus immer wieder nach innen fallen lassen’ etc. etc. Es war wirklich zum Verzweifeln und wurde gleichzeitig eine immer größere Herausforderung.

Worin bestand für mich die Herausforderung?

Ich merkte sehr bald, daß das, was ich mir als gewünschte Zuschauerreaktion vorstellte – eine befreiende emotionale Reaktion – mir selbst unmöglich war. Hinter dem Wunsch, Clown zu werden, stand einfach nur der Wunsch, mich selbst von der verbissenen Herrschaft des Denkens zu befreien. Ich konnte mich einfach nicht länger vor mir selbst verstecken, nachdem mir nun endgültig meine Hemmungen, Beklemmungen und Schüchternheiten auffielen. Meine Souveränität wurde doch nur durch die eingebildete Großartigkeit meiner Ideen mühsam, sehr mühsam zusammengehalten. Ging es an die Umsetzung dieser Ideen, geriet ich in panische Selbstzweifel.

Sind Selbstzweifel nicht alltägliche Krisen innerhalb der künstlerischen Arbeit?

Meine Erfahrungen bestätigten das, aber ich bin an diesem Punkt sehr mißtrauisch, es ist nicht so einfach: ‘je größer die Krise, desto größer die Künstlerin.’ Das ist eben auch eine gängige Form des Selbstbetrugs. Je unüberwindbarer die Entfernung zwischen Denken und Fühlen, desto endloser die Selbstzweifel – das käme der Sache schon näher.

Ist Schauspielerei ein Prozeß der Selbstfindung?

Für mich ist es so, aber das gilt sicher nicht für alle Schauspielerinnen. Vielleicht habe ich auch deshalb große Schwierigkeiten, diese Berufsbezeichnung zu akzeptieren. Ich gewöhne mich ganz langsam daran, die Standardfrage
‚Was machst Du?’ mit ‚Ich bin Schauspielerin’ zu beantworten. Ein selbstverständlicher Ton gelingt mir selten.

Warum?

Mir fehlt im Moment die Entschiedenheit für diesen Beruf aus einer generellen Unsicherheit meiner Existenz gegenüber. Denken oder nicht Denken. Diese Verwirrung fing schon in der Ausbildung an. Nach einem Jahr in Paris sagte Leqoc zu mir: „Sie sind keine Komödiantin, keine Schauspielerin. In Ihren Improvisationen sieht man immer nur Sie selbst.”
Wochen später sprach ich mit Hans Peter Cloos, einem Regisseur, darüber, der sagte mir sehr überzeugt: „Das ist doch ganz toll. Die beste Voraussetzung für einen Schauspieler. Er darf sich niemals selbst verleugnen. Im Gegenteil, er muß dort anfangen.”

Diese unterschiedlichen Auffassungen zogen sich durch meine ganze Ausbildung. In Paris, bei Leqoc und meinem späteren Lehrer Philip Gaulier, hieß es immer wieder: „Das war privat, Seien Sie nicht privat auf der Bühne.” Oder: „Spielen Sie nicht psychologisch. So können Sie Gorki spielen.” Diese Vorstellungen über Schauspielerei orientierten sich an der Tradition des Volkstheaters.

In Berlin besuchte ich dann einige Schauspiel-“Seminare” von Walter Lott, der sich auf Strindberg, dieser wiederum auf Stanislawski beruft. Dort hieß es dann: „Das Erste ist die Privatheit auf der Bühne, die Sie herstellen müssen.” Übungen wie ‚private moment’ etc. sollten dahinführen. Die Arbeit in diesem Seminar glich nicht selten einer psychotherapeutischen Arbeit – allerdings ohne Therapeut und doch mit dem, wenn auch nicht sehr spürbaren Ziel, eine Rolle gut zu spielen. Das bedeutete aber, sie psychisch zu erfassen.
Zur endgültigen Verwirrung trug dann die Arbeit mit der Regisseurin Roswitha Kemper an einer Collage bei. Sie betonte vor allem das Textverständnis und die Technik des Sprechens: „Nicht Drücken oder Pressen der Stimme, die Betonungen und die Pausen richtig setzen.” „Gefühle haben auf der Bühne nichts zu suchen”, sagte sie immer. Bei Walter Lott gab es eine solche bewußte Arbeit an der
Technik überhaupt nicht. Dort blieb alles inneren Impulsen und dem Training der sinnlichen Wahrnehmung überlassen.

Was habe ich gegen die zunehmende Verwirrung unternommen?

Ich habe mit einigen Leuten immer wieder darüber gesprochen. Das führte aber nie zu einer Klärung meiner Fragen, da auch in diesen Gesprächen die unterschiedlichsten Vorstellungen über Schauspielerei geäußert wurden. Letzten Endes suchte ich in diesen Gesprächen eine Klarheit, die ich aber nur in mir selbst
finden konnte. Ich begann mir Fragen zu stellen und sie so genau wie möglich zu beantworten. Das geriet immer wieder ins Stocken oder wurde mir zu unbequem. Da las ich in Büchern:
‚Das höchste Ziel des Theaters ist die Wahrheit, nicht die äußerliche realistische Wahrheit des Alltags, sondern die endgültige Wahrheit der Seele.’ (Max Reinhardt)

‚Diese innere Stärke des Geistes,  wodurch ganz allein der Zuschauer getäuscht wird, diese erlogene Wahrheit, die ganz allein Wirkung hervorbringt, wodurch ganz allein die Illusion erzielt wird: wer hat davon einen Begriff?’ (Goethe)

Die einen hielten das „Vergessenmüssen des eigenen Selbst” für notwendig, die anderen sahen darin ein gutes Beispiel für schlechte Schauspielerei „aus der falschen Vorstellung heraus, man müsse sich selbst verleugnen” (Tabori).
Das bestätigte meine Verwirrung, machte sie aber auch erträglicher.

Könnten diese Fragen immer wieder auf einer anderen Ebene in diesem Beruf auftauchen als eine Art fruchtbarer Auseinandersetzung, die nichts zur Routine werden läßt?

Das ist sehr gut möglich, trotzdem denke ich im Moment, daß ich diese Fragen für mich beantworten muß, bevor ich überhaupt wieder einen Schritt in die Richtung der Schauspielerei wage.

Ist das nicht zu radikal?

Nein, denn ich möchte mich nicht in diese Fluchtbewegung aus Perspektivlosigkeit einreihen, die für mich zum großen Teil aus Menschen besteht, die sich auf nichts wirklich einlassen können. Heute sind sie Schauspieler, morgen Musiker, übermorgen Psychotherapeuten. Dieser Berufstourismus beeinträchtigt die Qualität und Tiefe einer Arbeit. Dabei ist mir natürlich vollkommen klar, daß gerade diese genannten Berufe aus einem sehr wichtigen Bedürfnis heraus gewählt werden. Viele wollen die „Starrheit der Gefühle” überwinden, in die sie durch eine
Erziehung, in der Leidenschaften und Gefühlsausbrüche als gefährliche Ausschreitungen angesehen werden, eingepaßt worden sind in ein Fertigteil. Das erklärt für mich den ‘run’ auf solche Berufe. Dort wollen viele ihre unterdrückten
Gefühlswelten endlich ausdrücken, mit den ganzen neurotischen Verzerrungen, die sie inzwischen erfahren haben. Angestrebt wird die gesellschaftliche Anerkennung.
Mit dieser Anerkennung lassen sich darin die emotionalen Defizite verdrängen. Zynisch: je neurotischer, desto interessanter.

Besteht denn nicht ein Zusammenhang zwischen Kunst und Neurose?

Diese Frage ist wohl ein bißchen zu allgemein und großkotzig formuliert. Kunst hat eher etwas mit Demut oder demütiger werden zu tun.
Es gibt viele Systeme des Selbstbetrugs und viele, die an solchen Systemen festhalten und darin mit einer gewissen egoistischen Skrupellosigkeit auch künstlerisch produktiv sein können. Es gibt aber auch die Möglichkeit, solche
Systeme des Selbstbetrugs zu erkennen. Auf dem Weg zur ,Wahrheit der Seele’ darf man vor unangenehmen Selbsterkenntnissen nicht zurückschrecken.

Welche Erkenntnisse über mich selbst sind mir unangenehm?

Mein maßloser Ehrgeiz, dem die tiefsten Minderwenigkeitsgefühle gegenüber stehen. Da ist es schwer, eine Balance herzustellen. Die Ungeduld mit mir
selbst, die zu blockierter Bequemlichkeit führt: Mangelndes Vertrauen und Selbstvertrauen. Eine Schauspielerin muß viel arbeiten, aber auch Lust an der Arbeit haben.

Welche Schwierigkeiten stellen sich da in den Weg?

Meine Lust an der Arbeit wird durch meinen Ehrgeiz oder meine Ruhmsucht verwandelt in verbissene und verzweifelte Verkrampfung, die in Unzufriedenheit gipfelt. Bist du Anfängerin, bist du nix!
Ist die Schauspielerei dann noch ein Prozeß der Selbstfindung, bist du sehr oft an ganz verletzlichen Punkten, die sehr viel Zeit und Geduld in Anspruch nehmen. Gleichzeitig bist du aber gezwungen, wenn du deinen Lebensunterhalt verdienen mußt, immer und überall wie ein Staubsaugervertreter, einen Fuß in die Tür zu stellen. Dazu gehört wiederum Selbstsicherheit, die du vielleicht gerade im Moment
nicht hast. Bist du unsicher, sind viele Produzenten und Regisseure/innen damit in ihrer eigenen Unsicherheit angesprochen, die sie aber bei sich gar nicht zulassen. Um das ganze Verfahren abzukürzen, nehmen sie die Schauspieler/innen, die schon einen Namen haben. Das ist teurer, aber das Risiko kleiner. Der ‚Anfängerin’ wird die Möglichkeit einer Erfahrung genommen und damit auch die Möglichkeit des Selbstbewußt-Werdens/-Seins. Es ist ein Kreis, der sich nur zu oft schließt.

Sehe ich eine Möglichkeit, diese geschlossenen Kreise zu öffnen?

Ich sprach vorher von meinem Ehrgeiz, meiner Ruhmsucht, meiner Ungeduld. Inzwischen sehe ich aber deutlich, daß natürlich auch die Regisseure/innen die ‘bekannteren’ Schauspieler/innen bevorzugen, weil sie voller Ehrgeiz und auf den Erfolg fixiert sind: ‚Schneller und besser sein als die Anderen!’ So kann eine
wirkliche Suche nach der ‚Wahrheit der Seele’ gar nicht stattfinden. In den Staats-Theatern tragen ein wuchernder Verwaltungsapparat und ein sicheres
Monatsgehalt zur Unterwerfung des Schauspielers unter die Leblosigkeit institutioneller Zwänge bei. Die künstlerische Arbeit wird dort nicht als ein
lebendiger Prozeß, sondern als ein Objekt institutioneller Planung gesehen.
Der Schauspielerin werden eigene Entscheidungen abgenommen und ihre Zeit verplant: jeden Vormittag von 10 bis 14 Uhr Probe, nachmittags im
Kinderstück und abends die Hauptrolle spielen. Für eine eigenständige Auseinandersetzung mit einer Rolle bleibt ihr keine Zeit. Stellt eine Schauspielerin
zu viele Fragen zu einer Rolle, erhält sie die lakonische Antwort: ‚Du hast Deine Rolle eben noch nicht!’ Dabei wird selbstverständlich vorausgesetzt, daß diejenigen, die keine Fragen stellen, ihre Rollen gefunden haben, obwohl eben gerade sie nicht einmal angefangen haben zu suchen. Sie sind damit zufrieden, ihre Atem- und Sprechtechnik aus der Tasche zu ziehen und damit die Vorstellungen des Regisseurs zu bedienen. „Überbeschäftigte Arbeitslose, die sie sind, suchen sie Arbeit.” (Peter Hacks)
Stehen sie auf der Bühne, hat man den Eindruck, daß ihr leidenschaftliches Gebrüll eher der leidenschaftslose Versuch ist, pedantisch zwischen Selbst und Rolle zu trennen.

Ist diese Trennung nicht notwendig? 

Viele sagen, man solle die Rolle nicht zu sehr in die Eingeweide gehen lassen. Daran würde man sich sinnlos erschöpfen, und dieser Beruf wäre auf diese Weise eine zu große Anstrengung. Sie fürchten die Konfrontation mit sich selbst. Es ist
aber wesentlich anstrengender, diese Trennung aufrecht zu erhalten. „Der wahre Darsteller wird sich selbst treu bleiben, nicht aus einem moralischen,
sondern aus einem existenziellen Imperativ …” (Tabori)
Die Trennung zwischen Selbst und Rolle existiert aber auch noch in einer umgekehrten Weise. Viele hervorragende Schauspieler/innen sind, sobald sie
von der Bühne abtreten, verschlossen, scheu und auf eine merkwürdige Weise sehr darauf bedacht, ihre Gefühle zu kontrollieren. Auf der Bühne leben sie eine leidenschaftliche Intensität, im Leben haben sie eher Angst vor dieser Intensität.

„Zweifellos hat das, was man Schauspielertalent nennt, uns diese schönen Bilder für unsere Vorstellung ermöglicht, aber trotzdem haben diejenigen, die ihre mehr oder weniger genauen Modelle waren, umsonst gelitten; sie haben geblutet, sie haben geweint (was seltener geschah), und doch bleibt der Ruhm der Welt ihnen versagt. Man duldet also den Heroismus, solange er gezähmt auftritt (ich will nur anmerken, daß Eure freundlichen Poeten, Eure Künstler ihn stets zähmen und ihn nur von ferne berühren).” (Jean Genet)

Eva Gagel

taz – die tageszeitung, Mo, 11.4.83, S. 10
gespieltes Leben. Mit freundlicher
Genehmigung der Autorin